Tagesanbruch Das muss den Kanzler alarmieren
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
ich hoffe, Sie haben am Wochenende den Sommer noch einmal so richtig genossen. Waren baden, Eis essen, haben im Schatten der Bäume im Biergarten oder im Garten gesessen, gegrillt, geklönt und gelacht. Doch nun ist er endgültig vorbei. Die Temperaturen werden sich in den kommenden Tagen halbieren. So sehr das manche betrüben mag, viele andere, denen die Hitze zu schaffen machte, werden aufatmen. Eine Abkühlung tut dringend Not.
Auch im Bundestag endet nun die Sommerpause. Von Pause war in den vergangenen Wochen allerdings wenig zu spüren. Von Überhitzung in der Ampelkoalition umso mehr. "Übergangsregierung" und "Auslaufmodell" nannte der eine sie (Grünen-Chef Omid Nouripour), der andere wollte sich von den Partnern nicht mehr "auf der Nase herumtanzen lassen" (SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert) und der Dritte sprach der Koalition gleich ganz die "Legitimation" ab (FDP-Vize Wolfgang Kubicki). Wer sehnt sich da nicht nach Abkühlung?
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In diesem Sommer kam vieles zusammen: Islamisten, die das Land terrorisieren, Rechtsextremisten und Populisten, die in Landtagswahlen erstarken, eine Wirtschaft, die schwächelt und ein Krieg, der nicht enden will. Zu vieles, das den Druck weiter steigen ließ und zu neuem Streit führte. Dass die überhitzte Ampel mit dem Ende der politischen Sommerpause nun auch abkühlt, ist allerdings nicht zu erwarten. Im Gegenteil: Am Dienstag geht der Haushaltsentwurf in den Bundestag. Es drohen neue, hitzige Debatten.
Derjenige, der dringend die Koalition herunterkühlen müsste, scheint dazu nicht willens oder in der Lage zu sein. Dabei weiß auch Olaf Scholz, dass der Dauerstreit zu seinen Lasten geht. Auch er kennt die jüngsten Zahlen des ZDF-Politbarometers: Drei Viertel der Deutschen (74 Prozent) wollen nicht, dass Scholz noch einmal als Kanzlerkandidat antritt. Seine Ampelregierung würde gerade noch von 30 Prozent gewählt. Natürlich ist sie dennoch weiterhin legitimiert, denn gewählt wurde sie für vier Jahre, egal, wie schlecht ihre Umfragewerte zu Beginn ihres letzten Regierungsjahres auch sein mögen.
Geschieht kein Wunder – und Scholz ist nun mal Scholz – dürften diese Werte kaum besser werden. Was die Ampel noch zusammenhält, ist das Wissen, dass ein Koalitionsbruch und vorzeitige Neuwahlen für alle drei desaströs ausgehen würden. All das ist nicht nur, aber auch ein Versagen des Kanzlers. Nicht umsonst hält eine große Mehrheit der Deutschen ihn für führungsschwach: Es gelingt ihm nicht, aus seinen ungleichen Partnern eine Regierung zu formen, die überzeugende Lösungen für die noch anstehenden, immensen Probleme findet.
Dass das nicht unmöglich wäre, hat das erste Jahr der Ampel gezeigt, in dem sie das Land gut durch die Energiekrise steuerte. Tatsächlich setzte sie in der ersten Halbzeit auch mehr vom Koalitionsvertrag um, als viele glauben, wie eine Studie der Bertelsmannstiftung nachwies. Der öffentliche Streit überlagerte schon damals alles.
Olaf Scholz, das hat er zuletzt am Wochenende im "Tagesspiegel" und im ZDF-Sommerinterview wieder gezeigt, weigert sich, die Realität anzuerkennen. Dort erzählte er, fest damit zu rechnen, dass die SPD und auch er 2025 ein starkes Mandat für die nächste Regierung erhalten werden. Er will nicht sehen, dass zu viele ihm und seiner Koalition nicht mehr vertrauen.
Darin ähnelt er Joe Biden. Auch wenn Vergleiche stets hinken: So wie die Demokraten mit dem US-Präsidenten keine Chance auf einen Sieg gegen Trump hatten, so lässt sich wohl auch mit Scholz keine weitere Wahl gewinnen. Das ahnt auch die SPD. Zwar wiederholt der Kanzler unermüdlich, dass vor drei Jahren ebenfalls kaum jemand an seinen Wahlsieg geglaubt habe. Doch die Situation damals war eine andere: Das Land war nach 16 Jahren Merkel Unions-müde. Nun ist es schon nach drei Jahren Ampel-müde.
SPD-Chef Lars Klingbeil reiste kürzlich zum Parteitag der US-Demokraten in Chicago. Begeistert kehrte er zurück und schwärmte vom Schwung, den der Wechsel von Biden zu Kamala Harris dem Wahlkampf gegeben habe. Gefragt, ob so ein Kandidatenwechsel auch für seine Partei denkbar wäre, betonte er, dass die SPD mit Olaf Scholz antreten wolle und auch alle in der Spitze der SPD das so sähen. Allerdings gestand er ein: "Wahlkämpfe haben eine eigene Dynamik."
Tatsächlich gibt es jemanden in der SPD, der bei den Wählern beliebter ist und dem offenbar mehr Führungsstärke zugetraut wird: Verteidigungsminister Boris Pistorius. Er führt im ZDF-Politbarometer die Liste der zehn beliebtesten Politikerinnen und Politiker an – mit weitem Abstand vor CSU-Chef Markus Söder und Unionschef Friedrich Merz. Olaf Scholz rangiert auf Platz sieben.
Auch wenn der Kanzler es noch nicht wahrhaben will: Für ihn hat wohl der Herbst begonnen.
Beeindruckende Sieger – und ein Verlierer
Geht es nach dem Medaillenspiegel, ist klar, wer vorn liegt: 49 Medaillen gewannen die deutschen Athletinnen und Athleten bei den Paralympischen Spielen in Paris. Gut vier Wochen zuvor erreichten die Deutschen bei den Olympischen Spielen nur 33 Medaillen. Getrübt wurde die Freude über die Leistung der Para-Sportler am Wochenende allerdings durch einen Eklat um den Komiker Luke Mockridge.
Der hatte in einem Podcast die Entstehung der Paralympischen Spiele mit einem Witz auf Kosten von behinderten Athleten erklärt: "Es gibt Menschen ohne Beine und Arme, die wirft man in ein Becken und wer als Letzter ertrinkt, der hat halt gewonnen." Mockridge entschuldigte sich zwar dafür. Doch Sat.1 strich nun erst einmal seine neue Show "Was ist in der Box?". Bleibt zu hoffen, dass Mockridge, tatsächlich wie angekündigt, die Einladung des Deutschen Behindertensportverbands (DBS) annimmt und sich Para-Sport live anschaut, um zu erleben, "zu welch beeindruckenden Leistungen Menschen mit Behinderungen in der Lage sind."
In einem hatte Mockridge zumindest recht: Auf Instagram kritisierte er, dass in den Medien nun mehr über ihn als über die Paralympics berichtet werde. Darum: Schauen Sie sich – falls Sie die Paralympics nicht ohnehin verfolgt haben – hier noch einmal an, wie beeindruckend diese Leistungen tatsächlich waren.
Was steht an?
Wählen zum Schein: Als Stimmungstest in Kriegszeiten beschrieben Nachrichtenagenturen die Regionalwahlen in Russland. Doch wie die Stimmung der 57 Millionen Wahlberechtigten tatsächlich ist, das dürfte das Ergebnis kaum verraten. Es waren Scheinwahlen, bei denen chancenreiche Oppositionspolitiker als Kandidaten für die Gouverneurs- und Stadtratsposten oder die 21 Regionalparlamente nicht antreten durften. Unabhängige Beobachter berichteten schon vorab von Manipulationen, mit denen die Behörden den Kandidaten der Kremlpartei Geeintes Russland zum Sieg verhelfen wollten. Am Vormittag sollen nun die Ergebnisse vorliegen.
Wirtschaften für die Zukunft: 400 Seiten dick soll der Bericht sein und knallhart mit der europäischen Wirtschaft ins Gericht gehen: zu wenig Innovation, zu geringe Produktivität, zu hohe Energiepreise, zu wenige Fachkräfte. So in etwa soll Mario Draghis Urteil zur Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft ausfallen, erzählen EU-Botschafter und Fraktionsvorsitzende des Europaparlaments, denen er bereits vergangene Woche in vertraulichen Sitzungen daraus berichtete.
Vor einem Jahr hatte die EU-Kommission den ehemaligen Chef der Europäischen Zentralbank gebeten, einen Bericht zu verfassen, wie die EU angesichts der sich dramatisch verändernden Welt wettbewerbsfähig bleiben kann. Heute übergibt Draghi den Bericht, der Empfehlungen für die wichtigsten Wirtschaftssektoren enthalten soll, in Brüssel an EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.
Das historische Bild
Kaum ein Insekt erlangte eine derartige Fernsehpräsenz wie die Biene Maja. Hier erfahren Sie mehr.
Lesetipps
Gefahr für die Menschheit: Künstliche Intelligenzen sollen Gefahren wie die Klimakrise abwenden helfen. Doch Yuval Noah Harari warnt vor der Zukunftstechnologie: Denn KI könnte uns Menschen vernichten. Im Interview mit meinen Kollegen Florian Harms und Marc von Lüpke erklärt der weltweit bekannte Intellektuelle, was zu tun ist.
Russen in Deutschland: Das Ende von Wladimir Putins Herrschaft sehnen viele Russen herbei, vor allem diejenigen, die vor seinem Regime geflohen sind. Alles eine Frage der Zeit, denkt sich t-online-Kolumnist Wladimir Kaminer.
Sichere Rente: Der Kenfo ("Fonds zur Finanzierung der kerntechnischen Entsorgung") ist der erste deutsche Staatsfonds. Kenfo-Chefin Anja Mikus soll bald auch das Generationenkapital anlegen, um die gesetzliche Rente zu sichern. Eine große Verantwortung. Wie sie dessen Chancen und Risiken einschätzt, darüber hat Finanzredakteurin Christine Holthoff mit Mikus und ihrer Kollegin Verena Kempe gesprochen.
Ungeliebte Wärmepumpe? Sie soll bei der Energiewende eine tragende Rolle spielen. Zuletzt ist der Absatz allerdings eingebrochen. Woran das liegt und was die Regierung besser machen müsste, hat ein Unternehmer meinem Kollegen Amir Selim erklärt.
Zum Schluss
Der Kanzler hat endlich einen Ausweg gefunden.
Ich wünsche Ihnen, einen wunderbaren Start in die Woche und in den Herbst. Morgen schreibt Ihnen Mauritius Kloft.
Herzliche Grüße
Ihre Heike Vowinkel
Textchefin t-online
X: @HVowinkel
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Mit Material von dpa.
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