Geburt ohne Erinnerung
Ein Kaiserschnitt ist eigentlich ein medizinischer Segen. Denn er kann bei unerwarteten Geburtskomplikationen Leben retten. Dennoch kΓ€mpfen viele Frauen lange mit den Folgen einer solchen Operation - besonders, wenn eine Vollnarkose verhindert, dass sie die Geburt bewusst miterleben.
Jedes dritte Baby wird heute in Deutschland durch einen Kaiserschnitt entbunden. Meistens wird vor diesem Eingriff eine RΓΌckenmarksanΓ€sthesie durchgefΓΌhrt, so dass die Mutter wach bleibt. Dann kΓΆnnen die werdenden Eltern gemeinsam die Geburt miterleben und ihr Kind sofort im Arm halten.
SekundΓ€rer Kaiserschnitt raubt das Geburtserlebnis
Treten jedoch wΓ€hrend eines anfΓ€nglich normalen Geburtsverlaufs schwerwiegende Komplikationen auf, bleibt oftmals nur der Kaiserschnitt mit Vollnarkose, ein sogenannter sekundΓ€rer Kaiserschnitt.
"In seltenen FΓ€llen kommt es auch vor", erlΓ€utert die DiplompΓ€dagogin Heinrike Pfohl vom Verein Kaiserschnittstelle in Hannover, "dass sich Frauen ausdrΓΌcklich einen solchen Eingriff wΓΌnschen, weil sie sich bei einer RΓΌckenmarksanΓ€sthesie nicht vorstellen kΓΆnnen, im wachen Zustand 'bei lebendigem Leibβ aufgeschnitten zu werden."
EnttΓ€uscht, kraftlos und traumatisiert
Andrea aus Frankfurt hat den Kaiserschnitt mit Vollnarkose vor fast 20 Jahren erleben mΓΌssen, als die Geburt ihres ersten Sohnes nach zehn Stunden Wehen keinen Fortschritt mehr machte. "Dann musste alles sehr schnell gehen", erinnert sie sich, "weil bei unserem Baby die Gefahr bestand, dass es zu wenig Sauerstoff bekam." Was sie damals erlebte, beschΓ€ftigt Andrea bis heute, zumal ihre Tochter zwei Jahre spΓ€ter ebenfalls per Kaiserschnitt geboren wurde. "Ich bedaure sehr, dass ich es nicht geschafft habe, auf normalem Weg zu entbinden und dass bei mir fΓΌr die entscheidenden Minuten ein Blackout besteht. Das macht mich bis heute traurig.β
Eine solche Reaktion sei typisch, sagt DiplompΓ€dagogin Pfohl, die sich seit 2008 gemeinsam mit drei Kolleginnen in der Hannoverischen Initiative um betroffene MΓΌtter kΓΌmmert. "Die Frauen, die bei uns UnterstΓΌtzung suchen, empfinden eine Kaiserschnittgeburt als traumatisch und enttΓ€uschend - ganz besonders, wenn eine Vollnarkose gemacht wurde. Vorherrschend ist bei vielen dann das GefΓΌhl, als Frau versagt zu haben, weil sie nicht aus eigener Kraft ihrem Kind auf die Welt helfen konnten. Diese Kraftlosigkeit zeigt sich hΓ€ufig noch Monate nach der Geburt durch kΓΆrperliche SchwΓ€che. Das seelische Problem spiegelt sich so gewissermaΓen im Physischen wieder."
Ohnmacht und Blackout
GroΓen Leidensdruck bereitet MΓΌttern aber auch, den Geburtsmoment und die ersten Stunden mit ihrem Baby nicht erlebt zu haben. Unwiederbringliche Augenblicke wie der erste enge KΓΆrperkontakt sind verloren und kΓΆnnen nicht mehr nachgeholt werden.
Einsam im Aufwachraum
Hinzu kΓ€me danach die belastende Situation im Aufwachraum. In zahlreichen Kliniken seien die MΓΌtter nΓ€mlich, wie nach einer normalen OP, erst einmal sich selbst ΓΌberlassen. Niemand sei da, der ihnen berichten kann, was passiert ist. Der Partner kΓΌmmere sich meist gerade um das Baby. "Bei vielen lΓΆst diese Ungewissheit nicht nur ein GefΓΌhl der Angst, sondern auch der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins aus. Die MΓΌtter registrieren zwar, dass das Baby nicht mehr im Bauch ist, sie wissen aber nicht, ob es ihrem Kind ΓΌberhaupt gut geht und wie es aussieht."
Die Heultage halten an
Auch die Tage nach dem Kaiserschnitt im Krankenhaus belasten die frisch Operierten sowohl kΓΆrperlich als auch psychisch: Sie sind schlapp und haben Schmerzen und kΓΆnnen sich aus diesem Grund nicht selbststΓ€ndig um ihr Baby kΓΌmmern.
Hinzu kommt, dass das Stillen hΓ€ufig erschwert oder zumindest verzΓΆgert anlΓ€uft: Der hormonell initiierte Milcheinschuss setzt nΓ€mlich spΓ€ter ein, weil die Mutter ihr Neugeborenes nicht sofort sehen konnte. Und die Babys sind oftmals zu kraftlos zum Saugen, weil auch an ihnen die Narkose meist nicht spurlos vorΓΌber gegangen ist.
Fremdeln mit dem eigenen Baby
Aufgrund solcher Probleme gelingt es vielen Kaiserschnitt-GebΓ€renden in den ersten Tagen nicht, unbeschwert ihr Baby zu genieΓen. "Etliche MΓΌtter haben sogar Schwierigkeiten zu glauben, dass es wirklich ihr Kind ist. Sie wissen zwar rational, dass es sich um ihr Fleisch und Blut handelt, aber diese Tatsache deckt sich nicht mit ihren GefΓΌhlenβ, sagt Pfohl.
Befeuert werde das Fremdeln noch zusΓ€tzlich, wenn die Neugeborenen ihren MΓΌttern bei der ersten Begegnung nicht nackt, sondern frisch gebadet und angezogen prΓ€sentiert wΓΌrden. Der erste bindende Hautkontakt, wie nach einer natΓΌrlichen Entbindung, fehle damit.
GroΓe seelische Narben
Wie groΓ ihre "Narben" wirklich sind, wird vielen MΓΌtter oft erst Wochen oder sogar Jahre nach der Geburt bewusst. Manche wenden sich aber bereits wenige Tage nach der OP hilfesuchend an Initiativen wie die Kaiserschnittstelle, um aus ihrem emotionalen Tief wieder herauszufinden. Manifestiert hat sich bis dahin bei den meisten das GefΓΌhl, keine vollwertige Frau zu sein und als Mutter versagt zu haben, erzΓ€hlt Therapeutin Pfohl. Bei einigen sei es aber auch nur ein anhaltendes, vages Unwohlsein, das sie nicht konkret zuordnen kΓΆnnten.
Die seelische Not nach Kaiserschnitt-Trauma ΓΌberwinden
Wie aber kann MΓΌttern, die sich um das Geburtserlebnis betrogen fΓΌhlen, geholfen werden? "Viele solcher traumatisierten Frauen haben ein groΓes BedΓΌrfnis zu verstehen, warum sie sich so schlecht fΓΌhlen und warum sie im Vertrauen zu sich selbst, aber auch zu den Γrzten und zum Partner so erschΓΌttert sind. Da stΓ€rkt es am meisten, wenn ΓΌber das Erlebte beziehungsweise Nichterlebte gesprochen werden kann. Es hilft ihnen, den Ablauf der OP nochmal - etwa mit der verantwortlichen Hebamme - ausfΓΌhrlich zu analysieren und sich zudem die GrΓΌnde fΓΌr den Eingriff bewusst zu machen."
Alle erwarten eine glΓΌckliche Mutter
Eine wertvolle UnterstΓΌtzung bei der Verarbeitung des Kaiserschnitt-Traumas sei auΓerdem, so der Rat der Expertin, sich mit anderen betroffenen MΓΌttern auszutauschen. Die Frauen stieΓen nΓ€mlich sonst in ihrem sozialen Umfeld hΓ€ufig auf UnverstΓ€ndnis. Die gesellschaftliche Erwartungshaltung gehe davon aus, dass ein frisch gebackene Mutter, die ein gesundes Baby zur Welt gebracht hat, eigentlich glΓΌcklich und dankbar sein mΓΌsste.
Erinnerungsfotos und Videos von der Entbindung, wie es sich MΓΌtter manchmal wΓΌnschen, kΓΆnnten hier zusΓ€tzlich gute Dienste leisten. Doch diese Option bleibt wohl eher theoretisch. Denn ein Vollnarkose-Kaiserschnitt ergibt sich fast immer aus einer Notsituation, in der das Helferteam keine Zeit hat, den Geburtsmoment bildlich zu verewigen, genauso wenig wie der Vater des Babys. Er darf wΓ€hrend der Operation nΓ€mlich nicht dabei sein.
"Bounding-Bad" mit Tiefenwirkung
Als Balsam fΓΌr die mΓΌtterlichen Seelen hat sich dagegen schon tausendfach ein Baderitual bewΓ€hrt, das die Schweizer Hebamme Brigitte Meissner entwickelt hat. Dabei ist die Grundidee, einen natΓΌrlichen Geburtsverlauf in einer heimeligen, vertrauten Umgebung zu wiederholen, indem das Baby gebadet wird und dann der Mutter nass und nackt auf die Brust gelegt wird. Diese intensiven Kuscheleinheiten mit viel Zeit und Ruhe schaffen nicht nur grΓΆΓte Verbundenheit zwischen Mutter und Kind, sondern versΓΆhnen die Frauen zumeist auch ein StΓΌck weit mit der Kaiserschnitt-Entbindung.
Auch der Blick nach vorne sollte bei der BewΓ€ltigung der belastenden Erfahrungen nicht auΓer Acht gelassen werden. Denn Schmerz und Γngste kΓΆnnten weiterhin die gesamte Phase der Familienplanung ΓΌberschatten, betont die Expertin. Deshalb sei es ratsam, vor einer weiteren Schwangerschaft selbstbewusst und zuversichtlich einen Wunsch-Fahrplan fΓΌr eine kommende Geburt zu entwickeln, um sich nicht schon im Vorfeld selbst zu blockieren. "Ganz wichtig ist dabei, dass MΓΌttern die Angst vor dem Mythos 'Einmal Kaiserschnitt- immer Kaiserschnitt' genommen wird. Das ist nΓ€mlich eine MΓ€r, die leider immer noch kultiviert wird. Wenn keine zwingenden medizinischen GrΓΌnde vorliegen, kann eine Frau sehr wohl weiterhin Kinder auf natΓΌrlichem Weg zur Welt bringen.β