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Ukraine-Krieg | Ukrainische Gegenoffensive stockt: "Der Countdown läuft"


Tagesanbruch
In drei Monaten droht die Abrechnung

  • Daniel Mützel
MeinungVon Daniel Mützel

Aktualisiert am 04.08.2023Lesedauer: 7 Min.
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Ukrainische Artilleristen feuern eine D-30-Haubitze bei Bachmut: Voraussichtlich in drei Monate endet die heiße Kampfphase.Vergrößern des Bildes
Ukrainische Artilleristen feuern eine D-30-Haubitze bei Bachmut: Voraussichtlich in drei Monate endet die heiße Kampfphase. (Quelle: SERGEY SHESTAK/getty-images-bilder)

Guten Morgen liebe Leserin, lieber Leser,

sind Sie auch mittlerweile müde von den Drohungen eines gewissen Dmitri Medwedew in Moskau?

Sollte Kiew mit seiner Gegenoffensive erfolgreich sein, werde Russland ein "globales nukleares Feuer" entzünden, polterte Russlands Ex-Präsident kürzlich auf seinem Telegram-Kanal.

Eigentlich verbreiten Moskaus Handlanger seit Wochen, dass die ukrainische Offensive längst verloren sei. Ob Medwedew, eher ein Grüßaugust des Kremls als jemand mit Macht, das vergessen hatte, als er seinen Stuss verfasste?

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Die ukrainische Offensive ist also gescheitert, aber wenn sie weiter so erfolgreich scheitert, dann bleibt dem Kreml nichts anderes übrig, als sich und den Rest der Welt im nuklearen Armageddon zu verheizen. Verstanden? Ich auch nicht.

Sie haben recht, wenn Sie jetzt denken, man sollte nicht leichtfertig mit der Sorge vor einem Atomkrieg umgehen, die auch hierzulande viele Menschen umtreibt. Doch ich glaube, dass der Schaumschläger aus Moskau mittlerweile keinem mehr Angst macht.

Und doch: Die zwei Monate seit dem Start der ukrainischen Offensive zwingen zu einer unbequemen Zwischenbilanz: Die Ukraine hat in der ersten Phase der Gegenoffensive ihre Ziele verfehlt. Rund 250 Quadratkilometer konnten die ukrainischen Streitkräfte bisher befreien. Das ist, gemessen an den Erwartungen in Kiew und im Westen, enttäuschend.

Die ukrainische Regierung selbst hat die Latte hoch gehängt. Präsident Wolodymyr Selenskyj nannte 2023 das "Jahr des Sieges", man versprach, sämtliche von Russland besetzten Gebiete zu befreien – inklusive der Krim und des Donbass.

Politisch war das nachvollziehbar, die Ukrainer brauchten einen Lichtblick, um den russischen Raketenterror durchzustehen. Und auch der Westen musste bei der Stange gehalten werden.

Militärisch war das kurzsichtig. Die Fehlkalkulation betraf ausgerechnet die westliche Waffenhilfe.

Neun Kampfbrigaden hatte die Nato im Frühjahr ausgebildet, rund 40.000 Soldatinnen und Soldaten. Dazu lieferte der Westen über 300 Kampfpanzer und 1.500 gepanzerte Fahrzeuge, um die Operation mit hochmodernem Gerät zu unterstützen.

Doch anscheinend führte genau das zu Problemen.

Wie Michael Kofman, einer der versiertesten Militärexperten zum Ukraine-Krieg, nach seiner jüngsten Ukraine-Reise resümiert: "Vor allem die vom Westen ausgebildeten Brigaden haben schlecht abgeschnitten, manche sehr schlecht", so der Militärforscher in einem Podcast.

Der Grund: Die mehrwöchige Ausbildung sei für die ukrainischen Soldaten zu kurz gewesen, um sich die Nato-Taktiken nachhaltig anzueignen. In vielen Fällen sei es nicht gelungen, etwa das Gefecht der verbundenen Waffen auf größere Verbände der ukrainischen Streitkräfte zu übertragen.

Die taktischen Probleme mündeten in katastrophale Fehlschläge, wie der misslungene Vorstoß bei Orichiw in der Südukraine Anfang Juni. Alleine in den ersten beiden Wochen sollen 20 Prozent des eingesetzten Materials beschädigt oder zerstört worden sein, schreibt die "New York Times" unter Berufung auf westliche Regierungsvertreter.

Kofman und der Militärhistoriker Franz-Stefan Gady sprechen von einem "fehlgeleiteten Optimismus", der sich mit den westlichen Waffen verband. Die russischen Verteidigungslinien erwiesen sich als deutlich effektiver als erwartet.

Die ukrainische Armee hat aus den Fehlern gelernt und greift zurück auf ihre erlernten Taktiken der vergangenen Jahre: Statt mit schweren Brigaden den Durchbruch zu erzwingen, ist der Abnutzungskrieg mit Artillerie und kleinen Angriffstrupps zurück.

Es ist ein Kampf um jede Hecke, jede Baumreihe, jeden Acker. Verlustreich, aber immerhin erfolgreicher als in den Wochen zuvor.

Die Gebietsgewinne entlang der drei Hauptachsen allerdings sind gering. Die Fehler sind aber nicht nur bei den Ukrainern zu suchen – im Gegenteil: Der Westen hat Kiew über Monate die nötigen Kampfmittel vorenthalten. Wertvolle Zeit verstrich, während die Russen sich immer tiefer eingruben und Minen legten.

Auch jetzt tritt der Westen wieder auf die Bremse. Diesmal ist es allerdings nicht der deutsche Bundeskanzler allein, dem Zaghaftigkeit vorgeworfen wird.

Die F-16-Koalition, die eigentlich im August mit dem Training ukrainischer Piloten beginnen wollte, lässt sich Zeit. Wie das US-Portal "Politico" berichtet, habe noch kein europäisches Land ein Ausbildungskonzept erarbeitet, es fehle offenbar an "ernsthaftem Engagement". Deutschland hatte der Kampfjet-Koalition ohnehin eine Absage erteilt, die USA machen nur widerwillig mit.

Auch beim Thema Marschflugkörper setzt die Achse Berlin-Washington auf Entschleunigung: US-amerikanische ATACMS (Reichweite 200 Kilometer) und deutsche Taurus (Reichweite 500 Kilometer) soll es erst mal nicht für die ukrainischen Streitkräfte geben.

Kiew bittet seit Monaten um diese Waffensysteme, um damit Nachschubwege tief im Hinterland der russisch besetzten Gebiete angreifen zu können. Deutschland verfügt über 600 bunkerbrechende Taurus-Systeme, 150 davon sollen sofort einsatzbereit sein.

Worauf wartet man also noch? Deutschland und die USA treibt die Sorge um, die Ukraine könnte die Waffen gegen Ziele in Russland einsetzen, heißt es. Doch sowohl die Briten als auch die Franzosen liefern mit den Storm-Shadow- und dem Scalp-System bereits vergleichbare Waffen. Die Ukraine gab hier ihre Zusicherung, die Marschflugkörper nicht in Russland einzusetzen. Wieso sollte das für deutsche und amerikanische Waffen nicht gelten? Oder will man Kiew nur hinhalten?

Ein unangenehmer Verdacht drängt sich auf. In Berlin und Washington – die zwei größten Ukraine-Unterstützer – scheint insgeheim ein Countdown abzulaufen, der die Tage der ukrainischen Offensive herunterzählt. Die heiße Phase wird voraussichtlich noch bis Oktober dauern, bevor die Schlammzeit das Kampfgeschehen verlangsamt. Bis dahin erwartet der Westen Erfolge.

"Die Ukrainer müssen signifikante Fortschritte erzielen, und sie wissen das", fasst der frühere US-Kommandeur im Irak und CIA-Chef, David Petraeus, am Dienstag bei CNN die Stimmung in Washington zusammen.

Denn im Herbst könnte der Westen den Druck auf Kiew erhöhen, mit Moskau zu verhandeln. Auch wenn das zum jetzigen Zeitpunkt illusorisch wirkt. Die Spuren dahin wurden bereits gelegt. Im Frühjahr erfuhr das "Wall Street Journal" von deutschen, britischen und französischen Beamten, die Europäer hätten Selenskyj im Februar klargemacht, dass er noch in diesem Jahr mit Russland verhandeln solle.

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Und auch die USA sollen inoffizielle, sogenannte "Track 1.5"-Gespräche mit den Russen führen, wenn auch mit mäßigem Erfolg, berichten der US-Sender NBC und die "Moscow Times".

Der Ukraine rennt die Zeit davon. Umso blamabler das Zögern des Westens in diesem kritischen Moment, in dem es darum gehen sollte, ein Maximum an Unterstützung zu organisieren.

Zugleich mehren sich die Stimmen in Deutschland, die dem Taurus-Taumeln ein Ende setzen wollen. Neben dem FDP-Verteidigungsexperten Marcus Faber kommen nun auch Forderungen vom grünen Koalitionspartner, den deutschen Marschflugkörper für die Ukraine freizugeben.

Doch neben Kanzler Scholz lehnt bisher auch Verteidigungsminister Boris Pistorius (beide SPD) eine Taurus-Lieferung ab, der bisher einen klaren Ukraine-Kurs gefahren ist. "Der Zeitpunkt für eine Entscheidung ist für uns noch nicht gekommen", so der Minister am Donnerstag. Immerhin eine Hintertür für eine spätere Zusage lässt er offen.

Gerade jetzt, wo der Abwehrkampf der Ukrainer gegen die russische Aggression stockt, sollte der Westen seine Unterstützung hochschrauben. Statt aus der Ferne Manöverkritik üben, sollte Deutschland ein neues Waffenpaket schnüren, um der Ukraine solidarisch beizustehen.

Denn der russische Vernichtungswille macht keine Pause. Die Kreml-Propagandisten offenbaren täglich in ihren Sendungen, wie die imperiale Elite in Russland tickt – und davon träumt, den ukrainischen Staat zu zerstören. Auch der russische Raketenterror gegen ukrainische Städte geht weiter und ist nun übergegangen zur Inbrandsetzung von Nahrungsmitteln, wie im Hafen von Ismajil, wo eine Rakete 40.000 Tonne Getreide (und zahllose Mahlzeiten für die Hungernden in der Welt) vernichtete.

Jetzt auch nur den Anschein zu erwecken, im Herbst werde man Kiew zu Verhandlungen drängen, wäre fatal. Solange Putin nicht verhandeln will – oder eben nur zu seinen Bedingungen –, würde ein solcher Schritt das westliche Bündnis spalten.

Wie die Militärexperten Kofman und Gady im "Economist" schreiben: "Die Offensive der Ukraine ist noch lange nicht vorbei." Der Westen müsse seine Erwartungen an den Kriegsverlauf anpassen und der "Ukraine helfen, so zu kämpfen, wie sie am besten kämpft". Sowjet-Style statt Nato-Taktik. Auch wenn sich der Krieg dadurch weiter in die Länge zieht.

Im Februar sagte Kanzler Scholz auf der Münchner Sicherheitskonferenz, Deutschland werde die Ukraine unterstützen "as strongly and as long as necessary". Das ist mehr als das unkonkrete "as long as it takes", mit dem Scholz oft zitiert wird. Denn es geht nicht nur darum, Kiew so lange wie nötig zu unterstützen, sondern auch um die Bereitstellung der erforderlichen (Kampf-)Mittel. Der Kanzler sollte sich an seine Worte erinnern.

Den höchsten Preis des Krieges zahlt die Ukraine, und solange die Ukrainer mehrheitlich bereit sind, sich der russischen Aggression zu widersetzen, sollte Deutschland an ihrer Seite stehen. As strongly and as long as necessary.


Was steht an?

Er sitzt bereits im Straflager, doch soll noch 20 weitere Jahre bekommen: Gegen den russischen Oppositionellen Alexei Nawalny will ein Moskauer Gericht in einem umstrittenen Extremismus-Prozess das Urteil verkünden.

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Was amüsiert mich?

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Ich wünsche Ihnen einen entspannten Freitag.

Ihr Daniel Mützel
Stellvertretender Ressortleiter Politik, Wirtschaft, Gesellschaft
Twitter: @DanielMuetzel

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