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Aiwanger-Affäre: Experte über Hintergrund zur Schmähschrift


Aiwangers Flugblatt-Affäre
"Es gibt eine gewisse Verbindung"

InterviewVon Marc von Lüpke

Aktualisiert am 01.09.2023Lesedauer: 5 Min.
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Hubert Aiwanger und das antisemitische Flugblatt: Der Politiker will das Pamphlet nicht verfasst haben.Vergrößern des Bildes
Hubert Aiwanger und das antisemitische Flugblatt: Der Politiker will das Pamphlet nicht verfasst haben. (Quelle: Sven Simon/imago-images-bilder)

Hubert Aiwanger wird wegen eines hetzerischen Flugblatts Antisemitismus vorgeworfen. Der Historiker Moritz Fischer erklärt die Stimmung in Bayern in den Achtzigerjahren, in der die Schmähschrift entstand.

Vom "Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz" bis hin zum "Aufenthalt im Massengrab" ist im sogenannten Auschwitz-Pamphlet aus den Achtzigerjahren die Rede. Das Flugblatt hat eine Affäre um Hubert Aiwanger, Chef der Freien Wähler, stellvertretender Ministerpräsident und Wirtschaftsminister in Bayern, ausgelöst. Aiwanger streitet die Autorschaft ab. Sein Bruder Helmut behauptet, er habe es geschrieben. Aber in welcher Gedankenwelt konnte ein solches Papier damals überhaupt entstehen? Der Historiker Moritz Fischer gibt Antwort.

t-online: Herr Fischer, vor mehr als 35 Jahren ist Hubert Aiwanger mit einem mittlerweile als "Auschwitz-Pamphlet" bezeichneten Flugblatt erwischt worden. In dieser Zeit sorgte die rechtsradikale Parteigründung von "Die Republikaner" für Aufsehen. Besteht eine irgendwie geartete Verbindung?

Moritz Fischer: Ich habe nach Bekanntwerden der Affäre tatsächlich in meinen Dokumenten nachgeschaut. Taucht der Name Aiwanger irgendwie auf? Ich habe allerdings weder den Namen gefunden noch irgendetwas zu Aiwangers Heimatdorf. Aber auf andere Weise gibt es eine gewisse Verbindung zwischen dem Flugblatt und der Geschichte der Republikaner.

Video | Aiwanger entschuldigt sich
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Quelle: Reuters

Inwiefern?

Die Republikaner avancierten in den Achtzigerjahren zu einer bedeutenden politischen Kraft. Ein wichtiger Grund dafür findet sich in einer veränderten Wahrnehmung und Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit. 1979 wurde etwa die US-Serie "Holocaust" in der Bundesrepublik ausgestrahlt – und erregte eine breite gesellschaftliche Diskussion, 1985 kam es dann zum Beispiel zur Bitburg-Kontroverse.

Zusammen mit US-Präsident Ronald Reagan hatte Bundeskanzler Kohl Kränze auf der Kriegsgräberstätte Bitburg niedergelegt. Allerdings sind dort auch Angehörige der Waffen-SS bestattet, der der Republikaner-Chef Franz Schönhuber einst angehört hatte.

Ja, Schönhuber hatte bereits 1981 sein Buch "Ich war dabei" über seine Zeit bei der Waffen-SS herausgebracht. Wenn wir nun das besagte Flugblatt und seinen Inhalt näher betrachten, zeigt sich, dass sein großes Thema tatsächlich die sogenannte Vergangenheitsbewältigung darstellt. Das ist auch kein großes Wunder, denn eben diese war spätestens in den Achtzigerjahren auch an den Schulen viel stärker verankert worden.

Und führte zu entsprechenden Gegenreaktionen bei den Ewiggestrigen?

So ist es. Das Flugblatt ist auch eine Art Reaktion auf den damaligen Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten, der sich mit der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigte. Oder lassen Sie es mich anders ausdrücken: Das Flugblatt stellt einen Frontalangriff auf die sich damals etablierende Erinnerungskultur an den Nationalsozialismus dar. Insbesondere in Bezug auf die Verbrechen des Nationalsozialismus und damit selbstverständlich auch an den Holocaust.

(Quelle: privat)

Moritz Fischer, Jahrgang 1995, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Geschichte der Neuzeit mit ihren Wissens- und Technikkulturen der RWTH Aachen. Der Historiker hat kürzlich seine Promotion zum Thema "'Die Republikaner' 1983-1994 – eine Partei zwischen Konservatismus, Neuer Rechter und völkischem Nationalismus" abgeschlossen.

Wie würden Sie das Flugblatt insgesamt charakterisieren?

Der Historiker Wolfgang Benz hat es kürzlich als neonazistisch bezeichnet. Das trifft es ziemlich gut, denn es verwendet tatsächlich die Sprache des Neonazismus. Man muss aber quellenkritisch anmerken, dass für eine genauere Charakterisierung zu wenig über den Autor bekannt ist. In seinem Aussagegehalt verhöhnt das Flugblatt definitiv alle Opfer des Nationalsozialismus, wie wiederum Benz feststellte. Unter diesen sind wiederum die europäischen Juden die zahlenmäßig größte Gruppe. Insofern lässt sich das Flugblatt durchaus als antisemitisch bezeichnen.

Was sagt dies nun über den Verfasser des Flugblatts aus, wer es auch gewesen sein mag?

Es war jemand, der sich mithilfe dieses Flugblatts in der Debatte positionieren wollte. In der Gegenwart sind diese Auseinandersetzungen um die Deutungshoheit in der Vergangenheitsaufarbeitung nicht mehr sonderlich präsent. Damals war das anders. 1981 gründete sich bereits die Zeitgeschichtliche Forschungsstelle Ingolstadt, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, gesicherte Fakten über die Verbrechen des Nationalsozialismus zumindest in Teilen zu "widerlegen" oder wenigstens zu relativieren.

Vor allem die Opferzahlen sollten heruntergespielt werden.

Das zum einen, andererseits sollte aber auch das Münchner Abkommen von 1938 zur Abtretung des Sudetenlandes an das Deutsche Reich für rechtmäßig erklärt werden. All diese Auseinandersetzungen führten dann hin zu den ganz großen öffentlichen Debatten um die nationalsozialistische Vergangenheit wie den Historikerstreit 1986 und die erste, kontrovers diskutierte "Wehrmachtsausstellung" von 1995.

Die den Mythos von der "sauberen" Wehrmacht zerstörte?

Genau. Bei der Betrachtung dieser Zeit müssen wir berücksichtigen, dass heutiges Allgemeinwissen über NS-Verbrechen in erheblichen Teilen der Bevölkerung damals nicht vorhanden war. Wissen Sie, wann erstmals offiziell ein bayerischer Ministerpräsident die KZ-Gedenkstätte Dachau besucht hat? Das war Edmund Stoiber im Jahre 1995. Leerstellen im historischen öffentlichen Bewusstsein haben es Franz Schönhuber 1981 auch ermöglicht, oftmals unwidersprochen Lügen und Halbwahrheiten im Buch über seine Zeit bei der Waffen-SS zu verbreiten.

Vor allem war nicht ausreichend bekannt, welch große Teile der Bevölkerung an den Verbrechen des Nationalsozialismus wie dem Holocaust beteiligt gewesen sind.

Es war wahrlich nicht nur die Elite, die dabei mitgemacht hat. Die massenhaften Erschießungen von Juden im Osten waren etwa lange Zeit kaum erforscht. Im besagten Flugblatt ist ja hingegen von Auschwitz die Rede.

Kommen wir noch einmal darauf zu sprechen. Zu einer verlässlichen Quellenkritik gehören der Autor und dessen Biografie. Gibt der Inhalt irgendwie geartete Indizien her?

Ich fürchte nein. In der ganzen Affäre geht es meiner Beobachtung nach mittlerweile auch weniger um die Klärung der Urheberschaft, sondern darum, ob Aiwanger in irgendeiner Form in einem irgendwie gearteten "braunen Sumpf" unterwegs gewesen sei. Es ist erstaunlich, wie viele unterschiedliche Stimmen sich dazu mittlerweile zu Wort gemeldet haben. Es ist schwer zu entscheiden, wem man Glauben schenken kann.

Die Republikaner sind heute nahezu bedeutungslos. Ist etwas von ihnen geblieben?

Die Freien Wähler konnten einen gewissen Teil der früheren Klientel der Republikaner auffangen. Damit meine ich nicht den völkisch-nationalistischen Teil, sondern die mittelständisch geprägte Wählerschaft. Die wiederum vor allem anti-elitär eingestellt war. Aiwanger ist auch ganz anders, als es Schönhuber gewesen ist, die Freien Wähler haben zudem nicht die Themen der Republikaner übernommen. Vor allem vertritt Aiwanger auch keinen nationalistischen Populismus, sondern eher einen regionalen.

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Hätten die Republikaner unter Schönhuber wiederum in aller Öffentlichkeit eine derart menschenverachtende Sprache verwendet, wie sie im Flugblatt steht? Die Partei präsentierte sich eher als Wolf im Schafspelz.

Es gibt aufschlussreiche Korrespondenzen innerhalb der Republikaner selbst, aber auch mit Vertretern der sogenannten Neuen Rechten insgesamt. Darin heißt es, dass man nicht wie "Ewiggestrige" auftreten wolle, sondern eher gemäßigt. Wenn sich Schönhuber damals öffentlich so wie in diesem Flugblatt geäußert hätte, dann wäre es für ihn vorbei gewesen. Schönhuber selbst erkannte stattdessen die Untaten vorgeblich an, dann kam aber stets das große "Aber"! Über allem stand für ihn stets das Ziel, die "Vergangenheitsbewältigung" ein für alle Mal zu beenden.

Worum es offenbar auch dem Verfasser des Flugblatts ging.

Es bringt die radikale Ablehnung der "Vergangenheitsbewältigung" von Teilen der damaligen Bevölkerung zum Ausdruck. Was es wiederum selbst zu einem historischen Dokument macht.

Herr Fischer, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Moritz Fischer via Telefon
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