Aberglaube in Amerika Als eine ganze Stadt einen Vampir jagte
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Vor rund 200 Jahren ging die Angst um im Städtchen Griswold in Connecticut. Trieb ein Vampir sein Unwesen? In ihrer Furcht schändeten die Einwohner das Grab eines Mannes, den sie für untot hielten.
John Barber hatte sein Leben lang hart gearbeitet. Dann, mit Mitte 50, begann der Husten. Zuerst nur, wenn er sich anstrengte, auf der Farm zu hart anpackte. Aber bald schon kam der Husten immer öfter, auch wenn er ruhte oder nachts im Bett lag. Immer schwächer wurde der Mann, immer hagerer sein Gesicht, immer knochiger sein Brustkorb. Und dann kam das Blut. Manchmal fehlte ihm die Kraft, es aus dem Mundwinkel zu wischen, wenn bei einem Hustenanfall wieder ein ganzer Schwall davon aus seinen Lungen mit hochgeschleudert wurde. Dann lief es in einem dünnen Faden an seinem faltigen Hals hinab.
John Barber war einer der Ersten, aber bei Weitem nicht der Letzte, den in den 1820er-Jahren im ländlichen Connecticut, nahe der kleinen Stadt Griswold, die Tuberkulose dahinraffte. Als etwa fünf Jahre später immer noch weitere Bewohner erkrankten und begannen, Blut zu spucken, erinnerten die Leute sich an den abgemagerten, hohläugigen Farmer, mit dem die unheimliche Serie begonnen hatte.
Herz aus der Leiche geholt
Die Medizin steckte damals noch in den Kinderschuhen. Die unheimliche Krankheit, an der John Barber und nach ihm noch so viele weitere gestorben waren, kannten sie nur als Schwindsucht – weil den Kranken nach und nach die Lebenskraft zu schwinden schien. Was sollte das Leiden anderes verursacht haben als ein Vampir, ein Untoter, der Nacht für Nacht sein Grab verlässt, um sie ihnen auszusaugen?
Erst 1882 würde es dem Deutschen Robert Koch gelingen, den Erreger Mycobacterium tuberculosis zu beschreiben, 1905 erhielt er dafür den Nobelpreis.
Die tapferen Einwohner von Griswold jedenfalls beschlossen, dem Spuk auf ihre Art und Weise ein Ende zu setzen. Sie marschierten zum Friedhof, öffneten das Grab von John Barber und brachen die morschen Rippen auf, um sein verwestes Herz herauszuholen. Bevor sie die Grube mit schweren Steinplatten wieder verschlossen, packten sie seinen Schädel auf den Brustkorb und legten darunter die Schienbeinknochen über Kreuz – so wie beim "Jolly Roger" auf den Flaggen der Piratenschiffe. Und tatsächlich: Danach schien Frieden einzukehren in Griswold. Der Vampir war gebannt.
Opfer eines Serienkillers?
So fand ihn im Jahr 1990 der Archäologe Nick Bellantoni in seinem Grab. Kinder hatten beim Spielen in einem Steinbruch den kleinen Friedhof mit 29 Bestattungen entdeckt. Die eilends herbeigeholte Polizei vermutete zunächst, sie hätten weitere Opfer des Serienmörders Michael Ross entdeckt, der zu jener Zeit sein Unwesen in der Gegend trieb. Doch schnell stellten sie fest, dass die Knochen bereits wesentlich älter waren und riefen Bellantoni zu Hilfe.
Als der das Grab Nummer Vier öffnete und die umarrangierten Knochen von John Barber sah, wusste er sofort, dass etwas nicht stimmte. Zeitungsberichte brachten den Archäologen bald auf die Spur der sogenannten "Jewett City Vampire". Jewett City ist heute ein Stadtteil von Griswold. Im Jahr 1854 hatten gleich mehrere Zeitungen darüber berichtet, dass die Einwohner dort Tote exhumiert hatten – weil sie im Verdacht standen, Vampire zu sein und den Lebendigen das Blut und die Lebenskraft auszusaugen.
Den Namen des Vampirs aus dem kleinen Friedhof von Griswold kannte Nick Bellantoni damals noch nicht. Aber jemand hatte mit Nieten seine Initialen "JB" in den Sargdeckel geschlagen und das Sterbealter hinzugefügt: "55". Die übrigen Toten des Friedhofs wurden in einer Ecke des heutigen Gemeindefriedhofes bestattet, JB's Knochen aber schickte Bellantoni ins Labor. Dort bestätigte sich sein erster Verdacht, JB war tatsächlich ein Opfer der Tuberkulose.
Hilfe von der Armee
Die Krankheit hatte so schwer in seinem Körper gewütet, dass die Rippen von Innen bereits ganz zerfressen waren, als er endlich starb. Aber auch sein Leben davor war kein leichtes gewesen. Die Forensiker fanden Spuren einer chronischen Arthritis zwischen seinen Rückenwirbeln. Auch ein Knie war von der Arthritis gezeichnet, wahrscheinlich humpelte er stark beim Gehen. Beide Frontzähne fehlten. Ein Schlüsselbein war gebrochen und unter Schmerzen schief wieder zusammengewachsen.
Der Fall des Vampirs von Griswold ließ Bellantoni nicht los. Als die Forschung knapp dreißig Jahre nach der Entdeckung der Knochen weiter fortgeschritten war, veranlasste er eine erneute Untersuchung, diesmal im Armed Forces DNA Identification Laboratory (AFDIL) in Dover im US-Bundesstaat Delaware. Dort gibt es eine riesige Datenbank mit DNA-Proben von allen aktiven US-Militärs sowie den Reservisten, mit der die Forscher die DNA des "Vampirs" abgleichen konnten. Das Gen-Profil des Toten deutete am Ende auf einen ganz bestimmten Familiennamen hin: Barber.
Spur aus der Vergangenheit
Und tatsächlich halfen Bellantoni auch diesmal wieder alte Ausgaben der Lokalzeitung weiter. In einem der Blätter aus dem Jahr 1826 fand er eine Todesanzeige für einen 12-jährigen Jungen namens Nathan Barber. Ganz in der Nähe von "JB 55" hatten die Archäologen damals ein Grab gefunden, dessen Sargdeckel mit "NB 13" beschriftet war.
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Die Anzeige in der Zeitung verriet auch den Namen seines Vaters: John. Im Sommer dieses Jahres präsentierte der Archäologe nun gemeinsam mit Kollegen die Ergebnisse der jüngsten Studie. Damit hat Bellantoni rund 200 Jahre nach dem Tod des Vampirs von Griswold nicht nur seine Unschuld bewiesen, sondern ihm auch seinen Namen zurückgegeben.
- Nicholas Bellantoni u.a.: "DNA Testing Reveals the Putative Identity of JB55, a 19th Century Vampire Buried in Griswold, Connecticut", 2019
- Artikel der "Washington Post": "A ‘vampire’s’ remains were found about 30 years ago. Now DNA is giving him new life", 2019
- Artikel auf "Damned Conneticut: "The Jewett City Vampires, Griswold", 2015
- Artikel auf "Smithsonian.com": "The Great New England Vampire Panic", 2012
- Angelika Franz; Daniel Nösler: Geköpft und gepfählt. Archäologen auf der Jagd nach den Untoten, Stuttgart 2016