Weihnachten 1990: So erlebte der Osten dieses Fest
Das Wetter war damals wie immer an den Feiertagen: schmuddelig und grau. Und doch war diese Weihnacht fĂŒr Ostdeutsche etwas Neues â ohne Westpaket, aber mit Plastikbaum. Wissen Sie noch?
Fast jeder Ostdeutsche erinnert sich daran, was er am 9. November 1989 gemacht hat. Vielleicht auch noch, wie er den ersten Tag der Deutschen Einheit verbrachte. Aber das Weihnachtsfest 1990 â vor ĂŒber 30 Jahren? Das haben vermutlich die wenigsten im GedĂ€chtnis.
Dabei sitzen Ost und West damals zum ersten Mal wieder friedlich vereint unterm Tannenbaum. Nach 40 Jahren Trennung. Die Ex-DDR-BĂŒrger mĂŒssen diesmal nicht mehr sehnsĂŒchtig auf das West-Paket warten. Mit seinem unvergleichlichen Duft â einer Mischung aus Kaffee, Kaugummi und Seife â, der untrennbar mit dem Weihnachtsfest verbunden war. Wohl dem, der West-Verwandte hatte.
Jetzt sitzen die Ostdeutschen selber im Westen. Trotzdem sind die Brief- und Paketberge vor den Festtagen 1990 nicht etwa kleiner geworden, sondern gröĂer als in den vorherigen Jahren. Schuld sind aber nicht die Privatsendungen von drĂŒben, sondern die Flut der westdeutschen Versandhauspakete in die neuen BundeslĂ€nder.
Dagegen ist die Zahl der Privatbriefe zwischen Ost und West und umgekehrt rĂŒcklĂ€ufig. Vielleicht telefoniert man jetzt mehr, vielleicht hat man sich auch weniger zu sagen.
Ostdeutsche geben 1,5 Milliarden D-Mark aus
DafĂŒr sind die Ostdeutschen in Konsumlaune. Nicht nur, was die Bestellungen im Versandhandel, auch was die EinkĂ€ufe in den InnenstĂ€dten betrifft. Wer mag es ihnen nach 40 Jahren Mangelwirtschaft verĂŒbeln. Der Hauptverband des Deutschen Einzelhandels (HDE) spricht 1990 gar von einem Weihnachtsrekordumsatz. Allein in den neuen BundeslĂ€ndern seien rund 1,5 Milliarden D-Mark ausgegeben worden.
Das ist zwar nur ein Bruchteil im Vergleich mit den alten BundeslĂ€ndern (25,5 Milliarden), aber durchschnittlich flössen 15 Prozent mehr Umsatz in die Kassen als im Vorjahr, besagt eine bundesweite dpa-Umfrage am letzten langen Samstag vor Weihnachten. Der damalige GeschĂ€ftsfĂŒhrer der West-Berliner Karstadt-Filiale an der Wilmersdorfer StraĂe, Michael Senger, schwĂ€rmt geradezu von seiner "Ostkundschaft" aus Brandenburg und Ost-Berlin, die zu 60 Prozent zum Wachstum beitrage.
KĂŒnstliche WeihnachtsbĂ€ume statt "KrĂŒcken"
Die Verkaufsrenner sind neben Schallplatten, Spielzeug, Unterhaltungselektronik und SĂŒĂwaren vor allem kĂŒnstliche WeihnachtsbĂ€ume, die man alljĂ€hrlich wiederverwenden kann. Dazu muss man wissen, dass in der DDR â um den Plan zu erfĂŒllen â viele sogenannte "KrĂŒcken" in den Forsten geschlagen wurden. Das waren zum Beispiel krumme Kiefern oder sehr, sehr lichte Fichten, die zwar gut rochen, aber nur wenige Ăste hatten.
Doch der praktisch veranlagte DDR-BĂŒrger wusste sich zu helfen: Damit der Weihnachtsbaum etwas voller aussah, wurden kleine Löcher in den Stamm gebohrt, um darin zusĂ€tzliche Ăste zu befestigen. Das Lametta aus dem Volkseigenen Betrieb (VEB) ThĂŒringer Glasschmuck Lauscha sorgte fĂŒr den Rest.
Freilich waren die staatlich subventionierten WeihnachtsbĂ€ume gĂŒnstig. Einen 3-Meter-Baum gab es fĂŒr unter zehn DDR-Mark. Im Dezember 1990 liegt der Preis je laufender Meter Fichte im Durchschnitt allerdings bei stattlichen acht bis zehn D-Mark. Viele Ostdeutsche winken ab â und kaufen sich einen Plastiktannenbaum.
Go West ⊠auf den Goslarer Weihnachtsmarkt
Viel lieber geben sie ihr Geld fĂŒrs Reisen aus. Go West heiĂt die Devise. Auch in der Vorweihnachtszeit 1990. Denn die neuen BundeslĂ€nder sind so kurz nach der Wiedervereinigung noch ziemlich trist. Eher graue als blĂŒhende Landschaften.
Sören Marotz, heute Ausstellungsleiter im Berliner DDR Museum, erinnert sich an eine Busfahrt mit seinen Eltern. Am Samstag vor dem 2. Advent geht es fĂŒr einen Tag von Ost-Berlin ins niedersĂ€chsische Goslar auf den Weihnachtsmarkt. Hier verwandelt sich der Marktplatz in eine romantische Budenstadt. Die Hin- und RĂŒckfahrt pro Person kostet 30 D-Mark.
In der frĂŒheren Hauptstadt der DDR gibt es zwar auch ein paar WeihnachtsmĂ€rkte, doch hier, kurz hinter der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze ist alles eine Nummer schöner, bunter, glitzernder. Und auch der GlĂŒhwein schmeckt irgendwie sĂŒĂer. Dem damals 17-jĂ€hrigen Elektromechaniker-Lehrling aus Pankow gefĂ€llt's.
Traditionen werden aber weiterhin gepflegt. So lauscht Familie Marotz Johann Sebastian Bachs "Weihnachtsoratorium" in der Evangelischen Hoffnungskirche in Pankow. Wie jedes Jahr.
Info
Die Sammlung des DDR Museums unweit der Berliner Museumsinsel umfasst ĂŒber 300.000 Objekte. In einer Online-Datenbank können Sie sich 13.000 davon anschauen â auch zum Thema "Weihnachten": von "wittol"-Baumkerzen ĂŒber Lauschaer Weihnachtsbaumschmuck bis hin zu Lametta.
"Zwischen FrĂŒhstĂŒck und GĂ€nsebraten" im Ersten
Und 1990 lĂ€uft im TV wie immer am Vormittag des 25. Dezember â mittlerweile zum 34. Mal â die ostdeutsche Weihnachtsshow "Zwischen FrĂŒhstĂŒck und GĂ€nsebraten". Diesmal allerdings nicht im DDR-Fernsehen, das sich mittlerweile in Deutscher Fernsehfunk (DFF) umbenannt hat, sondern im Ersten. Mit dabei wie immer die Kultmoderatoren der DDR: Margot Ebert und Heinz Quermann. Beide prĂ€sentieren, wie es damals hieĂ, einen "bunten Weihnachtsteller mit Humor und Musik".
Quermanns Tochter Petra erinnert sich, dass ihr Vater damals mit dem neuen Sendeplatz ARD erst nicht einverstanden war. "Er wollte sein Stammpublikum beim DFF nicht im Stich lassen", sagt die heute 62-JĂ€hrige, die seit ĂŒber zehn Jahren mit einem Erinnerungsprogramm durchs Land tourt. Dass "Zwischen FrĂŒhstĂŒck und GĂ€nsebraten", wie oft behauptet wird, abgewickelt wurde, stimmt ĂŒbrigens auch nicht. "Mein Vater hatte bereits 1986 â nach der 30. Sendung â entschieden, dass 1991 Schluss sein sollte", sagt Petra Quermann. So kam es dann auch.
TV-Tipp
Der MDR zeigt am 25. Dezember 2021 (Erster Weihnachtstag) zwei Ausgaben von "Zwischen FrĂŒhstĂŒck und GĂ€nsebraten": Ab 9.15 Uhr die TV-Sendung aus dem Jahr 1982 mit Herbert Roth, Costa Cordalis und Helga Brauer. Und ab 10.55 Uhr die letzte Ausgabe der Show von 1991 mit Stefanie Hertel, Karel Gott sowie Monika Hauff & Klaus-Dieter Henkler.
"König Phantasios" statt "Drei HaselnĂŒsse fĂŒr Aschenbrödel"
Auf dem ursprĂŒnglichen Sendeplatz der TV-Show zeigt der DFF einen MĂ€rchenfilm. Aber nicht etwa den Klassiker "Drei HaselnĂŒsse fĂŒr Aschenbrödel", sondern einen der letzten DDR-MĂ€rchenfilme: "König Phantasios". Die satirische MĂ€rchenkomödie erzĂ€hlt ĂŒber einen versponnenen Prinzen, der Herrscher ĂŒber ein heruntergewirtschaftetes Land werden soll, das nur noch ein Wunder retten kann.
Auch in der RealitĂ€t hoffen viele Ostdeutsche auf ein Wunder. Nachdem am 1. Juli 1990 die D-Mark eingefĂŒhrt wurde, geht es mit der Wirtschaft in den neuen BundeslĂ€ndern stetig und bestĂ€ndig bergab. Die ehemaligen DDR-Betriebe mĂŒssen sich jetzt in der Marktwirtschaft bewĂ€hren und plötzlich der globalen Konkurrenz stellen. Viele gehen pleite. Die Arbeitslosenzahlen steigen.
Pulsnitzer Pfefferkuchen: Erst BĂŒckware, dann LadenhĂŒter?
Ostdeutsche Traditionsprodukte, wie zum Beispiel die in der DDR bekannten Pulsnitzer Pfefferkuchen, stehen nun im harten Wettbewerb mit Lebkuchenfabrikanten aus NĂŒrnberg und Aachen. In der Vergangenheit waren die Pfefferkuchen aus dem Erzgebirge BĂŒckware wie Trabant-Auspuffe oder Lizenz-Schallplatten. Jetzt ist die Absatzlage schwierig. Die Ex-DDR-Kunden probieren 1990 eher neue Produkte aus, die sie jahrelang nicht kaufen konnten. Und die westdeutschen Handelsketten setzen auf Artikel aus den alten BundeslĂ€ndern.
BundesprÀsident Richard von WeizsÀcker geht in seiner Weihnachtsansprache 1990 auf diese und jene "handfesten Sorgen" der Ostdeutschen ein. Hier gebe "es Unsicherheit um die Ausbildung, die 'Abwicklung', den Arbeitsplatz und das Eigentum, um NotstÀnde in der Pflege, um die Alten und die Kinder."
Auch ĂŒber 30 Jahre spĂ€ter sind manche Sorgen noch da. Doch Weihnachten ist ein guter Zeitpunkt, um innezuhalten â und sich an jenes Fest zu erinnern, an dem Ost und West wieder vereint unterm Tannenbaum saĂen.