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Obdachlosigkeit im Winter: Wie Corona das Leben auf der Straße schwerer macht


Wie Corona den Winter auf der Straße noch härter macht

Von Sophie Loelke

Aktualisiert am 07.12.2020Lesedauer: 6 Min.
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Marco lebt seit April wiederholt auf der Straße. Der Winter ist für ihn hart – er sucht Hilfe bei der Berliner Stadtmission.Vergrößern des Bildes
Marco lebt seit April wiederholt auf der Straße. Der Winter ist für ihn hart – er sucht Hilfe bei der Berliner Stadtmission. (Quelle: Sophie Loelke)

Marco will unbedingt weg von der Straße, er kämpft gegen den eigenen Niedergang – und seine Sucht. Heute hat er eine letzte Chance, der Vergangenheit zu entkommen.

Marco hat mal wieder in der Notunterkunft am Berliner Hauptbahnhof geschlafen. Er will sich noch schnell bei einer Tasse Tee im Nebengebäude aufwärmen. Bis 7.30 Uhr muss er, wie alle anderen, das Gebäude verlassen. Doch heute geht es nicht raus in die Kälte. Nicht raus in die Ungewissheit. Nicht raus in die große Stadt.

Denn in den vergangenen Nächten hat Marco in einem richtigen Bett geschlafen. Und das hat seinen Kampfgeist geweckt: "Ich muss weg von der Straße. Sonst gehe ich ein." Deshalb hat er heute einen Beratungstermin mit einer Sozialarbeiterin der Stadtmission Berlin.

Marco ist einer von offiziell 2.000 Obdachlosen in Berlin. Die Stadtmission geht sogar davon aus, dass rund 40.000 Menschen keine Wohnung haben. Das Leben auf der Straße ist nie schön, aber im Winter ist es besonders hart. Und im Corona-Winter ist es brutal: Durch den Lockdown, die Sperrstunde und die kalten Temperaturen sind deutlich weniger Menschen unterwegs, die etwas spenden oder draußen trinken und ihre Flaschen abstellen, erzählt Marco.

Die Wintertage sorgen dafür, dass er ständig friert: "Ich laufe, laufe, laufe den ganzen Tag, bis mir etwas wärmer wird. Von gestern habe ich Hüftschmerzen, dann versuche ich eine Buslinie zu finden, die etwas länger fährt. Da kann ich wenigstens kurz im Warmen schlafen." Marco sieht jünger aus als 43. Vielleicht liegt es an den voll tätowierten Armen, der Baggiehose und dem Hertha-Schal. Offen erzählt er von seinem ständigen und ermüdenden Kampf mit dem Leben: Gegen die Alkoholsucht, gegen die Obdachlosigkeit, gegen die Hoffnungslosigkeit, die ihn oft zu überkommen droht. Denn kleine und große Krisen rissen ihn immer wieder zu Boden und trotz zweier Langzeittherapien und Entgiftungen auch zurück in die Sucht.

"Mein Erzeuger schlug ihr sämtliche Zähne aus dem Oberkiefer"

Warum gelingt es Menschen wie Marco nicht, ihr Leben zu organisieren? Warum stürzen sie so ab wie er? Wer mit Experten spricht, bekommt fast immer die gleiche Antwort: Klar gibt es Menschen, die sich bewusst für ein Leben auf der Straße und gegen das System entscheiden. Viele Obdachlose sind in der Vergangenheit aber auch falsch abgebogen, haben falsche Entscheidungen getroffen. Dazu gehört, den Job Hals über Kopf zu kündigen oder den Partner zu verlassen, ohne eine neue Bleibe organisiert zu haben. Sie hatten kein Glück. Aber oft kam eben noch Pech dazu: Schicksalsschläge, Depressionen, psychische Krankheiten, Süchte, Kindheitstraumata – das alles können Gründe sein, warum jemandem von jetzt auf gleich sein geregeltes Leben entgleitet – und er es allein nicht mehr schafft.

Marco glaubt, dass seine Probleme in der Kindheit begründet liegen. Bevor er eingeschult wurde, verließ seine Mutter mit ihm vom einen auf den anderen Tag ihre Heimat Kiel und sie zogen nach Berlin. Er hatte durch den schnellen Abbruch des alten Lebens keine Zeit, sich von Freunden und Familie zu verabschieden. "Ich kann es meiner Mutter nicht verübeln. Mein Erzeuger hatte ihr sämtliche Zähne aus dem Oberkiefer geschlagen."

Seither durchziehen Abbrüche Marcos Leben. In Berlin fing er als junger Erwachsener mehrere Ausbildungen an: Erzieher, Tischler, Airbrusher – keine brachte er zu Ende. Irgendwann gesellte sich nach und nach seine Alkoholsucht dazu. Vorgelebt von seiner Mutter und dem Stiefvater, die schon am frühen Tag in der Kneipe neben dem Bolzplatz tranken. Jahre später musste er die Mutter durch eine Chemotherapie begleiten, doch sie starb an den Folgen der Krebserkrankung.

"Die schönsten vier Jahre meines Lebens"

"Es ging mir danach sehr schlecht", sagt er. Aber dann lernte er seine Exfrau kennen, zog nach Tirol, heiratete. "Das waren die schönsten vier Jahre meines Lebens." Marco hatte Jobs als Hausmeister, Kommissionierer, arbeitete in einer Spedition, kaufte sein erstes Auto. "Ich habe funktioniert. Alles hatte Sinn." Marco hat ein liebenswertes Gesicht, zwei Grübchen zeichnen sich ab, wenn er lächelnd über die schönen Momente seines Lebens erzählt.

Doch als die Beziehung bröckelte, kam die Alkoholsucht zurück. "Das Suchtgedächtnis sitzt wie ein Teufelchen auf meiner Schulter. Damals flüsterte es mir ein, dass ein Bier nach Feierabend nicht schlimm sei. Ich war jahrelang abstinent. Aber das war der Anfang vom Ende." Es folgte die Scheidung, er zog zurück nach Berlin, übernahm die Wohnung eines Bekannten. Aber die Einsamkeit tat Marco nicht gut. "Ich war viel allein und habe auch deshalb viel getrunken. Freunde habe ich keine mehr, weil ich alle immer extra vor den Kopf stoße, sobald das Verhältnis enger wird. Ich isoliere mich selbst."

Sie wollen helfen? Die Berliner Stadtmission – und auch jede Obdachlosenhilfe Ihrer Stadt – nimmt aktuell besonders gerne Schlafsäcke, warme Kleidung, Schuhe, Socken und Unterwäsche für den Winter an. Besonders dringend benötigt werden kleine bis normale Männergrößen. Wenn Sie Geld spenden wollen, können Sie das unter spenderservice@berliner-stadtmission.de tun. Mit dem Geld können unter anderem mehr "Nothilfepäckchen" gepackt werden. Jeden Tag stellen Helfer bis zu 1.000 Essenstütchen zusammen. Darin liegen geschmierte Brote, Obst, eine Süßigkeit und Wasser. Aber auch helfende Hände werden immer gebraucht. Hier können Sie sich informieren.

"Daran bin ich komplett zerbrochen"

Irgendwann zog er selbst die Reißleine und kämpfte sich nach dem ersten Rückfall noch durch eine weitere Langzeittherapie. Dabei lernte er wieder eine Frau kennen, fing an, ihr zu vertrauen. "Ich habe ihr gesagt: 'Mein Herzchen ist so eine kleine zarte Pflanze, bitte pass darauf auf.' Im Endeffekt hat es nicht gehalten. Daran bin ich dann komplett zerbrochen." Er zahlte keine Miete mehr, ging nicht mehr zum Arbeitsamt. "Ich habe auf alles geschissen. Macht ja eh keinen Sinn. Ich wusste, ich tanze am Rande des Vulkans, aber konnte nichts dagegen tun. Jetzt bin ich hier", sagt Marco und nippt den letzten Rest seines Tees.

Es ist 7.30 Uhr. Er muss raus, in die Kälte. Vor dem Gebäude will er sich bei der Kleiderkammer noch eine dickere Jacke geben lassen. "Und einen Rasierer. Ich sehe ja aus wie Kraut und Rüben."

Es war Marcos vierte Nacht in der Notunterkunft. Draußen an der Havel – in seinem selbst gebauten Unterstand – kann er auf keinen Fall mehr schlafen. Viel zu kalt. Er hat Glück, einen Schlafplatz bekommen zu haben, denn wegen Corona mussten die noch geöffneten Notunterkünfte der Stadtmission ihre Plätze um ein Drittel reduzieren. An manchen Abenden müssen die Mitarbeiter Obdachlose abweisen. "Das tut einem schon weh", sagt Elias Pries.

Einlassdrama: Betrunkene beschimpfen Mitarbeiter

Elias ist 20 Jahre alt und arbeitet neben seinem Theologiestudium in der Notunterkunft der Stadtmission. Heute hatte er Nachtschicht, für die es eine Aufwandsentschädigung von 7,50 Euro pro Stunde gibt. Doch das Geld ist nicht der Grund, warum er den Job macht: "Manche von ihnen stinken oder pöbeln, aber wenn man so jemanden dann mal in der Ambulanz behandelt und gewaschen hat, merkt man, wie erniedrigt die Leute oft sind. Sich bewusst darauf einzulassen, hinter die Fassade zu blicken und zu verstehen, wer der Mensch wirklich ist, gibt mir so viel. Jeder hier hat seine Geschichte und Last zu tragen. Da wird man ganz kleinlaut."

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Als Marco vor vier Tagen das erste Mal herkam, war er überwältigt von dieser Wärme der oftmals freiwilligen und jungen Helfer. "Ich habe nicht damit gerechnet, wie lieb alle zu uns sind. Da nehme ich auch das Drama beim Einlass in Kauf", sagt er. Letzte Nacht musste er von 17.30 Uhr bis 20.30 Uhr draußen anstehen. Denn alle, die einen Schlafplatz brauchen, werden vorher mit Corona-Schnelltests getestet – das dauert. Mehrere volltrunkene Männer, die Mitarbeiter bepöbeln und sich daneben benehmen, machen die Situation nicht gerade angenehmer, erzählt er. "Ich versuche, am Tag nur bei Bier zu bleiben, damit ich am Abend nicht genauso besoffen dort stehe und rumschreie. Das möchte ich auf keinen Fall!"

Wo bleiben Menschlichkeit und Toleranz in der Gesellschaft?

Drogen- und Alkoholsucht ist ein verbreitetes Problem unter Obdachlosen. Noch dazu haben 70 bis 80 Prozent von ihnen eine psychische Erkrankung, sagt Breuer. Marco hat schon bemerkt, dass er anfängt, mit sich selbst zu reden – weil er so viel alleine ist. "Wenn sich das verschlimmert, weiß ich nicht, ob das Richtung Psychose geht. Noch habe ich das Bewusstsein dafür, aber wer weiß, wie lange noch. Ich wäre gern wieder Teil der Gesellschaft, bevor das passiert."

Aktuell fühlt er sich ausgeschlossen von dem Teil der Gesellschaft, zu dem er selbst mal gehörte: Die Privilegierten, die Arbeitenden, die scheinbar Glücklichen. "Du landest schneller als du gucken kannst auf der Straße. Entweder das Leben oder du selbst stellst dir ein Bein und schon sitzt du da – ohne Besitz, Job oder Partner." Etwas weniger Scheinheiligkeit und etwas mehr Menschlichkeit und Bescheidenheit würde den meisten Menschen gut stehen, findet er.

"Ich wünsche mir, dass die Menschen auf mich zukommen, statt wegzuschauen. Sie könnten zum Beispiel sagen 'Hey, ich sehe dich hier schon das dritte Mal, wie geht's dir?' Einfach fragen, ein wenig plaudern." Doch die Berührungsängste sind oft zu groß.

Marco selbst spricht fremde Menschen nicht an. Schnorren, um nach Geld oder Zigaretten zu fragen, ist nicht sein Ding. Aber Pfand sammeln, das muss er. Er greife nicht in die Mülltonnen, sondern nehme das, was daneben steht. "Am Anfang habe ich mich dafür geschämt. Ich dachte, dass mich jeder anstarrt, wenn ich nach einer Dose greife. Aber dieses Gefühl lässt mit der Zeit nach", meint er.

Von dem Stress des Straßenlebens hat er jetzt einmal mehr genug. Er wartet in dem kleinen weißen Zelt auf seine neue Winterjacke – und auf die Sozialarbeiterin. Sie wird ihm gleich erklären, welche Schritte er unternehmen muss, um in eine Übergangswohnung der Stadtmission zu kommen. Schritt für Schritt und mit viel Durchhaltevermögen im bürokratischen Hilfesystem der Stadt. "Mein Kampfgeist ist wechselhaft. Jetzt gerade ist er da, aber mal sehen, wie lange noch."

Verwendete Quellen
  • Besuch bei der Kältehilfe der Berliner Stadtmission
  • Gespräch mit Marco
  • Berliner Stadtmission Infos
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