"Rumsitzen und heulen bringt uns nicht weiter"
Maike Borkowski verlor eine Tochter, als sie noch sehr jung war. Heute hat sie sechs Kinder, von denen vier schwerkrank sind. Kein Grund, schlecht drauf zu sein, findet die 42-JΓ€hrige. Zu Besuch bei einer Frau, deren Zuversicht Berge versetzen kann.
Wenn die Kinder das Heimatschiff entern, wird es eng an Bord. Jerome wuchtet seinen Rollstuhl die Treppe hoch und tritt fast auf Jaro, einen prΓ€chtigen, weiΓen SchΓ€ferhund, der es sich auf der Schwelle bequem gemacht hat. Im Vorraum stapeln sich Schuhe, Jacken und MΓΌtzen. Rechts liegt das groΓe Kinderzimmer mit Aquarium, in dem rote Fische leuchten. Geradeaus ΓΆffnet sich das Kommandozentrum, die langgestreckte KΓΌche.
WΓ€hrend die Jungs ihre RollstΓΌhle verstauen, sieht man ΓΌberall Kinder mit schlafwandlerischer Sicherheit durch die Wohnung laufen. Die kleineren tapsen und torkeln von hier nach da, immer gefolgt von einem oder mehreren aufmerksamen Blicken. Sie spielen Lego oder malen, holen sich vorsichtig Teller aus dem Schrank. Die grΓΆΓeren schmieren BrΓΆtchen, machen Hausaufgaben, hΓ€keln. Es herrscht groΓe Konzentration und erstaunliche Ruhe.
Am KΓΌchentisch, gleich neben einem dampfenden Eintopf, sitzt Maike Borkowski. Auf dem SchoΓ hat sie Blondschopf Joel, ihr Pflegekind. Der DreijΓ€hrige schaut verschmitzt ΓΌber ihre Schulter, macht Faxen und schΓΌttelt sich vor Lachen, als es ihm gelingt, sein GegenΓΌber beim Versteckspiel reinzulegen.
"Ein Knochenbruch heilt in Wochen, die Traurigkeit bleibt lΓ€nger"
Ein normales, wenn auch personalstarkes Familienszenario, kΓΆnnte man denken. Doch bei den Borkowskis ist nichts normal. Das merkt man spΓ€testens, wenn Jerome, 11, Jeremy, 8, und Jendrik, 5, einen Wettlauf starten.
Blitzschnell sind sie, aber ein wenig steif in der HΓΌfte. Was man von auΓen nicht sieht, sind Nekrosen, die ihre Knochen zersetzen und sie langfristig dazu zwingen werden, im Rollstuhl zu sitzen. Osteogenesis imperfecta (OI) lautet die Diagnose fΓΌr alle drei - auch Glasknochenkrankheit genannt.
Schon kleinste StΓΆΓe kΓΆnnen bei den BrΓΌdern zu KnochenbrΓΌchen fΓΌhren. Um die Belastung mΓΆglichst gering zu halten, dΓΌrfen sie hΓΆchstens 50 bis 80 Schritte am Tag laufen. Nach dem kleinen Rennen verbleiben gerade mal 20. "Ich versuche, sie im Zaum zu halten", sagt die Mutter, "aber wenn ich merke, dass die Psyche unter der fehlenden Bewegung leidet, lasse ich sie. Ein Knochenbruch heilt in wenigen Wochen, die Traurigkeit bleibt lΓ€nger."
Die Jungen leiden an einer schweren Form der OI. Sie sind auΓerdem Bluter, Allergiker und Asthmatiker. Alle haben Arthritis. Maike verbringt viel Zeit bei Γrzten und Physiotherapeuten, in Spezialkliniken und Apotheken. Wenn sie nicht gerade als Tagesmutter vier weitere Kinder betreut, sich um eines ihrer fΓΌnf Patenkinder kΓΌmmert oder Schwimmunterricht fΓΌr Behinderte gibt. Sie backt auch Kuchen fΓΌr KindergartenflohmΓ€rkte, ΓΌbernimmt Fahrdienste und engagiert sich im Bundesverband Rehabilitation (BDH) fΓΌr Menschen mit Behinderung.
Behinderten Pflegekindern ein schΓΆnes Zuhause bieten
Vor allem aber ist sie da fΓΌr Joel. Der DreijΓ€hrige wurde ihr im SΓ€uglingsalter als hochgradig geistig und kΓΆrperlich behindert ΓΌbergeben, er hatte keinen Saugreflex und musste ΓΌber eine Sonde ernΓ€hrt werden. Dass er heute in der KΓΌche steht und Witze reiΓt, ist ein kleines Wunder. "Viele Pflegeeltern wollen keine kranken Kinder, wir haben uns bewusst dafΓΌr entschieden, weil sie doch auch ein schΓΆnes Zuhause brauchen."
Zu dem "wir" gehΓΆrt Ehemann Michael, von dem Maike seit einigen Monaten getrennt lebt, der sich aber weiter mit um die Kinder kΓΌmmert. Die beiden haben noch zwei TΓΆchter, die 21-jΓ€hrige Jessica, die in der Ausbildung ist und nicht mehr zu Hause wohnt, und die 13-jΓ€hrige Jennifer, ein bildhΓΌbscher Teenager, der ohne Murren der Mutter zur Hand geht.
"Man wΓ€chst da so rein"
Jessicas Zwillingsschwester starb noch im Mutterleib, Maike trauerte lange ΓΌber den Verlust. SpΓ€ter, als sie mit den BehΓΆrden um ZuschΓΌsse oder bei Banken um einen Kredit fΓΌr einen behindertengerechten Transporter kΓ€mpfte, erkrankte sie selbst schwer, rappelte sich wieder auf und machte unverdrossen weiter.
Maike macht, dass man sich schΓ€mt, ΓΌber das eigene StΓΆhnen und Jammern auf hohem Niveau. Sie selbst winkt ab: "Es kommt ja nicht alles auf einmal", sagt sie auf die Frage, wie sie all die SchicksalsschlΓ€ge ΓΌberstanden hat. "Man wΓ€chst da so rein."
"Reinwachsen" musste die 42-JΓ€hrige in so einiges. Meeresbiologin wollte sie mal werden - doch der Vater opponierte. Das Geld war knapp, wer brauchte schon Abitur? Maike machte den Realschulabschluss und wurde Schwimmmeisterin, leitete ein SpaΓbad in Baden-WΓΌrttemberg. SpΓ€ter lieΓ sie sich zur Erzieherin umschulen. Weil Tochter Jennifer Neurodermitis hat, zog die Familie an die Ostsee.
"NatΓΌrlich hadere ich manchmal mit mir, frage mich, was ich wohl verbrochen habe, dass es uns so getroffen hat. Aber rumsitzen und heulen bringt uns nicht weiter", sagt Maike. Kein einziges Kind wΓΌrde sie hergeben wollen, Probleme hin oder her. "Es ist auch nicht mehr so bitter wie frΓΌher, mein Berg ist schon halb abgetragen. Wenn heute der Arzt sagt, es ist so weit, ihr Sohn muss ab jetzt im Rollstuhl in den Kindergarten, dann nehmen wir es mit Humor und freuen uns, dass wir keine Kita-GebΓΌhr mehr zahlen mΓΌssen."
"Es hat einen Sinn, dass ich all das erlebe"
Ihr Umfeld schwankt zwischen Skepsis, stummer Bewunderung und fassungsloser Hochachtung. "Wie schafft sie das?", fragt sich fast jeder, der Maike Borkowski jemals einen Tag lang in Aktion verfolgt hat.
"Ich bin zwar keine besonders gute KirchgΓ€ngerin - aber sehr tief verwurzelt im christlichen Glauben", sagt die sechsfache Mutter. Ihr GroΓvater lief immer mit ihr durch den Wald, zeigte ihr "wie schΓΆn der liebe Gott die BΓ€ume hat wachsen lassen". SpΓ€ter zweifelte sie an der SchΓΆpfungsgeschichte, der liebe Gott aber blieb. "Ich bin fest davon ΓΌberzeugt, dass man NΓ€chstenliebe leben muss", sagt sie. "Ich glaube, es hat einen Sinn, dass ich all das erlebe. Ich soll meine Erfahrungen, auch meinen Schmerz, mit anderen teilen. Manchmal kann ich dadurch helfen, das macht mich sehr froh."
NatΓΌrlich gibt es auch kritische Stimmen. Wieso sie denn bitte noch mehr Kinder bekommen musste, als schon klar gewesen sei, dass der erste Junge so schwer krank ist, fragen einige bissig. Denen muss Maike dann erklΓ€ren, dass es Jahre gedauert hat, bis sie eine erste Diagnose hatten, da waren die beiden anderen Jungs schon auf der Welt. Und selbst wenn sie es gewusst hΓ€tte - die Kinder hΓ€tte sie natΓΌrlich trotzdem bekommen.
Das "Wir-sind-nicht-zustΓ€ndig-Mantra" der BehΓΆrden setzt ihr zu
"Wenn ich solchen Leuten erzΓ€hle, von welchen GehΓ€ltern wir leben und wie wir uns durchschlagen, dann halten sie meist schnell den Mund", sagt Maike. Obwohl beide Elternteile berufstΓ€tig und stolz darauf sind, dass sie es allein schaffen, wird es mitunter knapp im Hause Borkowski. Deshalb muss Maikes groΓer Traum, ein Kinderhotel fΓΌr Behinderte und Nicht-Behinderte, warten, bis sie im Lotto gewinnt. "Wirklich arm ist nur, wer keine Phantasie und keine Freunde hat", sagt sie.
Ohne ihr Netzwerk von WeggefΓ€hrten und Bekannten wΓΌrde gar nichts funktionieren. "Es ist ein groΓes GlΓΌck, dass diese Menschen meinen Weg gekreuzt haben. Wir sind so gut verzahnt, dass ich mir keine FreirΓ€ume erkΓ€mpfen muss." Was denn passiere, wenn sie krank, traurig oder erschΓΆpft sei? Borkowski zieht irritiert die Stirn in Falten: "Das kommt eigentlich selten vor", sagt sie. "Und wenn doch, dann mach ich halt weniger."
Maike wird selten wΓΌtend. HΓΆchstens, wenn ihre Kinder fluchen. Oder wenn sie wieder mal um Dinge betteln muss, die ihr zustehen. Das "Wir-sind-nicht-zustΓ€ndig-Mantra" der BehΓΆrden setzt ihr zu. Auch die Ungeduld und Respektlosigkeit gegenΓΌber gehandicapten Menschen nervt sie immer wieder: "Alle reden ΓΌber Inklusion von Menschen mit Behinderungen - dabei klappt es doch noch nicht einmal mit der Integration."
Ist Borkowski ein besonders zuversichtlicher Mensch? "NatΓΌrlich, das muss ich sein, sonst wΓΌrde unser Schiff sinken. Aber ich wΓΌrde auch untergehen ohne meine Kinder."