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"Winnetou"-Skandal: Wie alles begann und dann völlig eskalierte | Überblick


Erfundener Skandal
Die große "Winnetou"-Lüge


Aktualisiert am 03.09.2022Lesedauer: 6 Min.
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"Winnetou": Pierre Brice in der Karl-May-Verfilmung von 1963. (Quelle: IMAGO/Rights Managed)

Der Aufschrei war riesig und hält bis heute an. "Winnetou" wurde verboten, gecancelt, verbannt. Eine Rekonstruktion zeigt, wie es zum "Skandal" kam.

Ist die Utopie schon längst gescheitert? Mehr noch: Wurde sie ins Gegenteil verkehrt? Ein Satz des Medienwissenschaftlers Bernhard Pörksen erscheint heute in anderem Licht: "Es mag utopisch klingen, aber ähnlich wie das demokratische Prinzip müssen journalistisches Bewusstsein und eine Mentalität des empathischen Abwägens heute zu einem universellen Wert und zur Lebensmaxime des digitalen Zeitalters werden", schrieb er vor zehn Jahren in einem Essay zu seinem Buch "Der entfesselte Skandal".

Pörksen gilt seitdem als Experte auf dem Gebiet. Sollte er in den vergangenen Wochen die Aufregung um "Der junge Häuptling Winnetou" verfolgt haben, dürfte er ob seiner Worte von einst kopfschüttelnd resigniert haben. Statt journalistischem Bewusstsein oder empathischem Abwägen scheint ein anderer Effekt eingetreten zu sein: der Furor einer fast schon kalkulierten Empörung. Auch Journalisten neigen im Eifer des Gefechts offenbar nicht zur Einhaltung von Grundstandards – die Pörksen-Utopie verkehrt sich ins Gegenteil.

Das medial verbreitete "Winnetou"-Narrativ

Dies legen unter anderem neue Datenanalysen nahe, die Mirko Lange, der Gründer und Geschäftsführer des Kommunikationsunternehmens Scompler angestoßen hat. Sie gehen der Entscheidung von Ravensburger, Titel rund um "Der junge Häuptling Winnetou" vom Markt zu nehmen, auf den Grund. Denn die "Winnetou"-Verbannung führte zu einem Narrativ, das in unterschiedlichen Varianten seinen Weg in die Medien fand: Ravensburger knickt ein, der Tugendterror obsiegt, eine Minderheit verengt den Meinungskorridor.


Mehr über die mediale Empörung der "Winnetou"-Debatte diskutiert t-online-Chefredakteur Florian Harms mit Chefreporterin Miriam Hollstein in dieser Podcast-Folge:

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Zwei Wochen nach der Verkündung von Ravensburger zeichnet sich ab: Diese Erzählung ist lückenhaft. Dafür ist ein Blick auf die zeitliche Abfolge nötig. Sie wird zur entscheidenden Komponente. Denn die mediale Behauptung, Ravensburger habe dem "Woke-Wahnsinn" klein beigegeben, ist abhängig von den Reaktionen, die der Verlag vor seiner Ankündigung erhalten hat. Das heißt in diesem Fall: vor dem 19. August.

Der Tag, an dem alles begann

Das ist der Tag, an dem aus einem harmlosen Instagram-Beitrag plötzlich ein reumütiges Statement wurde. Dazu muss man wissen: Ravensburger setzte am 11. August über seinen offiziellen Social-Media-Kanal zuerst ein branchenübliches PR-Posting ab.

"Heute startet endlich der lang ersehnte Film 'Der junge Häuptling Winnetou' in den Kinos", heißt es darin und weiter: "Das passende 'Buch zum Film' ab 8 Jahren und das 'Erstlesebuch zum Film' ab 7 Jahren findet ihr ab sofort bei uns." Acht Tage später wird der Text um ein Update erweitert. Dies lässt sich in der Bearbeitungshistorie erkennen: Am 19. August folgt die deutschlandweit in den vergangenen Wochen zitierte Entschuldigung samt der Verkündung, "Winnetou"-Lizenztitel vom Markt zu nehmen. Berichtet wird darüber erst ab dem 21. August, breite Resonanz erfährt die Mitteilung sogar erst am 22. August.

Ravensburger bestätigt t-online auf Rückfrage: Es hat zu keinem anderen Zeitpunkt eine Pressemitteilung in der Sache gegeben. Das Posting vom 19. August auf Instagram, abgesetzt um 14.46 Uhr nachmittags: Es ist einziger Auslöser aller weiteren Entwicklungen.

Die Ungereimtheiten

Ravensburger schrieb damals: "Wir haben die vielen negativen Rückmeldungen zu unserem Buch 'Der junge Häuptling Winnetou' verfolgt und wir haben heute entschieden, die Auslieferung der Titel zu stoppen und sie aus dem Programm zu nehmen." Auf Nachfrage von t-online will das Unternehmen nicht konkretisieren, was genau mit "vielen negativen Rückmeldungen" gemeint ist. Zu Vorgängen, die sich vor dem 19. August innerhalb des Verlags ereignet haben, nimmt die Presseabteilung nicht Stellung.

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Nur so viel lässt Ravensburger wissen: Den Entschluss habe man "sorgfältig abgewogen". Doch an jenem 19. August kommen bereits Irritationen auf. Unter dem Instagram-Posting fragt ein User verwirrt: "Viele negative Rückmeldungen?". Zu diesem Zeitpunkt sind kaum User-Beiträge in der Kommentarspalte zu finden. Nach dem Update hingegen kommt der Ansturm. Mehr als 4.600 Kommentare haben sich bis zum jetzigen Zeitpunkt angesammelt. Hass entlädt sich. Wüste Beschimpfungen werden nur vereinzelt durch Lob und Verständnis unterbrochen. Der raue Ton regiert.

Diese 17 User waren die ersten Kritiker

Eine Datenanalyse hat jetzt ergeben, dass zwischen dem 8. und 10. August lediglich 150 bis 200 Postings pro Tag zum Thema "Winnetou" abgesetzt wurden. Kreuz und quer durch das Internet. Es sind damals die Tage nach der Deutschlandpremiere des gleichnamigen Kinofilms. Doch kaum jemand scheint sich für die Neuverfilmung zu interessieren – auch wenn das Kinderabenteuer ab dem 11. August deutschlandweit über die großen Leinwände flimmert.

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Eine Flut an Kritik? Sucht man vergebens. Auch ein Blick auf Twitter zeigt das gleiche Bild. Dort entlädt sich die Empörung erst viel später. t-online-Recherchen offenbaren nun: Die ersten kritischen Anmerkungen stammen vom 14. und 15. August. An diesen zwei Tagen sammeln sich mindestens 17 Kommentare unter dem Posting von Ravensburger, die ausschließlich negativ gestimmt sind. Der Tenor ist immer der gleiche: Das Begleitbuch zum Film sei voller unverantwortbarer Inhalte. Einer der ersten Accounts, der das äußert, trägt den Namen "Natives in Germany".

Dort lautet der Kommentar: "Wow, das enttäuscht uns besonders, da aus eurem Verlag kürzlich unsere Hilfe für einen neuen Kinder-Weltatlas angefragt wurde. Und jetzt das. Anstatt echte Indigene Repräsentation zu fördern, wurde hier mit minimalem Aufwand ein Buch auf Basis des Films erstellt. Wenn es um Profit geht, ist die antirassistische Haltung scheinbar schnell vergessen." (sic!)

t-online hat alle 17 Profile, von denen Kritik an Ravensburger geäußert wurde, einsehen können. Eine Kinderbuchbloggerin ist darunter, eine Grundschullehrerin, ein Mitarbeiter einer Beratungsfirma für diskriminierungsfreie Medieninhalte, ein Mitglied einer indigenen Bevölkerungsgruppe – so steht es jeweils in den Instagram-Profilen beschrieben. Der größte Account unter ihnen hat etwa 22.600 Follower, der kleinste gerade mal zehn.

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Medien befeuern den "Skandal" immer weiter

Sind das für einen Verlag, der nach eigenen Angaben 2020 weltweit mehr als 630 Millionen Euro Umsatz erwirtschaftet hat, viele negative Rückmeldungen? Das scheinen die Verantwortlichen für sich mit Ja beantwortet zu haben – und reagierten. Der Rest ist Geschichte. Seit mehr als zwei Wochen wird so viel über "Winnetou" geredet wie seit dem "Schuh des Manitu" nicht mehr – und die Parodie von Michael Bully Herbig kam vor mehr als 20 Jahren ins Kino.

Unzählige Umdrehungen hat das Thema inzwischen genommen. "Winnetou" in der Medien-Waschmaschine. Am 26. August erreicht die Skandalisierung ihren bisherigen Höhepunkt: Die "Bild" behauptet, die ARD zeige keine Karl-May-Filme mehr. Die fragwürdig konstruierte Geschichte offenbart exemplarisch, wie kalkuliert die Empörungsmaschinerie seit dem 19. August funktioniert. Schon längst geht es nicht mehr darum, warum Ravensburger "Winnetou"-Lizenztitel vom Markt nahm.

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Professor Hans Mathias Kepplinger, der Jahrzehnte an Skandalen geforscht und mit "Die Mechanismen der Skandalisierung" 2012 eine Art Standardwerk vorgelegt hat, erklärt t-online: "Die Medien erwecken in solchen Fällen den irreführenden Eindruck, dass sie auf das thematisierte Geschehen reagieren –, 'Winnetou' vom Markt zu nehmen. Das ist ein 'non event', ein Ereignis ohne großen Nachrichtenwert. Tatsächlich reagieren die Medien vor allem auf andere Medien – nach dem Motto: Wenn die einsteigen, dann müssen auch wir dabei sein."

Dabei bewertet Kepplinger den Fall "Winnetou" eigentlich als Lappalie. "Um einen Skandal im engeren Sinn würde es sich nur dann handeln, wenn ein Großteil der Bevölkerung empört wird. Das ist nicht erkennbar. Vermutlich ist den weitaus meisten Menschen die Sache egal." Ein tatsächlicher Skandal würde "spontane Empörung" hervorrufen, ist er sich sicher. Bei "Winnetou" urteilt er: "Die Mehrheit hält das vermutlich für Nonsens."

"Zensur funktioniert nicht mehr"

Eine Veränderung mit Blick auf Funktionsweisen von Skandalen beschreibt er so: "Die Mechanismen haben sich nicht geändert, sondern die Auslöseereignisse. Das sind heute andere als 1960." Vielleicht wäre ein zurückgezogenes "Winnetou"-Kinderbuch auch einfach deshalb nicht weiter aufgefallen, weil 1960 kein Instagram-Account das eigene Schuldeingeständnis ins Schaufenster gestellt hätte.

Die digitale Erregungskultur bricht sich in den vergangenen Jahren immer wieder Bahn. In unterschiedlichen Varianten, mit anderen Folgen. Beispiele dafür sind das entfernte "Avenidas"-Gedicht an der Alice-Salomon-Hochschule oder die Weigerung von Autoren, gemeinsam mit der Kabarettistin Lisa Eckhart bei einem Literaturfestival aufzutreten. Auch als die Deutsche Forschungsgemeinschaft einen Audiobeitrag von Dieter Nuhr löschte, war die Aufregung immens. Noch präsenter dürfte vielen die "Alles dicht machen"-Kampagne aus der Corona-Pandemie sein, die ungeahnte Entrüstungsstürme durchs Land fegte. Auch nicht allzu lange her, aus dem Januar 2020: die von WDR-Intendant Tom Buhrow angeregte Sperrung des Satire-Videos "Umweltsau".


Quotation Mark

"Wer damit droht, einmal veröffentlichte Daten wieder aus dem Netz zu bannen, der macht sie in der Regel erst so richtig bekannt."


Bernhard Pörksen, 2012


Immer wieder im Zentrum dabei: das Zurückziehen, Löschen, Entfernen – das Zensieren. Bernhard Pörksen war sich vor zehn Jahren sicher: "Zensur, das ist die gute und die schlechte Nachricht, funktioniert nicht mehr. Oft sind es gerade die Versuche der Informationskontrolle, die den Kontrollverlust provozieren. Wer damit droht, einmal veröffentlichte Daten wieder aus dem Netz zu bannen, der macht sie in der Regel erst so richtig bekannt, sorgt für jede Menge Aufregung und eine Fülle von blitzschnell angefertigten, begeistert verbreiteten Kopien."

Das wäre also die nächste zu erwartende Eskalationsstufe: Kopien von "Der junge Häuptling Winnetou" und seiner Lizenztitel. Aber damit dürfte nicht zu rechnen sein. Weder für das "Buch zum Film" noch für das "Erstlesebuch zum Film" scheinen sich die Empörten je ernsthaft interessiert zu haben. Die mediale Hetzjagd spricht eine andere Sprache: "Winnetou" diente im Gewand des deutschen Kulturguts nur als Vorwand für eine Verbotsdebatte. Ein gefundenes Fressen, an dem sich vor allem Medien kaum sattsehen konnten.

Verwendete Quellen
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