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FC Bayern | Wirbel um Thomas Müller: Es ist ein Zirkus


Tagesanbruch
Muss das sein?

  • David Digili
MeinungVon David Digili

Aktualisiert am 19.05.2023Lesedauer: 7 Min.
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Mienenspiel: Thomas Müller musste in den letzten Wochen einiges erdulden.Vergrößern des Bildes
Mienenspiel: Thomas Müller musste in den vergangenen Wochen einiges erdulden. (Quelle: IMAGO/ULMER)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

waren Sie schon mal im Phantasialand? Hier die Schiffsschaukel der Spekulationen, hoch und runter geht es da, huiiii! Da drüben, da steht das Karussell der Insiderinfos, ständig denkt ein anderer, ganz vorne zu sein. Und da nebenan natürlich das Riesenrad der redundanten Fragen, es dreht sich immer weiter, bis die Entfernung vom Boden der Tatsachen einen Höchststand erreicht hat.

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Also zumindest, wenn Sie das Phantasialand von Thomas Müller besuchen. Der 33-Jährige hat es als Fußballer zu großem Ruhm und ebenso großer Bekanntheit gebracht. Sowohl mit dem FC Bayern München im Vereinsfußball als auch mit der deutschen Nationalmannschaft hat der Bayer so ziemlich alles gewonnen, was es in seinem Sport zu gewinnen gibt.

Auf dem Platz ist Müller bekannt für unkonventionelle, teils ungelenke Bewegungen, mit denen er das Kunststück vollbringt, Tore zu schießen, die zu imitieren den meisten anderen Fußballern unmöglich wäre. Seine ebenso unkonventionellen, freimütigen Auftritte in Interviews haben ihm über seinen Sport hinaus zu Berühmtheit und noch größerer Beliebtheit verholfen. Mit Vorliebe hält er dabei – zu oft zu Recht – unserer die immer gleichen Fragen stellenden Branche den Spiegel vor (und hat es nebenbei auch dank seiner Popularität gesellschaftlich überlebt, sich mal unglücklich zur Aussage "Auch in Deutschland gibt es Menschenrechtsverletzungen" verstiegen zu haben).

"Das muss ich ins Phantasialand schieben, ganz ehrlich", antwortete das Klub-Urgestein der Bayern nun also erst am vergangenen Wochenende auf unaufhörliche Mutmaßungen, Diskussionen und Hintergrundberichte zu seiner Situation beim deutschen Rekordmeister.

Denn die Berichterstattung insbesondere rund um den FC Bayern wird zunehmend mit einem journalistischen Vergnügungspark verwechselt, in dem alles möglich scheint, wenn es nur oft genug wiederholt wird. Mehr noch: ein Zirkus, in dem Clowns, Akrobaten und Dompteure wild durcheinander rennen und um die Aufmerksamkeit der Zuschauer buhlen, koste es, was es wolle. Gut möglich bis wahrscheinlich, dass es genau so auch an diesem heute startenden vorletzten Spieltag der Bundesligasaison weitergeht.

Gerüchte über einen Müller'schen Abschied aus München hatten sich in einer beispiellosen Geschwindigkeit vervielfältigt, seit es Bayerns Trainer Thomas Tuchel jüngst gewagt hatte, Müller in einigen Spielen auf die Ersatzbank zu setzen. Besonders für den Sportboulevard schien die Tatsache offenbar unbegreiflich, dass der unter ständigem Erfolgsdruck stehende und hoch bezahlte Trainer des größten deutschen Fußballvereins die Mannschaft unabhängig von Namen oder Meriten so aufstellt, wie er es für richtig hält.

Jede Stimme vermeintlicher Experten wurde dankbar vervielfältigt, in einem immer unaufhaltsamer Fahrt aufnehmenden Kreislauf von Angebot und Nachfrage sprang ein beträchtlicher Teil der Sportmedien über jedes Stöckchen, das die Zitatlieferanten ihnen hinhielten. Zugegeben: Auch t-online konnte sich der allgemeinen Aufgeregtheit nicht entziehen, hat sich allerdings Mühe gegeben, die Berichterstattung mit einordnenden Stücken so ausgewogen wie möglich zu gestalten.

"Dass man Schlagzeilen produzieren will, das ist ganz normal, das ist ja auch Ihr Job", erklärte Müller nach dem 6:0 der Bayern gegen den FC Schalke 04 beim längst in Boulevard-Abgründen aufgeschlagenen Sender Sky. Der Pay-TV-Sender geriert sich gerne als Speerspitze des investigativen Sportjournalismus. Nicht nur seine zu Moderatoren und "Fieldreportern" verbrämten Abfrager, auch die der Konkurrenz sind längst vollkommen enthemmt und schmerzbefreit, regelmäßig auch zum dritten, vierten, fünften Mal um ein und dasselbe Thema zu mäandern wie sonst eigentlich nur Müller selbst in den gegnerischen Abwehrreihen.

Bewundernswert dabei die Engelsgeduld, mit der die Tuchels, Müllers, Terzics oder Hummels dieser Fußballwelt Woche für Woche wieder das gleiche Prozedere über sich ergehen lassen, das zu ertragen mitunter doch ein tiefgehendes Verlangen zur Selbstkasteiung erfordert.

"Aber dieser ganze Käse, den ich angeblich denke und fühle – das hat sich jemand aus den Fingern gesaugt", sagte Müller weiter, und wenn man ihm da noch etwas vorwerfen kann, dann einzig, nicht früher mit den wilden Spekulationen aufgeräumt zu haben.

Denn den Eindruck einer fragilen Teetasse, die nach 23 Jahren im Verein wegen einer Handvoll verpasster Startelfeinsätze eiligst die Koffer packt und tief verletzt quasi über Nacht mit unbekanntem Ziel abreist, hat der stets für seine Bodenständigkeit und Heimatverbundenheit gefeierte Müller zumindest in seiner bisherigen Profikarriere nicht zu vermitteln versucht. Eine Wandlung zur überempfindlichen, kapriziösen Diva ist im Frühherbst seiner Karriere mindestens unwahrscheinlich. Was Moderatoren, Kommentatoren und Reporter nicht vom hemmungslosen Spekulieren abhält. Das Publikum für allerlei Gedankenspiele am Rande der Seriosität ist zweifelsohne da – und wird umarmend begrüßt.

Was hier teilweise wie keifende Kollegenschelte klingt, ist mehr eine Feststellung der Verhältnisse. Das Spektakel ist mittlerweile Teil der Präsentation der Fußball-Bundesliga, mit hoch bezahlten Moderatoren, dauerquasselnden Kommentatoren, deren Bedarf nach Luft dem erfahrener Apnoetaucher ebenbürtig ist, und zu Experten beförderten Ex-Spielern, die für fragwürdige Äußerungen auch mal mit Anstellungen beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen belohnt werden. Sie alle nehmen festgelegte Rollen ein im an jedem Wochenende neu aufgeführten TV-Schauspiel, sie tun das, was von ihnen gewünscht, erwartet, verlangt wird. Und sind Teil der Gesamtaufführung.

Die stundenlangen Übertragungen zerren auch während ihrer Unterbrechungen in Abgründe: Wettanbieter (an dieser Stelle sei Ihnen übrigens die aufwendige Recherche der geschätzten Kollegen von "11 Freunde" zur Zusammenarbeit zahlreicher Bundesligaklubs mit höchstens halbseidenen chinesischen Wettanbietern ans Herz gelegt), Pfandleiher, Goldverkäufer, Programmhinweise auf schmuddelige Realityshows oder als "True-Crime-Formate" verklärte Leichenfleddereien. Der wunderbare englische Filmkritiker Mark Kermode spricht bei besonders abstoßenden Produktionen gerne davon, er hätte nach dem Kinobesuch am liebsten "in Clorox gebadet", einem desinfizierenden Bleichmittel.

Doch worauf gründet dieser alles übertönende, grelle Zirkus des steten Alarmismus, der Woche für Woche wieder in den Stadien der Bundesliga seine Zelte aufschlägt? Hängen in den Zentralen der Sendeanstalten Poster von Leonardo da Vincis vitruvianischem Menschen, mit rotem Edding dick eingekreist Kopf (stets Richtung Bildschirm gedreht), Hände (stets ohne zum Umschalten verleitende Fernbedienung), Becken (stets fest in den Sessel gedrückt) und Füße (stets ohne zum Aufstehen verleitende Pantoffeln)? Sind die Zuschauer nur Kirmesbesucher mit der Aufmerksamkeitsspanne von Hundewelpen, in den Augen der Schausteller leicht verführbare Naivlinge mit klumpigem Haferbrei als Gehirn und dicken Geldbündeln in der Hand? Oder sind es Zweifel, Angst, das eigene Produkt könne nicht 90 Minuten plus Nachspielzeit lang an den Bildschirm fesseln, sofern sich nicht in einem ständigen Hin und Her Tor an Tor reiht?

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Zur ansatzweisen Ehrenrettung der deutschen Fußballberichterstattung muss aber auch – nicht entschuldigend – erwähnt werden: Es könnte noch viel schlimmer sein. Wer das Wagnis eingeht, den Medienrummel im Profisport der USA zu verfolgen, muss sich fragen: Stehen die Sportler im Mittelpunkt – oder die Journalisten? Bei Experten wie Stephen A. Smith oder Skip Bayless verwischen die Grenzen zwischen seriöser Analyse und hysterischem Marktgeschrei.

Sie bekommen zweistellige Millionengehälter von ihren Sendern, bei ihren Auftritten sind Krawall und Konfrontation an der Tagesordnung – und der Höhepunkt der Selbstdarstellung ist erreicht, wenn mal ein Star aus Basketball, Football oder Baseball auf die ständigen Sticheleien reagiert: Schaut her, wie wichtig wir sind! Da wirken Sandro Wagner oder Bastian Schweinsteiger im Vergleich wie schüchterne, verpickelte Mittelstufler im Stimmbruch beim Einsatz für die stets schief und verwackelt gedruckte Schülerzeitung.

Trotzdem: Schon 2021 sagte mir der kluge Matthias Sammer, heute selbst als Experte bei den Champions-League-Übertragungen von Amazon Prime die Stimme der Vernunft: "Die Normalität der Berichterstattung ist ein Herzenswunsch von mir. Ich beobachte das ja intensiv in meiner Funktion bei Borussia Dortmund und bekomme diese Aufgeregtheit mit. Ich würde mir für den Fußball und für die Schönheit des Spiels wünschen, dass Einschätzungen von denen, die es eben nicht wirklich einschätzen können, nicht mehr einen so hohen Stellenwert bekommen, wie es momentan der Fall ist."

In einem rustikalen Wirtshaus in Grünwald redete sich der für seine durchdachten Analysen geschätzte Ex-Spieler und -Trainer kurz ein wenig in Rage: "Ich bin entsetzt, in welcher Schnelllebigkeit und in welcher Art und Weise Leute über den Fußball Gehör finden, die noch niemals einen Nachweis in irgendeiner Position erbracht haben – außer, dass sie entweder mal selbst gespielt haben oder eben über das Spiel geredet haben. Das kann doch nicht das einzige Kriterium sein. Wir brauchen die, die das wirklich auf Toplevel bewerten können. Es gibt doch den schönen Spruch: 'Wenn die Klügeren immer nachgeben, regieren irgendwann die Dummen.' Ich würde sagen: Da ist was dran."


Bundeskanzler Olaf Scholz und die weiteren Staats- und Regierungschefs der Gruppe großer Industriestaaten (G7) kommen ab heute zu ihrem jährlichen Gipfel im japanischen Hiroshima zusammen. Das dreitägige Treffen soll sich insbesondere mit dem weiteren Vorgehen gegenüber Russland wegen des Angriffskriegs gegen die Ukraine befassen. Schon in der vergangenen Nacht wurden neue Sanktionsvorhaben verkündet. Zudem wollen sich die G7-Staaten auf eine gemeinsame Linie beim Umgang mit China einigen. Weitere Themen des Gipfels sind nukleare Abrüstung, Klimaschutz, Ernährungssicherheit und Wirtschaftsfragen.

Mehr zum G7-Gipfel, welche Entscheidungen in Bezug auf den Ukraine-Krieg oder die Beziehungen mit China zu erwarten sind, hören Sie in der neuen Podcast-Folge von "Diskussionsstoff" hier (ehemals "Tagesanbruch am Wochenende").


Was steht an?

Heute will die SPD in Bremen nach ihrem Sieg bei der Bürgerschaftswahl Vorgespräche über eine mögliche Regierungsbildung führen. Dazu sind Treffen mit den Grünen und der Linkspartei geplant – die drei Parteien hatten bereits in den vergangenen vier Jahren das kleinste Bundesland gemeinsam regiert. Rechnerisch kann das Bündnis weitermachen, allerdings haben die Grünen viele Stimmen verloren. Ebenfalls möglich wäre eine Große Koalition aus SPD und CDU.


Lesetipps

Vor gut einem Jahr holte Tabea Kemme im t-online-Interview zum Rundumschlag aus. "Raus aus dem DFB", lautete damals ihre Forderung bezogen auf die Frauen-Bundesliga, die bis heute unter dem Dach des Deutschen Fußball-Bundes steht. Was hat sich in den vergangenen 10 Monaten getan? Wie nachhaltig war und ist der Hype, der durch die Frauen-EM 2022 in England entstanden ist? Meine Kollegen Noah Platschko und Andreas Becker haben mit der Olympiasiegerin von 2016 gesprochen.

Lange hat Robert Habeck zu seinem Staatssekretär gehalten. Jetzt ist Patrick Graichen für den Wirtschaftsminister nicht mehr tragbar. Zur Trauzeugenaffäre sind weitere Verstöße hinzugekommen, schreibt mein Kollege Johannes Bebermeier.

Die Stadt, die niemals schläft, sackt offenbar unter dem Gewicht ihrer Gebäude immer weiter ab. Manhattan ist besonders stark betroffen. Es ist nicht die einzige drohende Katastrophe für New York, wie mein Kollege Bastian Brauns aus den USA berichtet.


Zum Schluss

Im liberalen Sinne heißt liberal nicht nur, äh, Heizpilz ...

Ich wünsche Ihnen einen unaufgeregten Brückentag. Am Montag schreibt meine Kollegin Annika Leister für Sie den Tagesanbruch.

Ihr

David Digili
Redakteur Sport
Twitter @herrdigili

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Mit Material von dpa.

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