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Welttag des Buches: Diese Welt ist riesengroß


Tagesanbruch
Da liegt ein großer Schatz

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 23.04.2024Lesedauer: 6 Min.
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Stuttgarter Stadtbibliothek, mit Wärmebildkamera aufgenommen: Bücher eröffnen eine eigene Welt.Vergrößern des Bildes
Stuttgarter Stadtbibliothek, mit Wärmebildkamera aufgenommen: Bücher eröffnen eine eigene Welt. (Quelle: Arnulf Hettrich/imago images)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

wenn ich aus dem Fenster neben meinem Schreibtisch blicke, schaue ich über die Straße geradewegs in andere Wohnzimmer hinein. Das geht, weil hier in Berlin-Mitte niemand den ästhetischen Wert von Gardinen zu schätzen scheint. Deshalb sehe ich jetzt, wo ich in den späten Abendstunden diesen Newsletter für Sie notiere, dort drüben Menschen, die Sachen machen. Einige hocken vor der Flimmerkiste, andere wurschteln in ihrer Wohnung herum, einer leert ein Glas nach dem anderen (wenn ich richtig mitgezählt habe, sind es jetzt schon sechs). Unten auf der Straße kreischen die üblichen Knallchargen herum, hier in Berlin ist immer was los.

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Ich bin froh, dass ich hier oben bin und nicht dort unten. Aus meinem kleinen CD-Spieler tönt Paul Desmonds Altsaxophon; ich mag alte Geräte und noch mehr mag ich Paul Desmonds federleichte Melodien. Viel zu jung ist er gestorben, dieser Großmeister aus San Francisco, der eigentlich Paul Emil Breitenfeld hieß. Angeblich fand er seinen Künstlernamen beim Durchblättern des Telefonbuchs, das deutsche Original klang ihm zu kompliziert. An seiner Musik hingegen ist nichts kompliziert, sie schwingt schmeichelhaft und inspirierend durch die Luft, für mich der beste Jazz der Welt. Eine Menge Whisky nahm Herr Desmond zu sich und leider auch eine Menge Tabak, drei Schachteln Zigaretten sollen es pro Tag gewesen sein. Das hält die stärkste Bläserlunge nicht lange aus; nach 52 Jahren war Schluss. 47 Jahre ist das jetzt her, ein Jammer.

Aber ich schweife ab. Eigentlich wollte ich Ihnen nicht von meiner Schreibstube erzählen, sondern vom Blick aus meinem Fenster. Der Gedanke kam mir, als ich beim Heimkommen unten auf der Straße zufällig zwei junge Frauen hörte: "Kannst du die Nachrichten auch nicht mehr ertragen?", fragte die eine. "Total krass, ich schalt alles ab!", antwortete die andere. Tatsächlich scheinen sich immer mehr Menschen von der täglichen Informationsflut überfordert zu fühlen, beileibe nicht nur junge. Die vielen Krisenmeldungen erzeugen ein düsteres Bild der Welt, und von diesem Zerrbild wenden sie sich ab. Ziehen sich zurück in ihr privates Schneckenhaus und ignorieren, was dort draußen kreischt und kracht. "News Fatigue", Nachrichtenmüdigkeit, nennen Wissenschaftler das Phänomen. Es begegnet mir in letzter Zeit öfter, auch viele Leser berichten mir, dass sie der schlechten Nachrichten überdrüssig seien.

Für einen Nachrichtenjournalisten wie mich ist das keine gute Nachricht. Meine Kollegen in der Redaktion und ich, wir haben ja die Aufgabe, über das aktuelle Geschehen in Deutschland und der Welt zu berichten, und da ist gegenwärtig nun mal leider viel Düsteres dabei: Ukraine, Nahost, Klima, Ampelstreit und so weiter.

Aber zum Glück gibt es kleine Fluchten. So eine Flucht habe ich erspäht, als ich aus dem Fenster neben meinem Schreibtisch in das Wohnzimmer schräg links gegenüber blickte. Dort liegt hinter hohen Fenstern ein Altbau-Raum, in dem ein hohes Regal steht. In diesem Regal stehen eine Menge Bücher. Und fast immer, wenn ich dort in den Abendstunden hinüberschaue, sitzt ein Mann in einem Sessel und liest. Neben dem Sessel hat er eine Leselampe, vielleicht auch eine Tasse Tee oder ein Glas Wein. Beides lecker. Wenn ich da so hinüberblicke, stelle ich mir vor, in welcher Welt sich dieser Mann bewegt, und habe den Eindruck: Diese Welt ist riesengroß. Größer jedenfalls als die Welt in der Flimmerkiste und auch als die Welt der täglichen News, die heute wahnsinnig wichtig, aber morgen oft schon wieder vergessen sind. Die Welt der Literatur ist unendlich, und wenn dann auch noch ein leckeres Gläschen und die Klänge eines Jazz-Meisters hinzukommen, gibt es doch nichts Schöneres, oder?

So denke ich bei mir, während ich aus dem Fenster stiere und grüble, was ich für morgen früh in den Tagesanbruch schreiben soll. Bei einem Seitenblick auf meinen drängelnden Laptop erhasche ich den Hinweis, dass an diesem Dienstag der Welttag des Buches begangen wird – das wäre doch ein Thema! Mal was anderes als immerzu Krieg und Krisen. Also willige ich ein und tippe drauflos. Und während ich tippe, nehme ich mir vor, am nächsten Wochenende mehr Zeit den Büchern zu widmen, die ich endlich fertig lesen möchte. Marcel Reich-Ranickis Autobiografie "Mein Leben" liegt auf meinem Nachttisch und Jill Lepores preisgekrönte USA-Geschichte "Diese Wahrheiten". Stendhals "Die Kartause von Parma" habe ich nach 25 Jahren immer noch nicht beendet, das wird jetzt aber mal Zeit. Dafür habe ich gerade Ian McEwans grandioses Lebenspanorama "Lektionen" verschlungen und dank Mustafa Suleymans Bestseller "The Coming Wave" endlich verstanden, wie Künstliche Intelligenz unsere Welt umkrempeln wird.

An den Orten, an denen ich mein Leben verbringe, stehen noch viele weitere Bücher. Alle wollen sie gelesen und durchdacht werden, alle wollen mich in eine andere Welt entführen: die Welt der Literatur, in der man so viel mehr erleben kann als in jeder Nachrichtensendung. Also schnell den Tagesanbruch fertig schreiben! Vielleicht bleiben mir hinterher ja noch ein paar Minuten, bevor mir die Augen zufallen.


Ohrenschmaus

Nun möchten Sie natürlich wissen, wie Paul Desmond klingt. Wunderbar, oder?


Zitat des Tages

"Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen."

Cum-Ex-Chefermittlerin Anne Brorhilker begründet, warum sie ihren Job hinwirft. Um geschätzte zwölf Milliarden Euro Steuergeld sollen Banker, Berater und Aktienhändler den Staat betrogen haben – doch bei der juristischen Aufarbeitung stieß die Oberstaatsanwältin auf zahlreiche Hürden und mächtige Netzwerke. Deshalb kapitulierte sie. Ein fatales Zeichen für den Rechtsstaat, kommentiert mein Kollege Carsten Janz.


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Das XXL-Parlament

Unter den frei gewählten Parlamenten ist der Bundestag das weltweit größte – und in den vergangenen Legislaturperioden immer weiter gewachsen. Derzeit hat er statt der gesetzlich angestrebten 598 sage und schreibe 734 Abgeordnete. Das kostet viel Steuergeld und erhöht den Aufwand bei Abstimmungen, weshalb die Ampelkoalition vor gut einem Jahr eine Verkleinerung auf 630 Abgeordnete beschloss: Bundestagssitze sollen künftig komplett anhand der Mehrheitsverhältnisse bei den Zweitstimmen vergeben werden. Überhang- und Ausgleichsmandate, die bislang verteilt wurden, wenn eine Partei mehr Wahlkreise gewann, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis Sitze zustanden, fallen weg. Ebenfalls abgeschafft wird die Grundmandatsklausel, der zufolge eine Partei auch mit weniger als fünf Prozent der Zweitstimmen ins Parlament einziehen kann, sofern sie mindestens drei Direktmandate gewinnt.

Diese Änderungen könnten dazu führen, dass gewählte Kandidaten ihr Mandat nicht antreten dürfen – deshalb haben gleich mehrere Seiten Klagen beim Bundesverfassungsgericht eingereicht: zuvorderst CSU und Linkspartei, denen die Neuerungen besonders gefährlich würden, aber auch die bayerische Staatsregierung und mehr als 4.000 Privatpersonen. Heute und morgen verhandeln die Verfassungsrichter über die Einwände, ein Urteil wird erst später erwartet. Folgt das Gericht den Bedenken, wird die Entscheidung des Bundestags aufgehoben. Verwirft es sie, gelten die Regeln bei der nächsten Bundestagswahl, die regulär im Herbst 2025 ansteht. Das könnte die Parteienlandschaft verändern – und würde deutlich billiger.


Prozess gegen Neonazi

Am ersten Verhandlungstag gab es vergangene Woche viel Vorgeplänkel: Da spielten Björn Höckes Anwälte auf Zeit, stellten – vergeblich – einen Antrag auf Ton-Aufzeichnung der Verhandlung oder zweifelten die Zuständigkeit des Gerichts an. Erst nach der Mittagspause konnte Staatsanwalt Benedikt Bernzen überhaupt die Anklage verlesen: dass der Thüringer AfD-Einpeitscher in einer Rede wissentlich die SA-Parole "Alles für Deutschland" verwendet habe. Heute will der ehemalige Geschichtslehrer Höcke, der bestreitet, den nationalsozialistischen Ursprung des verbotenen Slogans gekannt zu haben, zu den Vorwürfen Stellung nehmen. Schenkt das Gericht seiner Version von der "Alltagsfloskel" keinen Glauben, reicht der mögliche Strafrahmen von einer Geldstrafe bis zu einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren. Unser Reporter Lars Wienand wird berichten.


Lesetipps

Die Polizei hat drei Deutsche verhaftet, die für China spioniert haben sollen. Unsere Rechercheure Lars Wienand und Carsten Janz haben die Spur aufgenommen.



Aufruhr in der Ampel: Führt das Zwölf-Punkte-Papier der FDP zum Ende der Koalition? Mein Kollege Florian Schmidt hat eine klare Antwort.


Der FC Bayern braucht dringend einen neuen Trainer – kassiert aber eine Absage nach der anderen. Ist der Münchner Traditionsverein für Top-Trainer unattraktiv geworden? Meine Kollegen Florian Wichert und Melanie Muschong wissen Bescheid.


Zum Schluss

Lesen bildet (oder so ähnlich).

Ich wünsche Ihnen einen anregenden Tag.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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