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Linken-Politiker über Anschlag: "Neun Jahre Terror"


Rechte Verbindungen zur Justiz?
Linken-Politiker über Anschlag: "Neun Jahre Terror"


Aktualisiert am 05.09.2022Lesedauer: 8 Min.
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Brandanschlag in Neukölln: Welche Rolle spielte die Justiz?Vergrößern des Bildes
Brandanschlag in Neukölln: Welche Rolle spielte die Justiz? (Quelle: Imago/privat-Montage)

2018 entging Ferat Koçak nur knapp einem Brandanschlag. Jetzt stehen die mutmaßlichen Täter vor Gericht. Für den Linken-Politiker beginnt alles wieder von vorn.

Ein Smart, der in Flammen aufgeht. Seine Eltern, die in Todesangst aus dem Bett springen. Ein Gartentor, das sperrangelweit offen steht. Ferat Koçak sagt, es ist dieses Bild, das er jedes Mal vor sich sieht, wenn er nachts aus seinen Albträumen hochschreckt.

In dieser Nacht ist etwas passiert, was sein ganzes Leben schlagartig verändert hat. Ferat Koçak hat sein Vertrauen in den Rechtsstaat verloren. Der Vorfall liegt jetzt schon viereinhalb Jahre zurück, aber die Erinnerung daran verfolgt ihn bis heute.

Es geschah in der Nacht zum 1. Februar 2018. Der Politiker der Linken übernachtete wie so oft bei seinen Eltern im Berliner Stadtteil Rudow. Es muss gegen drei Uhr morgens gewesen sein, als er aus dem Schlaf hochschreckte. Er sagt: "Für die Uhrzeit war es viel zu hell. Ich ging zum Fenster. Und da kam mir das Feuer schon entgegen."

Feuerwehr kam gerade noch rechtzeitig

Der Carport stand in Flammen. Koçak sagt, wäre die Feuerwehr nur fünf Minuten später gekommen, hätten die Flammen auf die Dachdämmung übergegriffen. Und dann wäre alles ganz schnell gegangen. Sie wären alle drei verbrannt. Sein Vater, seine Mutter und er.

Koçak krümelt sich Tabak auf ein Blättchen und dreht sich eine Zigarette. Ein in schwarz gekleideter Schlaks mit Basecap und einem Bart, der an der Spitze rot gefärbt ist. Sein Partei-Abzeichen. Er sitzt draußen in einem Café in der Sonnenallee in Neukölln, dort, wo er heute lebt.

Von wohnen kann keine Rede sein. Koçak sagt, er übernachte mal hier, mal dort. "Die" sollten ihn nicht noch einmal finden. "Die", das sind die mutmaßlichen Täter. Tilo P. und Sebastian T. Der eine ehemaliges AfD-Mitglied, der andere ehemaliger Kreisvorsitzender der NPD und mehrfach vorbestrafter Schläger. Und über "die" sagt Koçak, ihr Anschlag habe eigentlich ihm gegolten. Der Verfassungsschutz, das ist aktenkundig, hatte die beiden längst im Visier. Er wusste, dass sie ihn ausspionierten. Er hat ihn aber nicht vorgewarnt. Koçak sagt: "Das macht mich fertig."

Der Südosten Berlins wird von Neonazis terrorisiert

Am vergangenen Montag hat er den Männern zum ersten Mal in die Augen geschaut. Seither müssen sich die beiden in Berlin bekannten Neonazis vor dem Amtsgericht Tiergarten für den Brandanschlag verantworten. In derselben Nacht wurde auch das Auto von Heinz Ostermann vor seiner Privatwohnung in Britz angezündet. Der Buchhändler, ein stoischer Westfale, hatte zusammen mit Kollegen gegen den Einzug der AfD ins Abgeordnetenhaus protestiert.

Die beiden Anschläge waren nur zwei von vielen, die den Südosten Berlins erschütterten. Ostermann wurde schon zum zweiten Mal das Auto abgefackelt, einmal landete ein Pflasterstein in seinem Ladenfenster. Das verstärkt Koçaks Unbehagen.

Seit 2013 werden die Bewohner von Neukölln, Rudow, Britz und Treptow-Köpenick von Neonazis terrorisiert. Bis heute haben sich die Angeklagten zu den Vorwürfen nicht geäußert. Wie schon bei der NSU-Affäre scheint es auch hier Verbindungen zur Polizei und zur Justiz zu geben – dazu später mehr. Vom "Neukölln-Komplex" reden die Opfer deshalb auch.

Eine rechte Gewaltserie mit mehr als 70 Straftaten

Brennende Autos, explodierende Briefkästen, Hakenkreuz-Schmierereien an Hauswänden. Inwischen wurden mehr als 70 Straftaten angezeigt. Die Angriffe richten sich gegen Menschen, die sich für Flüchtlinge und gegen rechts engagieren.

Koçak ist nur einer von ihnen. 43 Jahre alt, studierter Volkswirt. Seit 2021 sitzt er für die Fraktion der Linken im Berliner Abgeordnetenhaus. Er ist Sprecher für antifaschistische Politik. Er sagt: "Ich habe meinen Aktivismus zum Beruf gemacht."

Seine Fraktion hat dafür gekämpft, dass diese rechte Gewaltserie im Südosten Berlins von einem Untersuchungsausschuss beleuchtet wird. Im Juni hat er seine Arbeit aufgenommen. Ferat Koçak ist dort nur stellvertretendes Mitglied. Er nimmt an den Sitzungen aber nicht teil, solange er in dem Prozess gegen die beiden Neonazis Tilo P. und Sebastian T. noch nicht als Zeuge vernommen wurde.

War der Anschlag Brandstiftung – oder versuchter Totschlag?

Der Anwalt von Tilo P, Mirko Röder, hatte wegen dieser Doppelrolle eine Klage vor dem Verfassungsgericht angekündigt. Schließlich tritt Koçak in dem Prozess gegen seinen Mandanten nicht nur als Zeuge, sondern auch als Nebenkläger auf.

Dem "Tagesspiegel" hatte Röder gesagt, er fürchte, dass die Rechte seines Mandanten beeinträchtigt werden können, wenn Koçak mit Sonderwissen aus dem Ausschuss vor Gericht aussage. Röder verweist auf das Untersuchungsausschussgesetz. Danach dürfen Mitglieder des Abgeordnetenhauses, die an den zu untersuchenden Vorgängen "nicht unerheblich beteiligt sind oder waren, dem Ausschuss nicht angehören". Ihre Neutralität steht infrage.

"Neun Jahre Terror, Aufklärungsquote von null Prozent"

Koçak rollt mit den Augen, wenn die Sprache auf die Klage kommt. Er sagt: "Soll er ruhig machen." Na klar, er sei sich seiner Verantwortung bewusst. Selbst wenn das Verfassungsgericht zu dem Schluss käme, dass er wegen Betroffenheit nicht in den Ausschuss dürfe, würde das der Sache dienen, glaubt er.

Denn mit der Klage würde der gesamte Neukölln-Komplex in den Fokus der Öffentlichkeit geraten. "Wir reden von neun Jahren Terror mit einer Aufklärungsquote von null Prozent." Was bleibt, ist ein Knäuel von Fragen – und es wird immer verworrener, je weiter man es zu entknoten versucht.

Ein Staatsanwalt, der AfD wählt?

Die Angeklagten P. und T., da sind sich die Opfer einig, waren nicht allein. Es wird vermutet, dass sie zu einem rechtsextremen Netzwerk gehören, das bis in die Polizei und in die Justiz reichte. Unter Verdacht stand der Leiter der Staatsschutzabteilung der Staatsanwaltschaft. Generalstaatsanwältin Margarete Koppers hatte ihn schon vor der Eröffnung des Prozesses abberufen.

Koçacs Anwältin Franziska Nedelmann war auf eine Notiz in einer Akte gestoßen. Nach einem Gespräch mit F. hatte Tilo P. einem Freund erzählt, er habe in einer Vernehmung den Eindruck gehabt, der Staatsanwalt sei auf seiner Seite. Er habe angedeutet, er habe auch die AfD gewählt. . Konnten P. und T. die Kritiker der Partei nur deshalb jahrelang terrorisieren, weil es in der Justiz und bei der Polizei Leute wie F. gab, die Ermittlungen verschleppten? Hatte ihnen ein Polizist gesteckt, dass sie vom Verfassungsschutz beobachtet wurden?

Die Generalstaatsanwältin ermittelt selbst

Es ist ein ungeheuerlicher Verdacht. Inzwischen hat eine Experten-Kommission zum Neukölln-Komplex den Vorwurf "grober Ermittlungsfehler" oder "bewusster Auslassungen" zwar dementiert. In einer Email der Staatsanwaltschaft an t-online heißt es, der zitierte Staatsanwalt habe keinerlei Verbindungen zu einem rechtsextremen Netzwerk. Aber die Opfer trauen der Justiz nicht mehr.

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Die Generalstaatsanwältin hatte das Verfahren jetzt persönlich übernommen – mit dem Anspruch, alles gründlich aufzuarbeiten. Es gab noch zwei weitere Anklagen gegen die mutmaßlichen Strippenzieher im Neukölln-Komplex, eine wegen rechtsextremen Schmierereien an Hauswänden und im Fall von T. auch eine wegen Betrugs. Alle drei Anklagen wurden zu einem Prozess gebündelt.

Was erklärt, warum zwischen dem Brandanschlag auf die Autos von Ferat Koçac und Heinz Ostermann und dem Prozess-Auftakt sage und schreibe viereinhalb Jahre liegen. Mit der Folge, dass sich heute viele Polizisten gar nicht mehr an Einzelheiten erinnern können. Und dass sich die Anwälte der Angeklagten gute Chancen ausrechnen können, dass ihre Mandanten freigesprochen werden. Mangels Beweisen.

"Mein Kopf spult immer dieselben Bilder ab"

Ferat Koçac ist jetzt als Nebenkläger in dem Prozess zugelassen. Das hat seine Anwältin gegen den Widerstand der Vorsitzenden Richterin durchgesetzt. Diese hatte behauptet, Koçak habe keine "körperlichen und seelischen Schäden" erlitten, die eine Zulassung als Nebenkläger rechtfertigen würden. "Ein Skandal", kritisierten Opfervertreter.

Wenn Ferat Koçak Glück hat, wird der Prozess vor dem Landgericht weitergeführt, nicht wegen Brandstiftung, sondern wegen versuchten Totschlags. Die Chancen dafür stehen jedoch nicht gut. Bislang gibt es nur Indizien. Am Tatort wurden nicht einmal Fingerabdrücke der Angeklagten gefunden.

Zweimal musste er den Arbeitgeber wechseln

Koçak sagt, er sei Tilo P. und Sebastian T. bis zum Prozessauftakt nie persönlich begegnet. Angst, nein, Angst habe er nicht vor ihnen. Sein rechter Fuß wippt auf und ab, während er das sagt. Zwischendurch schaut er sich immer mal wieder nach allen Seiten um. Er werde von einer Therapeutin begleitet, seit sein Smart abgefackelt wurde, wird er später einräumen. "Ich kam am Anfang überhaupt nicht mehr klar."

Zweimal habe er schon den Job wechseln müssen, weil seine Gedanken immer wieder um die Nacht des Anschlags kreisten. Die Beziehung mit seiner Freundin sei in die Brüche gegangen. Koçak sagt: "Mein Kopf spult immer wieder dieselben Bilder ab." Das brennende Auto. Die Todesangst in den Gesichtern seiner Eltern. Das offene Gartentor.

Man habe es nicht abschließen können, aber für seine Eltern sei das bis dahin kein Problem gewesen. Sie waren vor Jahren aus Neukölln nach Rudow gezogen, um sich ihren Traum vom Eigenheim zu verwirklichen. Es ging ihnen wie ihm. Sie trauten niemandem etwas Böses zu.

Seine Mutter erlitt einen Herzinfarkt

Seit dem 1. Februar ist das vorbei. Koçak sagt: "Mein Vertrauen ist weg." Drei Wochen später erlitt seine Mutter einen Herzinfarkt. Koçak sagt, er sei ständig im Alarmmodus. Und je näher der Prozess und der Untersuchungsausschuss gerückt seien, desto schlechter sei es ihm gegangen. "Um ehrlich zu sein: Mir tut auch jedes Interview nicht gut."

Aber was ihm passiert sei, sei eben auch vielen anderen Menschen passiert. Und deshalb müsse er seine Geschichte erzählen. Öffentlichkeit sei der beste Schutz. Der Berliner Traumatherapeut Rainer Rothe kennt diese Symptome. Er sagt, sie seien typisch für eine schwere posttraumatische Belastungsstörung.

Rothe hat solche Fälle auch in seiner eigenen Praxis. Er betreut die Opfer des Attentats vom Breitscheidplatz. Er sagt, ein Drittel aller Menschen, die solche Anschläge erlebten, litten hinterher an Todesangst. Koçak passe in dieses Raster. Er sagt: "Der geht durch die Hölle."

Der Verfassungsschutz hatte T. und P. im Visier

Koçak holt sein Handy aus der Tasche. Er scrollt nach dem Foto, das er um kurz vor 3 Uhr in der Nacht zum 1. Februar gemacht hat. "Im Affekt", sagt er. Es zeigt sein brennendes Auto. Er sagt, er komme immer noch nicht darüber hinweg. Ein Jahr nach dem Vorfall hat er über den Anschlag mit einem Beamten vom Landeskriminalamt gesprochen.

Der habe ihm erzählt, dass der Verfassungsschutz Tilo P. und Sebastian T. schon länger im Visier hatte. Es gab Tonaufnahmen, die dokumentierten, wie sie ihn zwei Wochen vor dem Anschlag bei einem Treffen der Linken in einem Café in Gropiusstadt verfolgten.

Die Linke wollte den Südosten Berlins aufrollen – mit Koçak als Kandidat. Die Voraussetzungen schienen günstig. Seit der Wiedervereinigung waren immer mehr Migranten in den Süden Neuköllns gezogen. Wer es sich leisten konnte, kaufte sich ein Haus in Rudow. Hier betreibt Heinz Ostermann die Buchhandlung "Leporello".

In dem Laden gehen Menschen aller Nationen ein und aus. Ostermann sagt, so muss es sein. Um zu demonstrieren, dass er sich von rechter Gewalt nicht einschüchtern lässt, hat er eine Initiative gegründet. "Rudow empört sich". Sie veranstaltet gemeinsame Tafeln und Filmabende gegen rechts. Gerade haben sie einen Dokumentarfilm über die Anschläge in Hanau gezeigt: 50 Menschen sind gekommen. Ostermann sagt: "So viele waren wir noch nie."

"Quellenschutz geht vor Opferschutz"

Die Angeklagten scheinen sich von den neuen Nachbarn bedroht zu fühlen. Koçak sagt, sie seien beide in der Gegend aufgewachsen. Er passe in doppelter Hinsicht nicht in ihr Weltbild: "Als Linker – und dann noch als Sohn von Migranten."

Sein Vater war als gewerkschaftlich engagierter Student vor dem Militärputsch in der Türkei geflohen. Koçak sagt: "Ich wurde dazu erzogen, mich für die einzusetzen, die unterdrückt oder diskriminiert werden." Warum der Verfassungsschutz ihn nicht gewarnt habe, habe er den für ihn zuständigen Beamten beim LKA gefragt. Die Antwort habe er noch im Ohr. "Quellenschutz geht vor Opferschutz."

Koçaks Stimme wird jetzt lauter. Er sagt: "Meine Eltern und ich wären beinahe gestorben. Das kann doch nicht wahr sein."

Anmerkung der Redaktion: Die Staatsanwaltschaft Berlin hat auf den Bericht einer Experten-Kommission vom 31. Mai 2021 hingewiesen. Danach hat es keine Ermittlungsfehler gegeben. "Rechtsextreme Bestrebungen oder gar ein rechtsextremistisches Netzwerk unter Staatsanwälten, die die Aufklärung bewusst verhindert oder vereitelt hätten", könnten "ausgeschlossen werden."

Verwendete Quellen
  • Interview mit Ferat Koçak
  • Interview mit Heinz Ostermann
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