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Was die Menschen in Polen über das EU-Verfahren denken


Zerrüttetes Verhältnis
Was die Menschen in Polen über das EU-Verfahren denken

Jens Mattern

Aktualisiert am 22.12.2017Lesedauer: 5 Min.
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Der Schlossplatz in Warschau: Viele Polen sind verärgert über das EU-Verfahren gegen ihr Land.Vergrößern des Bildes
Der Schlossplatz in Warschau: Viele Polen sind verärgert über das EU-Verfahren gegen ihr Land. (Quelle: imago-images-bilder)

Die EU hat ein Strafverfahren gegen Polen eingeleitet – ein beispielloser Vorgang. Auf den Straßen von Warschau ist der Unmut über die Entscheidung allgegenwärtig. Ein Streifzug.

Warschau, Arbeiterviertel Praga: nasser Schnee fegt über die Solidarnosc-Allee; viele ältere Menschen warten im Unterstand der Haltestelle auf ihre Straßenbahn. Eine Frau mit weißer Pudelmütze und Nordic-Walkingstöcken hilft dem Reporter: „Sie fahren mit mir und steigen dann gleich bei der nächsten Station aus.“ Die Freundlichkeit weicht, als die Sprache auf die angekündigten Sanktionen der EU-Kommission gegen Polen kommt.

„Schweinerei!“ sagt Irena Kolszyszka laut, die bereitwillig ihren Namen und ihre politischen Ansichten mitteilt. „Die Deutschen wollen doch nur Polen runterkriegen“. Andere ältere Damen ringsum nicken bestätigend.
Auf den Hinweis, dass doch Brüssel die Entscheidung getroffen habe, meint sie „Deutschland, Europäische Union, das steckt alles zusammen.“ Man wolle bei Polen überall hineinreden.“ Andere Länder haben doch auch eine solche Justiz“ meint eine Frau mit einem dunkelblauen Schachtelhut. Die Diskussion weitet sich aus. „Was habt ihr denn gegen 500+?“ (Das neue Kindergeld, das nicht Gegenstand der EU-Maßnahmen ist, Anm. d. Red.)

Vom Musterschüler zum Klassenletzten

Frau Kolszyszka führt das Wort. Polen brauche eine funktionierende Justiz, die Prozesse würden sich derzeit über zehn Jahr weg ziehen, die Gerichte seien postkommunistisch geprägt, darüber habe sie zwei Bücher gelesen.
Ihr Mann Ryszard sei wegen seiner Solidarnosc-Aktivitäten anderthalb Jahre im Gefängnis gesessen. In der Straßenbahn verweist die ehemalige Hochschullehrerin noch laustark auf ihr Alter, 75 Jahre, und ihr Sohn sei 49, genauso wie Mateusz Morawiecki, der neue Premierminister. „Ich war vierzig Jahre in der Opposition, doch das ist meine Regierung!“

Aus Sicht der EU-Kommission hat sich diese Regierung jedoch vom europäischen Musterschüler zum Klassenletzten gewandelt, dem nun die Strafbank zugewiesen wurde: da die Behörde durch Justizreformen die Rechtssicherheit in Gefahr sah, eröffnete sie am Mittwoch mit Artikel 7 erstmals in der Geschichte der EU ein Sanktionsprozedere, das zum Stimmverlust im Staatenbund führen kann. Zwei umstrittene Gesetzesnovellen, die der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) faktisch die Kontrolle über die Gerichtsbarkeit verleihen liegen dem Staatspräsidenten Andrzej Duda vor, er wird sie demnächst unterschreiben.

Das Bürgertum fürchtet den Verlust von Freiheiten

Die nationalkonservative Regierung scheint Polen in vielen Fragen zu teilen. Auf dem strukturschwachen Land ist man froh über das Kindergeld, das Senken des Rentenalters, Wohnungsbauprojekte, die von Parteichef Jaroslaw Kaczynski entworfen wurden. In den Städten fürchtet das Bürgertum den Verlust von Freiheiten. Auch die eher liberal geprägte Hauptstadt hat ihre Gebiete, wo die PiS dominiert. Wie Praga, östlich der Weichsel, verdienen die Menschen deutlich weniger, so auch der Verkäufer von Mistel- und Tannenzweigen mit der gebrochenen Nase, der keine große Scheine wechseln kann und sich zur großen Politik nicht äußern will: „Meine Meinung ändert doch sowieso nichts.“

In dem besser gestellten Stadteil Ursynow hat sich der Niederschlag in Schneeregen gewandelt, Wanda K. trägte eine Flugtasche, einen eleganten Poncho und wartet auf den Bus. „Es war ein wichtiger Schritt“ kommentiert die Coaching-Unternehmerin die Entscheidung in Brüssel. Vielleicht ändere sich ja die Stimmung im Land. Einen "Polexit" hält die Mittvierzigerin jedoch für ein Risiko, das sie nicht ausschließen kann. Doch es müsse etwas geschehen, sie fürchte vor allem, dass Justizminister Zbigniew Ziobro eine zu große Macht bekomme. Der Politiker, gleichzeitig Generalstaatsanwalt, wird nach der Reform den Landesgerichtsrat und das Oberste Gericht mit seinen Leuten besetzen sowie mit einer Disziplinarkammer andere Juristen kontrollieren können.

Zum Glück keine PiS-Anhänger in der Verwandtschaft

„Die Veränderungen haben gar nichts gebracht, das ist doch das Gleiche“, meint ein älterer Herr auf der Wartebank, der keinerlei Angaben zu sich preisgeben will. Der Mann spielt auf die Korrekturen des Staatspräsidenten Andrzej Duda an, die in die zwei Gesetzesnovellen aufgenommen wurden. Duda hatte die Entwürfe der PiS im Juli mit einem Veto gestoppt, die aktuelle Version enthält nun seine Korrekturwünsche.

Eine gewisse Vorischt scheint an dieser Bushaltestelle vor Polens erstem Multikino zu herrschen, weitere Angaben zur Person will niemand machen. In ausländischen Medien mag niemand kenntlich erscheinen. „Ich schreibe auf Facebook zu meinen politischen Ansichten“, räumt Wanda K. ein, das könne sie auch Klienten kosten. Zum Glück seien in ihrer Verwandtschaft niemand auf Seiten der PiS, darum gebe es entspannte Weihnachten, doch bei ihren Bekannten werde dies anders. Da gebe es dann „fürchterliche Auseinandersetzungen“.

Mehr als 90 Prozent der Polen sind katholisch

„Polen gerät ins Hintertreffen“, sagt ein älterer Herr, der sich in der U-Bahn ansprechen lässt. Stanislaw S. meint, dass sich Polen an die Regeln der EU zu halten habe. Die PiS habe als Partei nicht viel zu sagen, die Kirche regiere mittlerweile das Land und dort vor allem Tadeusz Rydzyk, der Gründer und Chef des Medienimperiums „Radio Maryja“. In der Stadt ginge das noch, doch auf dem Land habe der Priester das Sagen. „Die fahren dort die dicken Schlitten“, so der pensionierte Ingenieur, der bekennt, dass es ihm im Kommunismus damals nicht so schlecht gegangen sei. Er gehört zu den mittlerweile wenigen Wählern, die das „Bündnis Linksallianz“ (SLD) wählen – er sei aber als Kind Ministrant gewesen. „Ich kenne mich mit der Kirche aus", meint er vielsagend.

Doch das können viele behaupten. Mehr als 90 Prozent der Bevölkerung gehören der katholischen Kirche an. In einer neuen Backsteinkirche in Ursynow stehen auch am Abend einige Gläubigen zur Beichte an. Vor dem Kirchentor liegt ein kleiner Shop, in dem Michal im Kapuzenpulli religiöse Zeitschriften, Rosenkränze und Ikonen verkauft und die Stimme erhebt, als er auf die EU-Kommission angesprochen wird. „Was ich dazu meine? Als Pole, Katholik und Patriot sage ich, dass Polen Europa gerettet hat!“ Dann führt der Mittdreißiger durch die Geschichte und erinnert zum Beispiel an die Rettung Wiens vor den Türken 1683 durch den polnischen König Jan Sobieski und an den Sieg der jungen polnischen Republik gegen die Sowjets1920 vor Warschau.

Europa soll sich an Polen orientieren

Eine ältere Frau mischt sich ein: „Genau! Und wir haben jetzt Feinde im Inneren, die die Wahl verloren haben und dann versuchen, uns zu schaden!“ Gemeint ist die ehemalige konservativ-liberale Regierungspartei „Bürgerplattform“ (PO). Diese würde Polen nun in Brüssel denunzieren, so die Shopbesucherin mit Namen Zofia. Sie wiederholt so den klassischen Vorwurf der PiS gegen die PO, die von der Regierungspartei als Verräter gebrandmarkt wird, da sie teils das Vorgehen der EU-Kommission unterstützt.

„Es gab polnische Regierungen, die mehr ausländischen Einfluss zuließen, diese macht es anders“, sagt Verkäufer Michal. Polen habe über Jahrhunderte mit Schwierigkeiten zurecht kommen müssen, ganz ohne die EU. Europa müsse umdenken, sich an Polen orientieren. Mit welchem Recht mische sich Brüssel ein? Die Rechtsstaatlichkeit sei nicht in Gefahr. Nein, zu einem "Polexit" komme es nicht, wobei ihn diese Frage ein wenig leiser macht. „Nehmen sie doch unbedingt von diesen Karamelbonbons“ empfiehlt Frau Zofia. „Ehre sei Gott!‘ und „Frohe Weihnachten!“ rufen beide zum Abschied.

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