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Corona-Lockdown in Gütersloh nach Tönnies-Skandal: "Für uns ganz bitter"


Gütersloh im Corona-Lockdown
"Das ist für uns ganz bitter"

Von Sophie Loelke

Aktualisiert am 26.06.2020Lesedauer: 5 Min.
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Bundeswehr-Angehörige in Schutzanzügen warten auf Testkandidaten: In einem stillgelegten Hangar in Gütersloh wurde ein Corona-Testzentrum eingerichtet.Vergrößern des Bildes
Bundeswehr-Angehörige in Schutzanzügen warten auf Testkandidaten: In einem stillgelegten Hangar in Gütersloh wurde ein Corona-Testzentrum eingerichtet. (Quelle: Guido Kirchner/dpa-bilder)

Nach dem Corona-Ausbruch bei Tönnies befinden sich die Kreise Gütersloh und Warendorf vorerst bis 30. Juni im Lockdown. Die Auswirkungen für die Menschen vor Ort sind enorm. Ein Stimmungsbild.

Um die 400 Menschen stehen entlang des Gebäudes die Straße hinunter. Die Schlange führt immer weiter, knapp drei Minuten schnellen Schrittes braucht es, um bis an ihr Ende zu gelangen. Dort reihen sich mehr und mehr Familien, Paare und einzelne Menschen ein, eingewiesen vom Sicherheitspersonal. Die meisten tragen Masken, alle halten zwei bis drei Meter Abstand.

Das Corona-Testzentrum im Carl-Miele-Kolleg in Gütersloh erfüllt seinen Zweck: das Angebot, sich kostenlos testen zu lassen, wird von den Bürgern der Stadt angenommen. Einige standen schon um 4.30 Uhr morgens an, andere kamen pünktlich um acht Uhr zur offiziellen Öffnung – so auch Seyhan, seine Frau und die beiden Kinder.

"Schwachsinn": Ein Test wird zur Eintrittskarte

Die Familie will an die Ostsee. Ein negatives Ergebnis wird zur Eintrittskarte und bedeutet für sie, wie für viele andere: Der langersehnte Urlaub kann stattfinden. Denn ohne den Nachweis, Corona-frei zu sein, erlauben einige Ferienregionen in Deutschland die Einreise nicht mehr. "Das ist totaler Schwachsinn, weil ich mich auch jetzt, während ich auf den Test warte, anstecken könnte", findet Seyhan.

Trotzdem zeigen der 38-Jährige und seine Frau Verständnis für den erneuten Lockdown. Und so geht es vielen Güterslohern. Die Stimmung am Testzentrum ist entspannt – trotz Wartezeiten zwischen zwei und drei Stunden.

Die wiedereingeführten Einschränkungen wegen des Corona-Ausbruchs in der Fleischfabrik Tönnies finden Akzeptanz. Das heißt aber nicht, dass die Menschen nicht wütend auf den Verursacher sind. "Es ist echt mies gelaufen und die Zustände bei Tönnies waren ein offenes Geheimnis. Es hätte eher etwas passieren müssen", sagt Lucas. Er wartet schon eine Stunde in der Hitze, braucht den Nachweis für seinen Arbeitgeber.

Laut Güterslohs Bürgermeister Henning Schulz sei es gar nicht so einfach gewesen, die Zustände aufzudecken. "Diese Intransparenz, die durch das Unternehmen im Hintergrund aufgebaut wurde, war für uns nicht durchdringbar", sagt er zu t-online.de. Schulz plädiert dafür, das System rund um Werksverträge und Sub-Unternehmer aufzulösen. "Mit uns wird es kein 'Weiter so' geben", lauten seine deutlichen Worte.

"Ich möchte das kranke System nicht fördern"

Das unterstützt auch Heilpraktikerin Birgit. Sie arbeitet nebenbei in einem vegetarischen Café in der Gütersloher Innenstadt. Sie selbst hat dem Fleisch schon vor einiger Zeit den Rücken gekehrt: "Ich ernähre mich fast komplett vegan und muss trotzdem diese Krise mittragen. Auch das Café leidet unter dem, was die verbockt haben. Ich bin sauer: auf Tönnies und die Politik. Dass er [Firmenchef Clemens Tönnies, Anm. d. Red.], sich auf Kosten von Tier und Mensch so bereichert, ist lange bekannt. Ein Grund, weshalb ich vor Jahren meine Ernährung umgestellt habe. Ich möchte das kranke System nicht fördern."

Die finanziellen Einbußen für das kleine Café seien erheblich: "Das ist für uns ganz bitter. Und wir wissen nicht, ob es nur bei einer Woche bleibt. Selbst dann dauert es, bis die Leute erneut Vertrauen fassen. Es kam gerade wieder zur Normalität und das ist jetzt einfach weg. Wir fangen wieder neu an."

"Alle Reifen wurden zerstochen"

Neben ihrer Wut fühlt sich Birgit auch ungerecht behandelt. Die Stigmatisierung, die den Menschen aus Stadt und Kreis Gütersloh deutschlandweit entgegen schlägt, betrifft nicht nur Einreiseverbote oder Kommentare in den sozialen Netzwerken: "Wir werden regelrecht gedisst. Eine Frau hat zum Beispiel ihr Auto mit Gütersloher Kennzeichen in Potsdam abgestellt. Alle Reifen wurden zerstochen. Ich kann jetzt im Ansatz nachvollziehen, wie sich Menschen fühlen, die aus rassistischen Gründen ausgegrenzt oder angegriffen werden", beschreibt sie die neue Lage. "Der Lockdown fühlt sich anders an als damals, wo wir alle im gleichen Boot saßen."

Nicht nur Gütersloh und Umgebung als Ganzes, sondern auch die Hotellerie im Speziellen habe mit der Stigmatisierung hart zu kämpfen, erzählt Andreas Kerkhoff, Besitzer des Hotels Appelbaum und Kreisvorsitzender des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbands Dehoga Ostwestfalen. "Alles wurde storniert und nicht nur für diese eine Woche. Die Menschen wollen Sicherheit für ihre Buchung. Die können wir ihnen nicht versprechen, weil wir selbst keine Garantie bekommen, wann es normal weitergeht."

Tönnies-Mitarbeiter sollen vielleicht in Hotels einziehen

Gestern habe die Bezirksregierung angefragt. Ob er helfen könne, Hotelbesitzer dazu zu bewegen, Mitarbeiter der Tönnies-Fleischfabrik aufzunehmen, berichtet Kerkhoff. Doch das sei gar nicht mal so einfach: "Es stellt sich die Frage nach Kosten und Nutzen, auch in die Zukunft gedacht. Zwar können wir die Zimmer normal berechnen, aber wenn Touristen abgeschreckt werden, weil hier angebliche Infizierte leben, buchen sie vielleicht auch in nächster Zukunft nicht mehr."

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Die Schilderungen zeigen, wie schnell ein Stigma entsteht. Dabei sieht die Realität anders aus. Denn aktuell sind nur 45 Menschen ohne Bezug zu Tönnies infiziert (Stand: 26. Juni). Trotz Massentests bleiben die Zahlen niedrig. Von mehr als 1.700 Tests im Testzentrum am Carl-Miele-Kolleg fielen bisher nur drei positiv aus. Inzwischen wurden noch einige weitere Zentren eingerichtet, um schneller und mehr testen zu können.

Die Idee, Tönnies-Mitarbeiter mit Werkvertrag auszulagern, um die Wohnverhältnisse zu entschärfen, sei im Prinzip richtig, meint Kerkhoff. Auch er habe von beengten Zuständen gehört: "Es gibt ein ehemaliges Hotel in der Nähe für rund 50 Gäste. Dort leben inzwischen sicher um die 80 bis 90 Arbeiter der Subunternehmen, definitiv zu viele für den Platz." Kerkhoff schlägt vor, die leerstehenden Kasernen zu nutzen, um beengte Hotspots aufzulösen.

Warum müssen die Menschen eingezäunt werden?

Die beengten Unterkünfte der unter Quarantäne stehenden Arbeiter in Verl, circa acht Kilometer von Gütersloh entfernt, sind inzwischen von Bauzäunen umgeben. Ein Streifenwagen wartet, mehrere Wachmänner sitzen im Schatten. Hinter den Zäunen unterhalten sich einige der Bewohner. Eine Gruppe spielt auf einem Feld auf dem eingezäunten Gelände Fußball, Kinder beschäftigen sich mit buntem Spielzeug.

Die Szene erscheint alltäglich, doch durch den Zaun betrachtet wirkt sie befremdlich – warum müssen die Menschen eingezäunt sein? Heribert Schönauer, Erster Beigeordneter der Stadt Verl, erklärt das so: "Der Zaun ist nicht da, um die Menschen wegzusperren, sondern um anderen zu zeigen, dass sie nicht reingehen sollen." Die Bewohner selbst hätten aufgrund zahlreicher Kamerateams um mehr Privatsphäre gebeten, Teile der Zäune wurden daher mit Planen abgehängt.

An der Straße nebenan stehen Container für Sozialarbeiter, Mitarbeiter des Jugendamts und des Ordnungsamtes. Zelte für die ärztliche Versorgung sowie die vielen Spenden wurden daneben errichtet. Der Corona-Ausbruch habe bei den Bürgern aus der Umgebung das soziale Engagement geweckt, erzählt Schönauer. Spielzeug, Bälle und Trampoline stapeln sich unter dem weißen Zeltdach. "Das ist noch nicht einmal die Hälfte von dem, was wir bekommen haben. Das meiste ist schon verteilt an die Kinder. Besonders die Puppen waren beliebt." Schönauer betont: "Die Bevölkerung hat erkannt, wer die Verantwortung trägt" – und das seien eben nicht die infizierten Mitarbeiter von Tönnies.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche in Gütersloh
  • Gespräche mit Bürgern der Stadt
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