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Ende der Passionsspiele: "Mit 50 sollte man nicht mehr am Kreuz hängen"


"Mit 50 sollte man nicht mehr am Kreuz hängen"

Von Miriam Hollstein

02.10.2022Lesedauer: 4 Min.
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GERMANY-RELIGION/OBERAMMERGAUVergrößern des Bildes
Frederik Mayet mit Dornenkrone: Er ist einer der beiden Jesus-Darsteller bei den Passionsspielen. (Quelle: Lukas Barth/Reuters)

Im bayerischen Oberammergau enden die 42. Passionsspiele. Diesmal war das internationale Spektakel eine Art doppeltes Wunder.

Am Samstag hat Frederik Mayet zum letzten Mal am Kreuz gehangen. Zum letzten Mal ist der 42-Jährige mit nichts als einem Lendenschurz bekleidet in vier Metern Höhe gestorben und hat dann darauf geachtet, tief zu atmen und nicht zu zittern. Was bei einer Temperatur von 10 Grad nicht trivial ist. Aber schließlich hat der historische Jesus bei seinem Tod auch keinen Wollmantel getragen, der gegen die oberbayerische Herbstkälte schützen könnte.

Am Sonntag wird die Zweitbesetzung der Hauptrolle, Rochus Rückel, noch einmal ans Kreuz geschlagen. Ab Montag ist es vorbei mit den Passionsspielen in Oberammergau. Dann verwandelt sich Mayet, ein schlanker, sportlicher Mann mit offenem Gesicht, wieder in einen zweifachen Familienvater und Pressesprecher des Münchner Volkstheaters. Und Oberammergau von einer Freilichtbühne für das berühmteste Passionsspiel der Welt in einen 5.000-Einwohner-Ort.

International bekannt wurde dieser durch seine Tradition, alle zehn Jahre die Leidensgeschichte Christi aufzuführen. Seit 1634. Im Jahr zuvor hatte die Pest den Ort heimgesucht und rund ein Drittel der Bewohner hingerafft. In ihrer Verzweiflung legten die Überlebenden ein Gelübde ab: Wenn der Herrgott Oberammergau verschonen würde, würden sie alle zehn Jahre das Passionsspiel aufführen.

Ein Pakt mit dem Herrgott

Gott hat sich an die Vereinbarung gehalten, glaubt man der Legende. Die Oberammergauer auch. Seit 1643 spielen die Bewohnerinnen und Bewohner des Ortes regelmäßig die letzten fünf Tage im Leben Jesu nach. Nur zweimal war die Passion in der Vergangenheit ausgefallen: 1770 wurde die Aufführung in der Zeit der Aufklärung vorübergehend aus ideologischen Gründen verboten; 1940 fand sie wegen des Zweiten Weltkriegs nicht statt.

Im Frühjahr 2020 liefen die Vorbereitungen für die Premiere im Mai schon auf Hochtouren. Dann kam eine neue Seuche. Nur wenige Wochen vor der Premiere mussten die Oberammergauer ihr Spiel absagen. Eine Katastrophe, finanziell, aber auch emotional.

Dass das Spektakel nun zwei Jahre später trotzdem stattfinden konnte, ist das erste Wunder. Als im Januar im Ort die Proben wieder aufgenommen wurden, da kam auch der bayerische Gesundheitsminister vorbei und schüttelte den Kopf. Die Corona-Inzidenzen stiegen wieder rasant, bundesweit auf 1.156 pro 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen. Wie realistisch war da eine Aufführung mit bis zu 4.000 Zuschauern und Zuschauerinnen jeden Abend und das fünf Monate lang? Und selbst wenn sie stattfinden könnte: Wer würde in Zeiten der Pandemieangst, in der die Theater leer bleiben, kommen?

Als am 14. Mai die Passion Premiere feierte, da ging ein Aufatmen durch Oberammergau. Und die Menschen kamen. Nicht mehr ganz so viele aus dem Ausland wie früher, aber immer noch knapp die Hälfte. Die Lücken füllten mehr Besucher aus Deutschland. Über 410.000 Tickets wurden für die insgesamt 110 Vorstellungen verkauft, eine Auslastung von mehr als 90 Prozent. Keine einzige Aufführung musste abgesagt werden, auch wenn Corona regelmäßig Darsteller und Darstellerinnen ins Bett statt auf die Bühne zwang. Einmal mussten statt der beiden Kriminellen zwei Apostel neben Jesu gekreuzigt werden; die Darsteller der sogenannten Schächter, die eine Garderobe teilen, waren zeitgleich an Covid-19 erkrankt. Ein anderes Mal war Jesus beim letzten Abendmahl nicht von zwölf Aposteln umgeben. Aber es ging.

Nicht nur logistisch eine Meisterleistung

Das war das erste Wunder. Das zweite Wunder sind die Oberammergauer Passionsspiele an sich. Denn die sind logistisch eine Meisterleistung. Fast fünf Monate lang herrscht in den Passions-Jahren der Ausnahmezustand im Ort, muss dieser das Achtzigfache seiner üblichen Einwohnerzahl verkraften. Allein auf den Straßen muss fünfmal mehr Müll weggekehrt werden als außerhalb der Spielsaison.

Herausragend ist auch, was unter Leitung des Regisseurs Christian Stückl und dem Markus Zwink auf die große Freilichtbühne gebracht wird. Beide sind dafür verantwortlich, dass der alte Text und die musikalische Begleitung immer wieder neu interpretiert werden und nicht in der Schwere der Tradition ersticken. Fast 1.800 Oberammergauer und Oberammergauerinnen spielen und singen mit, fast alles Laiinnen und Laien, was, wenn überhaupt, nur in der einen oder anderen Nebenrolle spürbar ist. Jeden Tag gelingt es ihnen in der Spielzeit, sechs Stunden lang (mit einer dreistündigen Pause) das Publikum in den Bann einer über 2000 Jahre alten Geschichte zu ziehen.

Für die Einheimischen ist die Passion ein fester Bestandteil ihres Lebens. Mitmachen darf nur, wer seit 20 Jahren in Oberammergau lebt (Kinder ausgenommen), eine Regel, die Stückl gern abschaffen würde. Zumal es keine wirkliche Tradition ist, sondern erst 1960 eingeführt wurde (davor waren es zehn Jahre), um die Flüchtlinge aus den Ostgebieten vom Spiel fernzuhalten. Aber Änderungen werden in Oberammergau immer von Misstrauen und Widerstand begleitet, wie überall.

Wer mitspielt, muss dafür meist alles andere einschränken, sich von der Arbeit freinehmen oder die Stundenzahl reduzieren, Betreuung für die Kinder finden, wenn sie noch zu klein sind, um bei den Massenszenen auf der Bühne dabei zu sein. Die Männer dürfen sich ab Aschermittwoch die Haare und Bärte nicht mehr schneiden (außer sie spielen die Römer). Was nach der Passion zu vollen Friseursalons führt.

Das Ende der Spielzeit erlebe man immer mit "einem lachenden und einem weinenden Auge", sagt Jesus-Darsteller Frederik Mayet. Für ihn ist es eine doppelte Zäsur. Es war das letzte Mal, dass er als Jesus dabei war, den er bereits 2010 spielte. Dies, jeweils als Doppelbesetzung. "Mit 50 sollte man nicht mehr am Kreuz hängen", sagt Mayet über jenen Part, den er eine "Traumrolle" nennt. Dabei sein will er in acht Jahren aber auf alle Fälle wieder. Dann am liebsten auf der anderen Seite der Macht: als Hohepriester Kaiphas oder als römischer Statthalter Pontius Pilatus.

Verwendete Quellen
  • Besuch der Passionsspiele von Oberammergau
  • Interview mit Jesus-Darsteller Frederik Mayet
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