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Hamburg: Frauen protestieren gegen Catcalling


Protest gegen Belästigung
"Die Täter haben eines gemeinsam: Es sind alles Männer"


17.08.2022Lesedauer: 4 Min.
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Aktivistin Katharina Müller will sich Catcalling nicht mehr gefallen lassen: Die 25-Jährige ist ehrenamtliche Gleichstellungsbeauftragte der Jusos Hamburg.Vergrößern des Bildes
Aktivistin Katharina Müller will sich Catcalling nicht mehr gefallen lassen: Die 25-Jährige ist ehrenamtliche Gleichstellungsbeauftragte der Jusos Hamburg. (Quelle: Privat)

In der Bahn, im Nachtleben oder auf belebten Einkaufsstraßen: Viele Frauen sind ständigen Übergriffen ausgesetzt. Die Täter seien immer Männer.

"Dich würde ich auch ficken", steht mit Kreide auf dem Pflaster der Hamburger Einkaufsmeile Mönckebergstraße geschrieben. An diesem heißen Dienstagnachmittag ist die Fußgängerzone voll, mittendrin sind Katharina Müller und ihre Mitstreiterinnen. Ihr Ziel: sogenanntes Catcalling ankreiden. Unter Catcalling werden verbale, sexuelle Belästigungen verstanden – Müller und ihre Bekannten können viel davon berichten.

"Ich kenne fast keine Frau, die so etwas noch nicht erlebt hat", sagt die 25-jährige Studentin Müller. Mit Catcalls können Pfiffe, Rufe, anzügliche Fragen oder schlicht stumpfe Belästigungen gemeint sein – es ist ein umstrittener Begriff, der auf Deutsch so viel wie "Katzen rufen" bedeutet. Aber er hat sich mittlerweile etabliert, auch wegen solcher Ankreide-Proteste, die schon in fast allen deutschen Städten stattgefunden haben. Die Frauen auf der Mönckebergstraße haben eine ganze Liste gesammelter Sprüche und Situationen dabei.

Hamburg: Ersten Catcall hörte Betroffene schon mit 13 Jahren

Den ersten Catcall hörte Müller im Alter von 13 Jahren, wie sie rückblickend einordnet. In ihrem Heimatort im Hamburger Speckgürtel wurde Müller schon als junges Mädchen von Bauern auf Traktoren angehupt oder von älteren Männern angestarrt, erzählt sie. "Rückblickend muss ich auch sagen, dass es einige schwierige Kommentare von Lehren gab. 'Mach mir nicht so hübsche Rehaugen' ist so ein Spruch", erinnert die 25-Jährige. Erst im Erwachsenenalter und der Auseinandersetzung mit Feminismus habe sie verstanden, dass diese Männer sexuell motiviert handelten.

Sicher gebe es in Hamburg und allen anderen Städten Orte, an denen Frauen mehr solcher Sprüche hören. "Am Hauptbahnhof, auf dem Kiez oder auch hier auf der Mönckebergstraße", listet sie auf. "Aber das Problem gibt es überall. Ich habe schon in drei sehr unterschiedlichen Stadtteilen gelebt, das macht aber keinen entscheidenden Unterschied." Obwohl es zahllose Berichte von Betroffenen gibt, werden die Täter nur selten als solche identifiziert.

Sie lassen sich laut Müller nicht in Schubladen stecken: "Die Täter haben eines gemeinsam: Es sind alles Männer", sagt Müller. Unabhängig vom Aussehen und Alter ließen sie sich zu Pfiffen, Blicken oder Sprüchen hinreißen. "Die Jüngeren schnalzen vielleicht eher mal mit der Zunge, Ältere starren dafür mehr auf nackte Beine. Am aufdringlichsten sind die, die in meinem Alter sind. Da kommen schon richtig anzügliche Sprüche oder sie kommen körperlich nah", berichtet sie aus eigener Erfahrung.

Betroffene berichtet: "Ich habe mich mit Selbstvorwürfen gequält"

Eine solche Erfahrung, eine besonders drastische dazu, war die Motivation für den Protest. Mit zwei bislang unbekannten Männern war Müller in einer Gruppe unterwegs, irgendwann landeten sie auf dem Kiez. "Die haben mir vorher einen ziemlich aufgeklärten Eindruck gemacht", sagt Müller. Beim Tanzen in einer Bar griff ihr dann einer der beiden unvermittelt unter den Rock und in den Schritt. "Da war der Abend gelaufen." Als sie zu Hause war, meldete sich der Zweite mit anzüglichen Textnachrichten zu sexuellen Handlungen.

Eine Woche lang schleppte Müller das Erlebte mit sich herum, wie sie sagt. "Ich habe mich mit Selbstvorwürfen gequält, weil ich plötzlich dachte, ich hätte kein Kleid auf dem Kiez anziehen sollen. Ich und meine Kleidung waren aber nicht das Problem", berichtet sie. Sie ging zur Polizei und erstattete Anzeige. "Das hat mir ein Stück weit die Kontrolle zurückgegeben und war befreiend." An eine Bestrafung glaubt sie nicht, dass die beiden Männer nun einen Brief von der Polizei bekämen, reiche ihr vorerst aber.

Rechtliche Situation: Catcalling ist nur selten strafbar

In der Tat: Catcalls sind in Deutschland in der Regel nicht strafbar. Für eine sexuelle Belästigung nach Paragraf 184i Strafgesetzbuch braucht es eine Berührung, die Hürden für eine illegale Beleidigung sind hoch. "Es ist vielleicht keine harte Beleidigung, wenn mir jemand 'geiler Arsch' hinter ruft, kränkend ist es trotzdem. Es braucht den Tatbestand einer verbalen sexuellen Belästigung", fordert Müller, die bei den Jusos Hamburg Gleichstellungsbeauftragte ist.

Müllers Beispiel zeigt, wie selbst den Frauen bekannte Männer nicht vor verbalen Belästigungen oder mehr zurückschrecken. Und: formulierte Haltung und tatsächliches Verhalten stimmen nicht überein. "So Fälle habe ich schon oft mitbekommen. Wenn man die dann darauf anspricht, fehlt oft die Fähigkeit zur kritischen Selbstreflexion." Meist würden Frauen weniger angesprochen, wenn sie in männlicher Begleitung unterwegs sind. "Das wirft die Frage auf, ob solche Männer mehr Respekt vor anderen Männern als vor Frauen haben."

Mehr Aufklärung an Schulen und mehr Intervention von Männern

Für sie ist dieses Verhalten eine Frage der Erziehung und der Sozialisation. "Frauen sind nicht für diese Bildungsarbeit zuständig", sagt sie zu Männern, die von ihr erwarten, das Thema erklärt zu bekommen. "Jeder kann sich selbst informieren." Im Zweifel müssten Männer andere Männer zurechtweisen, denn mit Komplimenten hätten diese sexualisierten Sprüche nichts zu tun. Auch in den Schulen brauche es mehr Aufklärung: "Mädchen bekommen Verhaltenstipps und werden vor bösen Männern gewarnt, aber für die Jungs gibt es nichts Vergleichbares."

Die Hemmschwelle der Täter sinke insbesondere unter Einfluss von Alkohol, in den Abendstunden oder im Sommer: "Viele sehen spezielle Kleidung als Einladung an", sagt Müller. Um sich davor zu schützen, hat sie sich gewisse Abwehrmechanismen geschaffen. "Das haben wir alle. Wir tragen Kopfhörer, um nicht angesprochen zu werden, oder wechseln die Straßenseite, um Männern und Männergruppen aus dem Weg zu gehen. Auch Blickkontakt vermeiden oder telefonieren hilft, um nicht angesprochen zu werden."

Protest als Akt, sich aus der Ohnmacht zu befreien

Das Wichtigste für Betroffene sei, nicht die Schuldfrage umzukehren, sagt Müller. "Ich würde niemals meinen Kleidungsstil deswegen ändern. Aber das ist meine individuelle Einstellung, die nicht für alle Frauen gilt." In manchen Situationen sei Ignorieren sicher die beste Lösung, um keine weitere Eskalation zu provozieren. Wer nicht alleine ist, könne die Täter aber auch konfrontieren. "Der Austausch mit anderen Frauen hat mir dabei viel geholfen. Und eben, die beiden Typen angezeigt zu haben."

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"Jede hat Erfahrungen, das hat unsere Aktion verdeutlicht", resümiert Müller. Einige Passantinnen hätten nach Kreide gefragt, um selbst gehörte Sprüche auf die Straße zu schreiben. "Für manche war das ein Akt, sich aus der eigenen Ohnmacht zu befreien."

Als sich die Gruppe junger Frauen für das Foto um einen angekreideten Spruch versammelt, bleiben zwei jugendliche Männer hinter ihnen stehen. Sie gaffen, lachen und machen teils obszöne Gesten. Sie verschwinden wortlos und peinlich berührt, als sich die erste der jungen Frauen zu ihnen umdreht.

Verwendete Quellen
  • Reporter vor Ort
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