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Messerattacke von Brokstedt: "Täter hatte eine Psychose" – durch Drogen


Ibrahim A. erstach zwei Jugendliche
"Der Täter von Brokstedt hatte eine Psychose"

  • Markus Krause, Regio-Redakteur für Hamburg.
InterviewVon Markus Krause

04.03.2023Lesedauer: 6 Min.
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Eine Reisende schaut sich die Blumen, Kerzen und verschiedene Bilder im Wartehäuschen am Bahnhof Brokstedt an: Sie gedenken den Opfern der Messerattacke.Vergrößern des Bildes
Eine Reisende schaut sich die Blumen, Kerzen und verschiedene Bilder im Wartehäuschen am Bahnhof Brokstedt an: sie erinnern an die Opfer der Messerattacke. (Quelle: Marcus Brandt/dpa)

Suchtarzt Göran Michaelsen nennt mögliche Gründe für den Ausraster des Messerangreifers von Brokstedt. Er übt außerdem Kritik am Umgang mit Ibrahim A.

Sechs Wochen sind inzwischen vergangen, seit Ibrahim A. in einem Regionalzug von Kiel nach Hamburg zwei Jugendliche mit einem Messer tötete und fünf weitere Menschen verletzte. Dennoch sind noch immer viele Fragen offen – insbesondere das Motiv ist weiter unklar.

Wie inzwischen bekannt ist, soll der Palästinenser nicht nur an einer schweren Drogenabhängigkeit, sondern auch an episodenhaften Wahnvorstellungen gelitten haben. In diesem Zusammenhang wirft auch seine Methadonbehandlung während der Untersuchungshaft in Hamburg-Billwerder zunehmend Fragen auf.

Keine Anzeichen für eine notwendige Behandlung mit Methadon

Der "Spiegel" berichtete am Freitag unter Berufung auf den Verteidiger von A., den Bonner Anwalt Björn Seelbach, dass es in den medizinischen Unterlagen keine Diagnose gegeben habe, "die eine ständig steigende Methadon-Gabe bei meinem Mandanten sinnvoll erscheinen" gelassen habe. Dennoch habe er am Anfang seiner Behandlung zehn Milligramm pro Tag erhalten, am Ende 60.

Nach der Tat wurden bei dem mutmaßlichen Messerangreifer von Brokstedt außerdem Kokain, Morphin und Methadon nachgewiesen. Waren diese Substanzen in seinem Körper der Grund für den plötzlichen Ausraster? Nein, sagt Göran Michaelsen, Chefarzt der Soteria Klinik am Helios Park-Klinikum in Leipzig. "Ich habe wenige Zweifel daran, dass der Täter von Brokstedt eine Psychose hatte."

Wie er diesen Verdacht begründet und warum er aus medizinischer Sicht keinen Grund für die Methadonbehandlung von A. sieht, erklärt der Suchtarzt im Interview mit t-online.

t-online: Herr Michaelsen, mit Blick auf die Haft von Ibrahim A. in Hamburg fällt vor allem auf, dass er erst zwei Monate nach seiner Inhaftierung eine Behandlung mit Methadon erhalten hat. Wie erklären Sie sich das?

Göran Michaelsen: Ich wüsste keinen Grund, warum man damit beginnen sollte, wenn jemand zwei Monate lang keine Drogen genommen und bis dahin keine Substitutionsmittel gebraucht hat. Es könnte natürlich sein, dass er zu Beginn seiner Haft weiter Opiate konsumiert hat. Ich kenne Gefängnisse, wo man leichter an das Zeug herankommt als draußen. Aber das wäre eine wohlwollende Erklärung.

Was könnten denn Gründe für diese Entscheidung sein?

Aufgrund der Auffälligkeiten, die der Patient ja offenbar gezeigt hat, war man vielleicht der Ansicht, ihm etwas geben zu müssen, um ihn leichter führbar zu machen. Möglicherweise hat man einen Teil seiner Symptomatik aber auch fehlgedeutet und gedacht, er würde sich so verhalten, weil er Suchtdruck oder Entzug hat, wobei ein Fachmann das schon unterscheiden können sollte. Deshalb erschließt es sich mir nicht so richtig. Eigentlich würde man sagen, wenn er zwei Monate nicht konsumiert hat, ist das Thema durch.

Eignet sich eine Substitutionsbehandlung für Menschen, die angeben, Geräusche in Wänden und Decken wahrzunehmen und Stimmen zu hören?

Nein. Eine Substitutionsbehandlung hilft erst mal grundsätzlich bei einer Sucht, sie überbrückt – die Abhängigkeit wird jedoch nicht behoben. Das Gesamtpaket muss stimmen. Eine psychotische Symptomatik wird durch die Behandlung auf alle Fälle jedoch nicht besser.

Sondern?

Wahrscheinlich passiert gar nichts. Die Substitutionsbehandlung macht die Psychose auch nicht stärker. Vielleicht ist der Patient dadurch eine Zeit lang besser führbar gewesen, das wissen wir nicht. Aber Substitutionsmittel helfen nicht gegen psychotische Symptome.

Wie wirkt Methadon?

Methadon ist eigentlich als Morphium-ähnliches Schmerzmittel entwickelt worden, wird jedoch heute in seinem ursprünglichen Einsatzgebiet kaum noch verwendet. Es ist ein sogenanntes voll synthetisches Opioid. Es hat die Wirkung eines sogenannten Vollagonisten und wirkt zu 100 Prozent wie ein Opioid. Man gibt es typischerweise als Tablette. Manche sagen sogar, die Wirkung ist noch stärker und intensiver als beim Morphium. Es wirkt zunächst einmal schmerzstillend, das ist die Hauptwirkung von allen Opioiden. Es hat aber auch eine berauschende, eine sedierende, beruhigende Wirkung. Patienten sagen, dass es sie irgendwie dämpft und – salopp gesagt – auch weich im Kopf macht.

Welche Vorteile hat eine Behandlung mit Methadon?

Substitutionsmittel unterbrechen als erstes den Kreislauf aus Konsum, Rausch und Entzug. Unter therapeutischer Begleitung können sich viele Dinge bessern, Gesundheit, Psyche, soziale Situation. Methadon hilft aber auch gut, um Probleme zu verdrängen und abschalten zu können. Der Patient kann dadurch Sorgen und Ängste vergessen, die er vielleicht hat. Ansonsten hat es meiner Meinung nach aber noch den entscheidenden Vorteil, dass man die Tabletten nur einmal am Tag geben muss, da sie eine Wirkzeit von 24 Stunden haben. Viele Suchtmittel muss man mehrmals am Tag nehmen.

Und welche Nachteile hat es?

Das Suchtpotenzial von Methadon ist am Ende sogar noch höher als von anderen Opioiden, wie zum Beispiel Morphin, Heroin oder Ähnlichem. Deswegen ist ein Entzug von Methadon härter als ein Entzug von Heroin, insbesondere ein kalter Entzug. Aber es ist für die Durchführung der Substitutionsbehandlung bei jemandem, der eine manifeste Heroinabhängigkeit hat, schon seit vielen Jahrzehnten ein bewährtes Medikament, weil ein Arzt gerne an dem festhält, was sich bewährt hat.

Welche Wechselwirkungen zwischen Methadon und Neuroleptika, die er ebenfalls während seiner Haft erhalten hat, gibt es?

Grundsätzlich kann man sagen, dass es kein großes Risiko von Wechselwirkungen gibt. Viele Patienten brauchen neben ihrem Substitutionsmittel auch noch Medikamente, zum Beispiel Psychopharmaka. Das ist an sich nicht ungewöhnlich und auch nicht grundsätzlich gefährlich. Ob individuelle Wechselwirkungen bestehen, muss man im Zweifelsfall zum Beispiel über eine Datenbank prüfen.

Werden im Justizvollzug Ihrer Erfahrung nach zu schnell oder zu oft starke Medikamente gegeben?

Die medizinische Versorgung ist im Justizvollzug in der Regel nicht so besonders. Das hat diverse Gründe. Vom Fachkräftemängel an sich über Ärzte, die nicht leicht zu erreichen sind, bis hin zu den mitunter schwierigen Patienten. Aus medizinischer Sicht kann sowohl zu viel als auch zu wenig falsch sein. Insbesondere die, die besonders auffällig sind, bekommen wahrscheinlich schneller auch mal einen Termin beim Psychiater als jemand, der nur still in seiner Zelle sitzt und nichts sagt, wo gar keinem auffällt, wie krank er eigentlich ist. Aber natürlich gibt es auch Patienten, die ganz genau wissen, was sie sagen müssen, damit sie etwas kriegen.

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Für "schwere Haftbedingungen" und die Methadonvergabe in Billwerder hat Ibrahim A. bei seinem Prozess einen "Strafrabatt" erhalten. Wie erklären Sie sich das? War die Substitution also falsch?

Die "erschwerten Haftbedingungen" kann ich angesichts von wiederholten Verlegungen auf die Sicherungsstation noch verstehen. Warum sich jedoch eine Methadonvergabe strafmildernd auswirken soll, erschließt sich mir nicht. Für jemanden, der manifestiert opiatabhängig ist, ist ja eher das Gegenteil der Fall. Es wäre eine sinnvolle Behandlung, die er bekommt. Auch wenn es in dem konkreten Fall Zweifel gibt, ob das wirklich nötig und sinnvoll war. Es wäre eine viel größere Quälerei, ihm eine nötige Substitution nicht zu geben, weil er dann erst mal drei Wochen einen kalten Entzug machen muss.

Welche Risiken gibt es, wenn jemand in Freiheit seine Substitution eigenständig fortsetzen soll? Wie häufig brechen Menschen so etwas ab und greifen stattdessen wieder zu ihren früheren Suchtmitteln?

Grundsätzlich ist das schon riskant. Die Leitlinien der Bundesärztekammer schreiben die Rahmenbedingungen vor, wie eine Substitution gemacht werden sollte. Im Wesentlichen geht es darum, dass dem Patienten nicht mehr geschadet werden sollte. Deshalb gehört zu einer ambulanten Substitutionsbehandlung auch eine Prüfung, ob der Patient überhaupt dafür geeignet ist. Dazu muss er eine gewisse Verlässlichkeit und eine gewisse Motivation zur Mitarbeit zeigen. Wenn jemand nicht in der Lage ist, tägliche Termine wahrzunehmen, kommt er ganz schnell in einen kritischen Kreislauf aus Entzug, Methadongabe, vielleicht auch Drogeneinnahme. Insofern man in der Haft also Methadon zur Überbrückung gibt, muss es vor Haftende auch wieder abgesetzt werden. Sonst bringt man den Patienten am Ende womöglich nur noch tiefer in die Abhängigkeit.

Hätte Ibrahim A. aufgrund seiner Lage besser in Haft bleiben sollen und hätte die Tat so womöglich verhindert werden können?

Ibrahim A. kann ja nicht in der JVA bleiben, wenn Haftentlassung angeordnet wurde. Natürlich stellt man sich die Frage, ob der Tatverdächtige vielleicht mit seinen Substitutionsmitteln zu abrupt entlassen wurde, ohne da einen Schuldigen benennen zu wollen. Je mehr ich darüber lese, desto weniger Zweifel habe ich jedoch, dass der Täter von Brokstedt eine Psychose hatte. Aber es taucht auch die Frage auf, ob ausreichend gewürdigt wurde, welche Vorgeschichte Ibrahim A. hatte, gerade auch bei seinen massiven Auffälligkeiten mit zahlreichen zum Teil erheblichen Gewaltstraftaten.

Warum?

Nach dem, was ich so gelesen habe, war der Tatverdächtige hochgradig auffällig. Er soll laut Selbstgespräche geführt haben, gegen die Zellenwände geklopft haben, geäußert haben, dass er Dinge hört, die nicht da sind. Das alles klingt schon sehr nach einer psychotischen Symptomatik. Es wird auch immer wieder von einer wahnhaften Störung geschrieben. Wenn nun noch eine hohe Dosis Kokain hinzukommt, wie sie nach der Tat nachgewiesen wurde, er dazu vielleicht mehrere Tage nicht geschlafen hat und es andere Stressfaktoren wie die Inhaftierung gab, kann das bei einer gewissen Neigung ganz allein auch eine Psychose auslösen.

Kokain kann zudem bei jemandem, der eine Schizophrenie hat, ebenfalls einen psychotischen Schub auslösen, den er sonst vielleicht nicht bekommen hätte. Und es kann es für jemanden, der einen psychotischen Schub hat, diesen natürlich noch schlimmer machen. Wie die Mischung jetzt genau ist, mit seiner Sucht, den Substitutionsmitteln, seiner abrupten Entlassung, der psychophysischen Verfassung und so weiter, ist im Nachgang wahrscheinlich nur schwer aufzulösen. In dem Fall sind sicher mehrere ungünstige Faktoren zusammengekommen.

Verwendete Quellen
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