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Behinderte Kinder: "Rumsitzen und heulen bringt uns nicht weiter"


Leben mit schwerkranken Kindern
"Rumsitzen und heulen bringt uns nicht weiter"

spiegel-online, Annette Langer

07.01.2014Lesedauer: 5 Min.
Maike Borkowski mit ihrem Pflegekind Joel. Der schwebehinderte Junge hat sich bei ihr zu einem fröhlichen Kind entwickelt.Vergrößern des BildesMaike Borkowski mit ihrem Pflegekind Joel. Der schwebehinderte Junge hat sich bei ihr zu einem fröhlichen Kind entwickelt. (Quelle: Martina La Trobe-Bateman)
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Maike Borkowski verlor eine Tochter, als sie noch sehr jung war. Heute hat sie sechs Kinder, von denen vier schwerkrank sind. Kein Grund, schlecht drauf zu sein, findet die 42-Jährige. Zu Besuch bei einer Frau, deren Zuversicht Berge versetzen kann.

Wenn die Kinder das Heimatschiff entern, wird es eng an Bord. Jerome wuchtet seinen Rollstuhl die Treppe hoch und tritt fast auf Jaro, einen prächtigen, weißen Schäferhund, der es sich auf der Schwelle bequem gemacht hat. Im Vorraum stapeln sich Schuhe, Jacken und Mützen. Rechts liegt das große Kinderzimmer mit Aquarium, in dem rote Fische leuchten. Geradeaus öffnet sich das Kommandozentrum, die langgestreckte Küche.

Während die Jungs ihre Rollstühle verstauen, sieht man überall Kinder mit schlafwandlerischer Sicherheit durch die Wohnung laufen. Die kleineren tapsen und torkeln von hier nach da, immer gefolgt von einem oder mehreren aufmerksamen Blicken. Sie spielen Lego oder malen, holen sich vorsichtig Teller aus dem Schrank. Die größeren schmieren Brötchen, machen Hausaufgaben, häkeln. Es herrscht große Konzentration und erstaunliche Ruhe.

Am Küchentisch, gleich neben einem dampfenden Eintopf, sitzt Maike Borkowski. Auf dem Schoß hat sie Blondschopf Joel, ihr Pflegekind. Der Dreijährige schaut verschmitzt über ihre Schulter, macht Faxen und schüttelt sich vor Lachen, als es ihm gelingt, sein Gegenüber beim Versteckspiel reinzulegen.

"Ein Knochenbruch heilt in Wochen, die Traurigkeit bleibt länger"

Ein normales, wenn auch personalstarkes Familienszenario, könnte man denken. Doch bei den Borkowskis ist nichts normal. Das merkt man spätestens, wenn Jerome, 11, Jeremy, 8, und Jendrik, 5, einen Wettlauf starten.

Blitzschnell sind sie, aber ein wenig steif in der Hüfte. Was man von außen nicht sieht, sind Nekrosen, die ihre Knochen zersetzen und sie langfristig dazu zwingen werden, im Rollstuhl zu sitzen. Osteogenesis imperfecta (OI) lautet die Diagnose für alle drei - auch Glasknochenkrankheit genannt.

Schon kleinste Stöße können bei den Brüdern zu Knochenbrüchen führen. Um die Belastung möglichst gering zu halten, dürfen sie höchstens 50 bis 80 Schritte am Tag laufen. Nach dem kleinen Rennen verbleiben gerade mal 20. "Ich versuche, sie im Zaum zu halten", sagt die Mutter, "aber wenn ich merke, dass die Psyche unter der fehlenden Bewegung leidet, lasse ich sie. Ein Knochenbruch heilt in wenigen Wochen, die Traurigkeit bleibt länger."

Die Jungen leiden an einer schweren Form der OI. Sie sind außerdem Bluter, Allergiker und Asthmatiker. Alle haben Arthritis. Maike verbringt viel Zeit bei Ärzten und Physiotherapeuten, in Spezialkliniken und Apotheken. Wenn sie nicht gerade als Tagesmutter vier weitere Kinder betreut, sich um eines ihrer fünf Patenkinder kümmert oder Schwimmunterricht für Behinderte gibt. Sie backt auch Kuchen für Kindergartenflohmärkte, übernimmt Fahrdienste und engagiert sich im Bundesverband Rehabilitation (BDH) für Menschen mit Behinderung.

Behinderten Pflegekindern ein schönes Zuhause bieten

Vor allem aber ist sie da für Joel. Der Dreijährige wurde ihr im Säuglingsalter als hochgradig geistig und körperlich behindert übergeben, er hatte keinen Saugreflex und musste über eine Sonde ernährt werden. Dass er heute in der Küche steht und Witze reißt, ist ein kleines Wunder. "Viele Pflegeeltern wollen keine kranken Kinder, wir haben uns bewusst dafür entschieden, weil sie doch auch ein schönes Zuhause brauchen."

Zu dem "wir" gehört Ehemann Michael, von dem Maike seit einigen Monaten getrennt lebt, der sich aber weiter mit um die Kinder kümmert. Die beiden haben noch zwei Töchter, die 21-jährige Jessica, die in der Ausbildung ist und nicht mehr zu Hause wohnt, und die 13-jährige Jennifer, ein bildhübscher Teenager, der ohne Murren der Mutter zur Hand geht.

"Man wächst da so rein"

Jessicas Zwillingsschwester starb noch im Mutterleib, Maike trauerte lange über den Verlust. Später, als sie mit den Behörden um Zuschüsse oder bei Banken um einen Kredit für einen behindertengerechten Transporter kämpfte, erkrankte sie selbst schwer, rappelte sich wieder auf und machte unverdrossen weiter.

Maike macht, dass man sich schämt, über das eigene Stöhnen und Jammern auf hohem Niveau. Sie selbst winkt ab: "Es kommt ja nicht alles auf einmal", sagt sie auf die Frage, wie sie all die Schicksalsschläge überstanden hat. "Man wächst da so rein."

"Reinwachsen" musste die 42-Jährige in so einiges. Meeresbiologin wollte sie mal werden - doch der Vater opponierte. Das Geld war knapp, wer brauchte schon Abitur? Maike machte den Realschulabschluss und wurde Schwimmmeisterin, leitete ein Spaßbad in Baden-Württemberg. Später ließ sie sich zur Erzieherin umschulen. Weil Tochter Jennifer Neurodermitis hat, zog die Familie an die Ostsee.

"Natürlich hadere ich manchmal mit mir, frage mich, was ich wohl verbrochen habe, dass es uns so getroffen hat. Aber rumsitzen und heulen bringt uns nicht weiter", sagt Maike. Kein einziges Kind würde sie hergeben wollen, Probleme hin oder her. "Es ist auch nicht mehr so bitter wie früher, mein Berg ist schon halb abgetragen. Wenn heute der Arzt sagt, es ist so weit, ihr Sohn muss ab jetzt im Rollstuhl in den Kindergarten, dann nehmen wir es mit Humor und freuen uns, dass wir keine Kita-Gebühr mehr zahlen müssen."

"Es hat einen Sinn, dass ich all das erlebe"

Ihr Umfeld schwankt zwischen Skepsis, stummer Bewunderung und fassungsloser Hochachtung. "Wie schafft sie das?", fragt sich fast jeder, der Maike Borkowski jemals einen Tag lang in Aktion verfolgt hat.

"Ich bin zwar keine besonders gute Kirchgängerin - aber sehr tief verwurzelt im christlichen Glauben", sagt die sechsfache Mutter. Ihr Großvater lief immer mit ihr durch den Wald, zeigte ihr "wie schön der liebe Gott die Bäume hat wachsen lassen". Später zweifelte sie an der Schöpfungsgeschichte, der liebe Gott aber blieb. "Ich bin fest davon überzeugt, dass man Nächstenliebe leben muss", sagt sie. "Ich glaube, es hat einen Sinn, dass ich all das erlebe. Ich soll meine Erfahrungen, auch meinen Schmerz, mit anderen teilen. Manchmal kann ich dadurch helfen, das macht mich sehr froh."

Natürlich gibt es auch kritische Stimmen. Wieso sie denn bitte noch mehr Kinder bekommen musste, als schon klar gewesen sei, dass der erste Junge so schwer krank ist, fragen einige bissig. Denen muss Maike dann erklären, dass es Jahre gedauert hat, bis sie eine erste Diagnose hatten, da waren die beiden anderen Jungs schon auf der Welt. Und selbst wenn sie es gewusst hätte - die Kinder hätte sie natürlich trotzdem bekommen.

Das "Wir-sind-nicht-zuständig-Mantra" der Behörden setzt ihr zu

"Wenn ich solchen Leuten erzähle, von welchen Gehältern wir leben und wie wir uns durchschlagen, dann halten sie meist schnell den Mund", sagt Maike. Obwohl beide Elternteile berufstätig und stolz darauf sind, dass sie es allein schaffen, wird es mitunter knapp im Hause Borkowski. Deshalb muss Maikes großer Traum, ein Kinderhotel für Behinderte und Nicht-Behinderte, warten, bis sie im Lotto gewinnt. "Wirklich arm ist nur, wer keine Phantasie und keine Freunde hat", sagt sie.

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Ohne ihr Netzwerk von Weggefährten und Bekannten würde gar nichts funktionieren. "Es ist ein großes Glück, dass diese Menschen meinen Weg gekreuzt haben. Wir sind so gut verzahnt, dass ich mir keine Freiräume erkämpfen muss." Was denn passiere, wenn sie krank, traurig oder erschöpft sei? Borkowski zieht irritiert die Stirn in Falten: "Das kommt eigentlich selten vor", sagt sie. "Und wenn doch, dann mach ich halt weniger."

Maike wird selten wütend. Höchstens, wenn ihre Kinder fluchen. Oder wenn sie wieder mal um Dinge betteln muss, die ihr zustehen. Das "Wir-sind-nicht-zuständig-Mantra" der Behörden setzt ihr zu. Auch die Ungeduld und Respektlosigkeit gegenüber gehandicapten Menschen nervt sie immer wieder: "Alle reden über Inklusion von Menschen mit Behinderungen - dabei klappt es doch noch nicht einmal mit der Integration."

Ist Borkowski ein besonders zuversichtlicher Mensch? "Natürlich, das muss ich sein, sonst würde unser Schiff sinken. Aber ich würde auch untergehen ohne meine Kinder."

Transparenzhinweis
  • Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
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