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Frankfurt: Richterin ließ psychisch Kranken frei – Opfer hofft auf 100.000 Euro


Im Wahn beinahe getötet
Richterin ließ psychisch Kranken frei – Opfer hofft auf 100.000 Euro

  • Lars Wienand
Von Lars Wienand

Aktualisiert am 08.12.2019Lesedauer: 8 Min.
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Rechtsanwalt Ulrich Warncke: Er will am Landgericht Frankfurt für ein Verbrechensopfer 100.000 Euro Schmerzensgeld einklagen, weil eine Richterin den psychisch kranken Täter gegen Empfehlung der Ärzte in Freiheit entließ.Vergrößern des Bildes
Rechtsanwalt Ulrich Warncke: Er will am Landgericht Frankfurt für ein Verbrechensopfer 100.000 Euro Schmerzensgeld einklagen, weil eine Richterin den psychisch kranken Täter gegen Empfehlung der Ärzte in Freiheit entließ.

Eine Frau wird von einem Mann fast getötet. Ärzte hielten ihn für hochgefährlich, doch eine Richterin sah dies anders und ließ ihn frei. Muss der Staat nun Schmerzensgeld zahlen?

Als sich Hilde T. mühsam aus dem Stuhl neben ihrem Anwalt hievt, läuft die Verhandlung noch. Es nimmt niemand Notiz von ihr, als sie mit ihren Stöcken, der kaputten Hüfte wegen, nach vorne gebeugt aus Raum 114 des Landgerichts Frankfurt schlurft. Sie trägt im warmen Gerichtssaal immer noch ihre Wollmütze, die ihre Skalpierungsverletzungen bedeckt.

Die Narben stammen aus dem Mai 2016, als ein psychisch kranker Mann sie im Wahn mit einem Feuerkorb und einem Messer töten wollte. Nun geht es darum, ob eine Richterin durch grob fahrlässiges Verhalten mitverantwortlich ist. Und ob Richter die Gesellschaft zu wenig vor Menschen schützen, die nicht wissen, was sie tun.

Auswirkungen des Falles Mollath?

Hilde T.s Anwalt Ulrich Warncke beantwortet beide Fragen mit Ja. Aus seiner Sicht wurde Hilde T. zum Opfer, weil eine Richterin leichtfertig falsch abgewogen hat zwischen dem Recht eines Kranken und dem Recht der Gesellschaft auf Schutz vor kranken Tätern. Warncke ist überzeugt, dass die Justiz zu oft die Prioritäten falsch setzt. "Insbesondere nach dem Fall Mollath sind Richter oft viel zu zögerlich, gefährliche psychisch Kranke notfalls auch geschlossen unterzubringen."

Der Name Gustl Mollath steht für einen Skandal: Ein etwas wunderlicher Querulant war für Jahre in der geschlossenen Psychiatrie weggesperrt, obwohl Vorwürfe gegen ihn keine Substanz hatten. Der skandalöse Fall führte zu einer großen Debatte um Zwangsunterbringungen. Der deshalb geänderte "Mollath-Paragraf" soll sicherstellen, dass sich solche Fälle nicht wiederholen.

Anwalt Warncke hat nach seinen Angaben in den vergangenen Jahren 20 Fälle bearbeitet, in denen Menschen getötet oder schwer verletzt wurden. In allen Fällen litten die Gewalttäter unter paranoider Schizophrenie und waren nicht schuldfähig, als sie Menschen mit Messern oder Hämmern attackierten.

Warncke vertritt auch die Eltern des achtjährigen Leon, der im Frankfurter Hauptbahnhof vor einen ICE gestoßen und überfahren wurde. Der Täter litt nach Ansicht eines Gutachters ebenfalls unter paranoider Schizophrenie und gilt als schuldunfähig.

Der erste derartige Fall vor Gericht

Hilde T. beschäftigt sich weniger mit grundsätzlichen Fragen. "Hilde T." heißt anders. Ihren richtigen Namen und ihr Foto will sie nicht in den Medien sehen. Sie will nach ihrer Tortur vor allem 100.000 Euro Schmerzensgeld für das, was aus ihrer Sicht Folgen der Entscheidung der Richterin sind. Das Land Hessen soll haften für eine schuldhafte Amtspflichtverletzung der Frankfurter Betreuungsrichterin. Es ist eine sogenannte Amtshaftungsklage.

Doch der Staat will sich nicht gerne verklagen lassen, die Hürden sind hoch. Zum ersten Mal macht das Opfer einer Straftat den Staat verantwortlich, weil der gefährliche und vielfach aufgefallene Täter frei herumlaufen und deshalb zuschlagen konnte. Bislang habe es nur Klagen von Patienten wegen Unterbringung gegeben, so Warncke.

Brutale Tat in der Wohnung des Opfers

Bis auf Hilde T. sind alle Beteiligten in dem Verfahren Akademiker. Der Täter B. ist Diplom-Pädagoge. Die Zeugen, das sind zum einen die Ärzte der Uni-Klinik Frankfurt, die überzeugt davon waren, dass der Täter gefährlich ist für andere. Sie hatten beantragt, ihn in der Klinik zu behalten. Dann sind da noch eine Anwältin, die die Freilassung von B. anregte, und die Richterin, die das dann am 27. April 2016 so entschied.

Einen Monat später, am 29. Mai, mussten Polizisten die Tür zu Hilde J.s Wohnung aufbrechen und die Pistole ziehen, um den wie besinnungslos auf die Frau einschlagenden B. zu stoppen. Hilde T. kannte ihn flüchtig, hatte ihn zum Essen eingeladen. Dann ging er auf sie los. Nachbarn sahen, wie er sie auf den Balkon verfolgte und dort mit einem schweren Feuerkorb aus Stahl auf sie einschlug.

Als die Polizisten die Waffen senkten, stach er noch einmal mit einem Messer auf sie ein, ehe er überwältigt wurde. "Absoluten Vernichtungswillen" habe er gezeigt, hieß es im Gerichtsdeutsch. Im Prozess wegen versuchten Totschlags wurde er für schuldunfähig erklärt. Hilde T. brauchte fünf Blutkonserven, musste mehrfach operiert werden, hatte Verletzungen am ganzen Körper, ein Augenlid hing schlaff herunter, einen Arm kann sie nach Trümmerbrüchen auch heute nur eingeschränkt nutzen.

Richterin setzte sich über Einschätzung hinweg

Zurück zum Tag der Entlassung B's, dem 27. April 2016. Hinter B. lagen drei Wochen in der geschlossenen Station der Uni-Klinik Frankfurt, eingewiesen war er wegen Körperverletzung und Bedrohung. Und er war anfänglich so aggressiv, dass er fixiert werden musste.

Was die Ärzte sagen: Am 26. April 2016, dem Tag vor der Entlassung, hatte die Klinik beantragt, die Unterbringung zu verlängern. B. hatte kurz zuvor die Einnahme der antipsychotischen Medizin verweigert, habe sich verbal aggressiv gezeigt und sehe gar nicht ein, krank zu sein. "Es lag eine akute Gefährdungssituation für andere vor, sonst hätten wir den Antrag nicht gestellt”, sagt der Assistenzarzt, der die Empfehlung geschrieben hatte.

Als Zeuge im Schmerzensgeldprozess kommt der 32-Jährige mit verwuschelten Haaren direkt von einer 24-Stunden-Schicht. Er sagt oft, dass er "glaubt", "meint", sich aber "nicht so sicher" sei, wie genau das war. Die Leitende Oberärztin, die den Antrag unterschrieb, ist inzwischen an einer anderen Klinik tätig und kann sich nur noch dunkel optisch an B. erinnern, aber nicht mehr an die Vorgänge um die Entlassung. Damals hatte sie unterzeichnet: “Akute Fremdgefährdung vorhanden.”

Was die Betreuungsrichterin sagt: Die Richterin hat sich für den Prozess erkennbar gut vorbereitet und nachgelesen, was sie damals geschrieben hat. Als Zeugin strahlt sie aus, dass sie sich gut ans Gespräch mit dem Patienten erinnert: Kein Arzt sei dabei gewesen, kein Pfleger. Das seien Anzeichen, dass der Patient nicht als so gefährlich eingeschätzt worden sei.

Er sei “konzentriert” und “geordnet” gewesen, einsichtig, habe auch davon gesprochen, “Mist” gemacht zu haben und krank zu sein. Mindestens 35 Minuten habe das Gespräch gedauert, ohne dass der Mann auffällig geworden sei. “Die, die sich verstellen, kippen nach 15, 20 Minuten”, gibt die Richterin ihre Erfahrungen wider. B. kippte nicht.

Der Mann habe gewusst, in einer Klinik zu sein und habe versichert, seine Medikamente nehmen zu wollen. B. habe sogar gesagt, wo er sich ein Anschlussrezept besorgen will. Die Psychopharmaka sollen verhindern, dass sich die Stimmen melden bei Patienten mit Schizophrenie. Werden sie abgesetzt, kann es zum Gewaltexzess im Wahn kommen.

Ein Prozent erkrankt an Schizophrenie
Rund ein Prozent der Bevölkerung erkrankt im Laufe des Lebens an Schizophrenie, die Gefahr vor allem für die Kranken steigt dann. Der allergrößte Teil bekommt die Symptome jedoch in den Griff, ohne sich oder anderen etwas anzutun. Stigmatisierung ist für diese Menschen ein großes Problem. Die größte Studie zu Schizophrenie-Patienten ergab aber in Schweden, dass fünf Jahre nach der Diagnose jeder neunte männliche Patient wegen einer Gewalttat verurteilt war (jede 37. Patientin) und 3,3 Prozent der Männer und zwei Prozent der Frauen verstorben waren. Laut Nahlah Saimeh, langjährige ärztliche Direktorin und Chefärztin von Forensiken und Psychiatrien in NRW, ist das Risiko eines Tötungsdelikts zehnfach erhöht gegenüber der Durchschnittsbevölkerung. Die Suizidrate ist deutlich höher, Schizophreniekranke rutschen auch häufiger in Obdachlosigkeit ab und verwahrlosen.

Die Richterin, damals schon zehn Jahre als Betreuungsrichterin tätig, war nach dem Gespräch mit B. überzeugt: Der junge Assistenzarzt, der die Warnung formuliert und von einer Oberärztin unterschreiben ließ, liegt falsch mit seiner Einschätzung zur Gefährlichkeit. B. sei zuletzt nicht körperlich gewalttätig geworden, der Oberarzt hatte auf Nachfrage nur von verbalen Ausbrüchen berichtet. Ein Unterbringungsgrund nach dem Gesetz sei "nicht mehr erkennbar".

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Was die Anwältin des Mannes sagt: Die 55-Jährige war als Verfahrenspflegerin eingesetzt, als Rechtsanwältin, die die Interessen von B. wahrnehmen soll. Heute sagt sie: B. habe nach ihrem Eindruck “eine der besseren Prognosen” gehabt. B. habe es geschafft, in der Klinik ruhig zu bleiben, "wo sehr akzentuierte Persönlichkeiten auf engem Raum versammelt sind". Ausreichende Gründe für eine weitere zwangsweise Unterbringung habe sie nicht gesehen. "Die Abwehr von Gefahren für die Allgemeinheit ist ein hohes Gut, die Freiheit aber auch. Wir haben das Bundesverfassungsgericht, das immer restriktivere Voraussetzungen für eine Unterbringung stellt."

Was Anwalt Warncke sagt: Für ihn ist genau das ein Problem: "Psychisch Kranke müssen offenbar explizit sagen, dass sie jemandem etwas tun wollen, sonst kommen sie raus. Das ist ein Problem, das unsere Gesellschaft diskutieren muss. Ich erlebe das Leid der Opfer solcher Entscheidungen." Im Fall von B. habe die Richterin fahrlässig entschieden und sich nicht ausreichend informiert. Sie habe dem Mann einfach dessen Versprechen geglaubt, seine Medikamente zu nehmen und nicht bei den Ärzten nachgefragt. Sie habe sich auch nicht ausreichend über die Vorgeschichte informiert.

Täter B. war Wiederholungstäter

B. war seit 1979 wiederholt stationär in Psychiatrien. Immer wieder hatte er unvermittelt andere Menschen geschlagen oder bedroht, seine Frau, Fremde, Bahnpersonal, Polizisten. Es gab aber auch zum Teil mehrere Jahre lange Phasen, in denen er Medikamente regelmäßig nahm und ein unauffälliges Leben führte. Doch vor der Einweisung am 4. April war der Mann kurz zuvor schon einmal drei Wochen in der Uni-Klinik gewesen und gegen den Rat der Ärzte entlassen worden.

Laut Arztbericht nahm er seine Mittel nicht und verweigerte sich jeder Therapie. Die Befürchtungen der Ärzte bestätigten sich, er warf einen faustgroßen Stein auf eine Bäckereiverkäuferin, bespuckte einen Mann und wehrte sich gegen die Polizisten. Es kam zur Unterbringung – bis zum 27. April. "Mit der Entlassung wurde billigend in Kauf genommen, dass er zeitnah wieder erhebliche Straftaten begeht."

Sein Vorwurf an die Richterin: Sie habe sich nicht aus weiteren Akten informiert, weder nach den Umständen der Entlassung im April gefragt, noch nach der verweigerten Tabletteneinnahme. B. habe "jahrelange Psychiatrieerfahrung, er weiß, was Richter hören wollen". Die Richterin habe seinem Wort völlig naiv geglaubt, sei Widersprüchen nicht nachgegangen und habe die Sachverhaltsaufklärung "nahezu unterlassen". Als gegen B. verhandelt wurde und die Richterin als Zeugin aussagte, fragte Warncke sie: "Und Sie können trotzdem noch ruhig schlafen?" Dafür wurde er damals vom Gericht ermahnt.

Was B. nach der Entlassung macht: B. hatte seine Wohnung verloren, randalierte nach wenigen Tagen in Freiheit vor der Wohnung seiner Ex-Frau und seiner Kinder. Polizisten sprachen ein Kontakt- und Annäherungsverbot aus. Trotzdem erschien er am 16. Mai zweimal bei seiner Frau, schlug ihr einmal ins Gesicht. An dem Tag bedrohte er auch einen Bahn-Mitarbeiter mit einem Hammer. Tags darauf bedrohte er Polizisten, schlug sie mit Fäusten und verletzte einen Beamten.

Die Polizisten brachten B. nicht in die Psychiatrie. Warncke dazu: "Die sehen ja, dass eine Richterin ihn rausgelassen hat." Polizeibeamte berichteten ihm, in solchen Fällen bringe ihnen das nur Aufwand, die Betroffenen würden ja ohnehin am nächsten Tag wieder entlassen. "Das ist menschlich. Aber wenn Polizisten resignieren, ist das auch ein Zeichen, dass sich etwas ändern muss." Am 29. Mai fiel der Mann über Hilde T. her. Mit Urteil vom 9. Mai 2017 wurde B. auf unbestimmte Zeit eingewiesen. Nach Informationen von Warncke ist er in der Forensik nicht kooperativ und weiter psychotisch.

Was das Landgericht sagt: Die drei Richter der 4. Kammer des Landgerichts lassen durchblicken, dass die Staatshaftungsklage wenig Chancen hat und sie im Verhalten der Kollegin keinen Grund für Staatshaftung sehen. "Man kann ja Zweifel zu den Aussichten haben”, so der Vorsitzende Richter Christoph Hefter zu Anwalt Warncke, “die Hürden sind ja nicht niedrig."


Hefter ist der Richter, der dem Kindsmörder Magnus G. 3.000 Euro Entschädigung vom Land Hessen zugesprochen hatte und damit einer Vorgaben des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gefolgt war.* Die Polizei hatte Magnus G. bei den Ermittlungen zum entführten Bankierssohn Jakob von Metzler († 11) Folter angedroht. "Verwerflich" und eine "schwere Verletzung der Menschenwürde" Gäfgens, so der Richter damals. Hefter wird am 22. Januar verkünden, ob das Land Hessen der Frau 100.000 Euro zahlen muss. Bei einer Abweisung will Rechtsanwalt Warncke vors Oberlandesgericht ziehen.

Was Hilde T. sagt: "Es geht mir nicht gut", sie leide unter den Folgen. Der Prozess sei für sie anstrengend. Wenn sie das Geld erhalte, wolle sie damit etwas für ihre Gesundheit tun. Viel Hoffnung hat sie nicht. "Es wäre schön. Aber ich glaube, die einzigen, die hier Geld sehen, sind das Gericht und mein Anwalt."

*Die Information, dass das Gericht einer Vorgabe des EGMR gefolgt ist, wurde nachträglich ergänzt.

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