Pflege-Mordprozess Ulrich S. rastet vor Gericht aus und weist Vorwürfe von sich

Ulrich S. aus Aachen steht wegen Mordes an neun Patienten vor Gericht und weist alle Vorwürfe zurück. Er beschwert sich stattdessen über die Arbeitsbedingungen im Krankenhaus.
"Ich war Angestellter im Rhein-Maas-Klinikum seit Oktober 2022" – so beginnt Ulrich S. am Freitag (9. Mai) die Verlesung seines Gedächtnisprotokolls vor dem Aachener Landgericht. Der Krankenpfleger soll von Dezember 2023 bis Mai 2024 in seinen Nachtdiensten neun Patienten auf der Palliativstation der Klinik mit Medikamenten ermordet haben. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm darüber hinaus 34-fachen versuchten Mord an weiteren Patienten vor.
Doch um die einzelnen Fälle geht es in dem Gedächtnisprotokoll des Angeklagten zunächst nicht. Das Protokoll handelt vielmehr von seiner Arbeit im Allgemeinen, von seiner Beziehung zu Kollegen und Vorgesetzten und den Arbeitsbedingungen im Rhein-Maas-Klinikum (RMK) im Speziellen.
Während der gesamten Verlesung seines eigenen Gedächtnisprotokolls ist Ulrich S. angespannt. Er wirkt trotzig. Zu Beginn liest er noch langsam und leise, versucht, dem "Laien" Sachzusammenhänge des Klinikalltags nüchtern begreiflich zu machen. Er erklärt dabei etwa, welche Ärzte es gab, unterteilt sie in gute und schlechte Mediziner. Einen besonders guten, in seinen Augen kompetenten Arzt bezeichnet er als "zweckdienlich". Andere seien in seinen Augen nicht engagiert genug gewesen.
Ulrich S. klagt vor dem Gericht über schlechte Arbeitsbedingungen
So berichtet er etwa von einem seiner Nachtdienste, in dem ein Patient schwer gestürzt sei. Als er die diensthabende Ärztin angerufen habe, sagt er, habe die ihn nur angeschrien und gefragt, was ihm einfalle, ob so etwas nicht bis morgens Zeit habe. Im RMK gebe es nämlich eine Besonderheit, sagt er. Ab 16 Uhr habe regelmäßig nur noch ein einzelner Arzt Bereitschaft.
"Ich habe in drei Jahren Nachtdienst nur ein einziges Mal erlebt, dass sich ein Arzt auf den Weg zu uns machte", sagt er. Ulrich S. ist wütend auf das System, das im Krankenhaus vorherrscht: auf den Zeitdruck und das Gefühl, mit einer Vielzahl an Aufgaben allein gelassen zu werden.
Doch auch wenn Ulrich S. um die Vielzahl der Aufgaben weiß und die Überforderung, die damit einhergehen kann, verurteilt er Kollegen, die ihre Aufgaben nicht "ordentlich" erledigen oder ihm zufolge "faul" seien, scharf. Auch beschwert er sich darüber, dass andere Kollegen Zugänge in den Ellbogen legen würden. "Das ist der letzte Schwachsinn." Mehrfach verliert Ulrich S. die Geduld. Seine Anwälte ermahnen ihn, sich nicht aufzuregen.
Kollegen machte der Angeklagte auf Fehlverhalten aufmerksam
Es sei vorgekommen, sagt er, dass er seine Kollegen auf ihr Fehlverhalten aufmerksam gemacht habe. Zu einer Kollegin, die er mehrfach am Handy erwischt habe, sei er laut geworden. Sie habe sich am nächsten Tag krankgemeldet. "Um mir aus dem Weg zu gehen", vermutet er.
Eine weitere Kollegin, Melanie G. (Name geändert), musste wegen eines Streits mit Ulrich S. sogar versetzt werden. Sie habe ein T-Shirt der Band Freiwild getragen, sagt Ulrich S. – für ihn eine "Nazi-Band". Außerdem habe die Kollegin damit "geprahlt", die AfD zu wählen, und eine andere Kollegin angeblich rassistisch beleidigt. Ulrich S. habe der Frau daraufhin den Wikipedia-Eintrag der Band ausgedruckt und sich schriftlich über sie beschwert – was die Versetzung der Frau zur Folge gehabt habe.
Auch an einem Kollegen, mit dem Ulrich S. sich eigentlich zunächst gut verstanden hatte, lässt er kein gutes Haar: Marvin B. (Name geändert) und er seien sich eigentlich auf Anhieb sehr sympathisch gewesen. Das sei wohl auch darin begründet gewesen, dass sie die einzigen männlichen Pfleger in einem 30-köpfigen Team gewesen seien. Die Männer hätten sich auch ein paar Mal privat getroffen. Sogar zu seiner Hochzeit hat Ulrich S. seinen Kollegen Marvin B. eingeladen. Beide hätten laut Ulrich S. einen "sehr schwarzen Humor" gehabt.
"Schwarzer Humor": Patienten, die sich in "Zombies" verwandeln
So habe Marvin B. bestimmte sedierende Medikamente etwa "Zombie-Medikamente" genannt und gesagt: "Wenn die Patienten sich in Zombies verwandeln, brauchen sie Zombie-Medikamente." Auch eine erschreckende Aussage von Marvin B über alte Menschen ordnet Ulrich S. unter "schwarzer Humor" ein. Der Kollege soll gesagt haben: "Alte Menschen sind alles Nazis, die Welt ist ohne sie besser dran." Ulrich S. reagiert darauf vor Gericht so: "Ja, wenn er meint."
Er beanstandet aber nicht die makabren Sätze seines Kollegen. Er beanstandet Marvin B.s Arbeitsmoral, der unter anderem während der Dienstzeit geschlafen haben soll. Marvin B. habe zudem gegen Türen getreten und sie zugeknallt sowie eine Kollegin eine "Fotze" genannt. Und es gibt noch eine schwerere Anschuldigung, die Ulrich S. macht: Marvin B. habe einem Patienten, dem es schlecht ging, Midazolam gegeben, das Medikament, das laut Anklage in so vielen Fällen zum Tod geführt haben soll. "Und dann war der Patient tot", sagt Ulrich S. vor Gericht.
Ulrich S. weist sämtliche Schuld von sich
Zum Abschluss seines Gedankenprotokolls weist Ulrich S. die Schuld von sich. Er selbst habe niemandem Medikamente verabreicht, um dessen Leben zu verkürzen. Lediglich um sicherzustellen, dass die Patienten schmerzfrei seien. Er habe zudem immer den Eindruck gehabt, gerade junge Pflegekräfte seien vorsichtig mit den starken Medikamenten und hätten die Vergabe auf ihn als erfahreneren Pfleger abgewälzt. Ulrich S. sieht sich selbst nicht als Schuldigen, sondern als Opfer: "Ganz viele Personen wollen ihre eigenen Fehler auf mich schieben", sagt er vor Gericht. Er ist aufgebracht.
Man habe über ihn gesagt, er wolle seine Hunde vergiften, erzählt er. "Aber ich liebe meine Hunde, ich habe sie auf meine Rippen tätowiert, genau wie meine Frau, die sich jetzt von mir scheiden lassen will." Er schimpft laut auf alles, was vorgefallen ist: auf die Menschen, die falsche Aussagen über ihn getätigt hätten, und die Presse, die intime Details über sein Leben verbreitet habe. Auch auf die Polizei ist er wütend, die ihn laut eigener Aussage um 6 Uhr morgens aus dem Bett gerissen und ihm einen Anwalt verweigert habe. "Es ist ja nur mein Kopf! Es ist ja nur Mord", schreit er.
Unter diesen Umständen entscheidet Richter Markus Vogt an diesem Sitzungstag, keine weiteren Detailfragen mehr zu klären. Zunächst müsse ohnehin geklärt werden, ob Ulrich S. die Aussage, die er damals vor der Polizei getätigt habe, überhaupt so stehen lassen wolle oder ob er sie korrigieren müsse. Der nächste Prozesstermin ist für den 21. Mai angesetzt.
- Reporterin vor Ort