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Klimaaktivisten starten "Frühlingsrebellion": Rote Linie der Bundesregierung


Tagesanbruch
Viele junge Opfer

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 12.04.2023Lesedauer: 7 Min.
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Protestaktion der Gruppe Extinction Rebellion, hier in den Niederlanden.Vergrößern des Bildes
Protestaktion der Gruppe Extinction Rebellion, hier in den Niederlanden. (Quelle: IMAGO/Remko de Waal)

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Es kann fürchterlich nerven, wenn man nicht von A nach B gelangt. Der Termin ist seit Langem geplant, das Thema wichtig, jetzt muss man nur noch pünktlich vor Ort sein: Also ist man rechtzeitig losgefahren, der Motor brummt, der Verkehr hält sich in Grenzen, prima, das läuft ja heute wie am Schnür …

und dann das: Stau, Stillstand, Schluss mit lustig! Aber nicht wegen eines Unfalls oder einer ausgefallenen Ampel, sondern wegen so ein paar Chaoten, die sich auf der Fahrbahn festgeklebt haben, weil ihnen das mit dem Klimaschutz nicht schnell genug geht. Und deshalb zetteln die ein stundenlanges Verkehrschaos an, halten uns auf, bringen unseren penibel geplanten Terminkalender durcheinander? Solche Hornochsen, Vollpfosten, Irren!

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So oder so ähnlich dürfte das Urteil vieler Bürger über die Aktivisten der Letzten Generation lauten. In Umfragen lehnen 80 Prozent der Befragten die immer häufiger veranstalteten Straßenblockaden ab. In Hamburg war das politische Echo nach einem Verkehrstumult an Gründonnerstag besonders kritisch.

So oder so ähnlich könnte es auch jetzt wieder kommen: Das internationale Netzwerk Extinction Rebellion, aus dem die Letzte Generation hervorgegangen ist, ruft von diesem Mittwoch an zu einer Protestwoche in Berlin auf. "Frühlingsrebellion" nennen die Aktivisten ihren Aufstand martialisch und stellen hohe Forderungen: Angesichts des dramatischen Artensterbens soll die Bundesregierung den Notstand erklären und einen repräsentativen, per Losverfahren bestimmten Bürgerrat einberufen, der über die weiteren Schritte gegen die Energie- und Umweltkrise entscheidet. Im Berliner Invalidenpark errichten sie ein Protestcamp, am Samstag ist eine Großdemonstration geplant. Da werden wohl wieder viele Autofahrer fluchen.

Notstand, Bürgerrat, Aktionsplan: Das sind keine neuen Forderungen; Umweltschützer erheben sie seit Jahren. Aber sie reichen deutlich weiter als ein Tempolimit von 100 km/h und ein bundesweites 9-Euro-Ticket, derentwegen die Klimaaktivisten von vielen Leitartiklern belächelt und von Politikern für meschugge erklärt werden.

Sind die Forderungen der Aktivisten überzogen, ihre Proteste ungerechtfertigt? Das hängt, wie so vieles im Leben, von der Perspektive ab. Wer bereits mehr als die Hälfte seines Lebens hinter sich hat, dem verlangt die Weltsicht der überwiegend jungen Klimaschützer einiges ab: Was soll der radikale Eifer, was bilden die sich ein? Wer darauf vertraut, dass unsere demokratischen Institutionen geeignet sind, jede Krise zu meistern, dem können die Gesetzesbrüche der Fahrbahnkleber nicht gefallen. Wer einfach nur ungestört von A nach B rollen will, ist ohnehin genervt, und das aus triftigem Grund.

Was aber, wenn man das eigene Schneckenhaus für einen Moment verlässt und wenigstens kurz versucht, die Perspektive der Aktivisten einzunehmen? Dann stellt sich manches anders dar. Dann fällt schnell auf, dass Worte und Taten der meisten Politiker und auch vieler Firmenchefs nicht zusammenpassen. Da hört man einerseits den Generalsekretär der Vereinten Nationen in jeder Rede ein düsteres Szenario beschwören und vor brutalen Unwettern, globalen Hungerkatastrophen, riesigen Flüchtlingswellen warnen, wenn die Staaten der Welt nicht jetzt sofort alle Hebel für den Klimaschutz in Bewegung setzen: "Wir sind auf dem Highway zur Klimahölle mit dem Fuß auf dem Gaspedal."

Und andererseits? Sieht man den Bundeskanzler und den grünen Wirtschaftsminister, die sich zwar oft und gern ihres Einsatzes für die Umwelt rühmen, aber immer noch nicht wissen, wie Deutschland seine selbstgesteckten Klimaschutzziele erreichen soll. Man sieht auch die Chefs von Mercedes, Porsche und BMW, die zwar in Sonntagsreden das hohe Lied von der Nachhaltigkeit singen, aber tags darauf wieder Hunderttausende Spritschlucker bauen lassen. Man sieht den von einer Kleinstpartei gestellten Finanzminister, der ungerührt die Lobbyinteressen der Autobosse in EU-Richtlinien durchdrückt. Und man sieht den Bundespräsidenten, der die höchste Autorität im Staat darstellen soll, sich beim wichtigsten Thema unserer Zeit aber auf gelegentliche Appelle beschränkt.

Als junger, engagierter Mensch erlebt man also eine Republik, die von älteren Männern repräsentiert, und eine Wirtschaft, die von älteren Männern gesteuert wird – und die eines verbindet: Sie haben ein Interesse daran, den Status quo zu erhalten. Sie scheuen harte Schnitte, weil sie fürchten, die Gunst ihrer Wähler oder ihrer Kunden zu verlieren. Diese Furcht ist ihnen nicht vorzuwerfen. Dass sie noch nicht einmal versuchen, für konsequenten Klimaschutz zu werben, hingegen schon.

Weil wir auf diesem Planeten schon viel zu lang über die Stränge schlagen, bedeutet konsequenter Klimaschutz kurzfristig weniger Freiheit: zum Beispiel Verzicht auf Flüge, schnelles Autofahren, Billigklamotten und am besten auch Rindfleisch. Der Staat kann sowas durch Auflagen und Steuern regeln. Langfristig erkaufen wir uns damit mehr Freiheit. Denn je weniger die Atmosphärentemperatur steigt, desto glimpflicher fallen die Folgen aus, desto größer bleibt der Spielraum für die individuelle Entfaltung.

Ausgetrocknete Flüsse, Orkane und aussterbende Arten sehen wir heute schon. Doch richtig dramatisch werden die Folgen der Erderhitzung voraussichtlich erst in 10, 15 Jahren zuschlagen, wenn die ersten Klimakipppunkte überschritten worden sind. Die meisten Regierungschefs, Staatsoberhäupter und Firmenlenker von heute werden dann wohl nicht mehr am Ruder sitzen. Sie werden ihren Ruhestand genießen und die Folgen des vertrödelten Klimaschutzes nicht ausbaden. Sie müssen nicht in einer Welt aufwachsen, die aus den Angeln gehoben wird.

Die meisten Entscheider von heute sind über 50 Jahre alt, viele über 60. Deshalb ist ihnen die Ungeduld der jungen Aktivisten fremd, deshalb können sie sich bequem darauf zurückziehen, die umstrittenen Protestaktionen zu verurteilen, statt sich ernsthaft mit den Anliegen der Aktivisten auseinanderzusetzen. Täten sie das, müssten sie eingestehen, dass alle ihre bisherigen Bemühungen zu kurz greifen. Und dass sich dieses Versagen angesichts der wissenschaftlich prognostizierten Katastrophen auch mit einem Hinweis auf die Konsensdemokratie nicht mehr rechtfertigen lässt. Sie müssten einräumen, dass ein Bürgerrat zum Klimaschutz, in dem Menschen aus dem ganzen Land mitarbeiten und sich dabei von Experten beraten lassen, vielleicht effizienter und vor allem transparenter wäre als die nächtlichen Koalitionskungelrunden im Kanzleramt. Selbst wenn ein solcher Rat nur eine dringende Gesetzesempfehlung an den Bundestag mit einer folgenden Volksabstimmung ausspräche – der gesellschaftliche Diskussionsprozess könnte viele Bürger dazu bewegen, ihre Konsumgewohnheiten zu hinterfragen.

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Warum lassen sich der Kanzler, seine Minister und die Fraktionsvorsitzenden der Bundestagsparteien nicht darauf ein? Weil sie dann anerkennen müssten, dass die Aktivisten womöglich wirklich sinnvolle Forderungen erheben. Für Politprofis, die sich selbst stets im Recht wähnen, wäre das schmerzhaft. Mehr noch: Sie müssten auch einen Teil ihrer Macht abgeben. Das täte richtig weh. Und das scheint die rote Linie zu sein – sogar in unserer hochgelobten Demokratie. Aber das erkennt man erst, wenn man die Perspektive wechselt.


Was steht an?

"Der Tuchel-Effekt ist schon verpufft", kommentierte unser Sportchef Andreas Becker schon nach dem Aus des FC Bayern im DFB-Pokal. Gestern Abend zeigte sich, wie richtig er damit lag: Die Münchner sind auch in der Champions League baden gegangen, wurden von Manchester City nach Strich und Faden vermöbelt: 0:3! Das wird im Rückspiel gegen Haaland und Co. kaum aufzuholen sein. Fliegen die Bayern tatsächlich aus dem europäischen Edelwettbewerb, wackeln die Stühle der erratischen Strippenzieher Oliver Kahn und Hasan Salihamidžić. Zu Recht.

US-Präsident Joe Biden besucht die britische Provinz Nordirland. Seine Familie hat irische Wurzeln, er will den 25. Jahrestag des Karfreitagsabkommens würdigen: Der Friedensvertrag beendete den jahrzehntelangen Bürgerkrieg zwischen Katholiken und Protestanten.

Apropos Joe: Das akuteste Problem des US-Präsidenten sind die im Internet aufgetauchten Dokumente seiner Geheimdienste. Immer mehr brisante Details werden bekannt. Mein Kollege Tobias Eßer gibt Ihnen den Überblick.

In Washington treffen sich die Leute vom Internationalen Währungsfonds und von der Weltbank auf ihrer Frühjahrstagung mit den Finanzministern und Zentralbankchefs der G20-Staaten. Klingt langweilig, hat jedoch enorme Auswirkungen: Hier bahnt sich die globale Finanzpolitik der kommenden Monate an. Noch höhere Zinsen oder noch höhere Inflation, Kredite für klamme Staaten, mehr oder weniger Klimaschutz: Hier werden die Weichen gestellt. Für Deutschland ist FDP-Finanzminister Christian Lindner dabei. Tja.

Währenddessen stellen Gesundheitsminister Karl Lauterbach und Agrarminister Cem Özdemir in Berlin ihre Eckpunkte für die Cannabis-Legalisierung vor. Sie sind überzeugt, dass sich die Drogenszene durch den freien Verkauf entkriminalisieren lässt. Ich war kürzlich in New York, wo seit einem Jahr jeder Erwachsene nach Lust und Laune kiffen darf. Das Ergebnis: überall süßliche Haschischschwaden und verpeilte Leute mit riesigen Pupillen. Abstoßend.

Lange nichts von Joschka Fischer gehört. Heute feiert der ehemalige Außenminister und Vizekanzler seinen 75. Geburtstag. Die Kollegen der "Frankfurter Rundschau" haben dem "zerknitterten Oberrealo" ein Porträt gewidmet.


Ohrenschmaus

Der heutige Musiktipp kommt von Monika und Maria aus der herrlichen italienischen Region Ligurien: Vorhang auf für Lucio Dalla!


Lesetipps

Staatssekretäre abgesetzt, Generäle gestutzt: Der neue Verteidigungsminister Boris Pistorius greift richtig durch. Das gefällt vielen nicht. Der Wind wird rauer, berichten unsere Hauptstadtreporter Sven Böll und Miriam Hollstein.


EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen brüstete sich: 300 Milliarden Euro von der russischen Zentralbank und 19 Milliarden Euro von russischen Oligarchen wollten die EU-Staaten blockieren. Was aus den Ankündigungen geworden ist, zeigen die Kollegen der "Süddeutschen Zeitung".


In Wunsiedel soll ein Elfjähriger ein zehnjähriges Mädchen getötet haben. Warum bringen Kinder andere Kinder um? Eine Therapeutin hat meinen Kolleginnen Camille Haldner und Lisa Becke Antworten gegeben.


Aus vielen Küchen sind die Plastikdosen von Tupperware nicht mehr wegzudenken. Jetzt steht die amerikanische Firma vor der Pleite. Warum, erklärt Ihnen mein Kollege Florian Schmidt.


Zum Schluss

Die Corona-Debatte schwelt immer noch.

Ich wünsche Ihnen einen produktiven Tag.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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