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30 Jahre Kinderrechte: Wie die Lehrerin Eglantyne Jebb Weltpolitik machte


"Jeder Krieg ist ein Krieg gegen Kinder"


20.11.2019Lesedauer: 4 Min.
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Völkerbund: Die sogenannte Genfer Erklärung zum Schutz der Kinder kam auf Betreiben von Eglantyne Jebb zustande.Vergrößern des Bildes
Völkerbund: Die sogenannte Genfer Erklärung zum Schutz der Kinder kam auf Betreiben von Eglantyne Jebb zustande. (Quelle: UISE (Union Internationale de Secours aux Enfants))

Seit 30 Jahren gibt es die Kinderrechtskonvention der UN. Auch ein Verdienst der Kinderrechtlerin Eglantyne Jebb. Eine Zeitzeugin berichtet, wie ihr Jebbs Organisation Save the Children 1946 im zerstörten Berlin geholfen hat.

"Der Lebertran war echt eklig", erinnert sich Dagmar Wendorff. "Den ätzenden Geschmack habe ich noch heute im Mund." Die heute 78-Jährige erzählt von ihrer Kindheit in Berlin kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges: "Wir haben den Mund aufgemacht und einen Löffel runtergeschluckt. Danach mussten wir zur Kontrolle die Zunge herausstrecken. Man durfte nicht ausspucken."

Diese Anekdote hat einen traurigen Hintergrund: 1946 fehlte es zwischen den Trümmerbergen in den Städten am Nötigsten. Selbstversorgung funktionierte, wenn überhaupt, nur auf dem Land. "Die Kinder traf es zuerst", sagt Wendorff. Viele litten an Rachitis, hervorgerufen durch Mangelernährung. Der nährstoffreiche Lebertran half dagegen. Verteilt wurde er bei den sogenannten Schwedenspeisungen. Dieser Name entstand, weil sie vom schwedischen Ableger der Kinderhilfsorganisation Save the Children bezahlt wurden.

"Die haben für uns Kinder alle Kronen gesammelt, die sie hatten", weiß Wendorff. Statt Brot, Sauerampfer und Hagebutten bekamen die Kinder jeden Tag eine warme Suppe. Wendorff findet: "Das war wie ein Fünfer im Lotto." Tatsächlich war eine warme Mahlzeit unmittelbar nach dem Krieg für viele ein unerreichbarer Luxus. Strom gab es nicht. Die Kochstellen wurden mit Kohle geheizt. Der Rohstoff war nur auf dem Schwarzmarkt erhältlich. Die Hilfe aus Schweden kam da genau richtig. "Der Winter 1946 war furchtbar kalt", berichtet Wendorff. Lebensbedrohlich kalt für mangelernährte Kinder, doch Lebertran und Suppe schufen Abhilfe.

Leid mit eigenen Augen gesehen

Die Aktion hat ein berühmtes Vorbild. Auch nach dem Ersten Weltkrieg herrschte große Not. Die englische Lehrerin Eglantyne Jebb bereiste zu dieser Zeit das europäische Festland – und fand schockierende Bilder vor. Im April 1919 verhungerten in Deutschland täglich Hunderte Menschen. Besonders schlimm traf es die Kinder. Bestürzt kehrte Jebb zurück nach England. Sie wollte etwa im besiegten Deutschland Schulspeisungen und Kakaostuben einrichten, um den Kleinen zu helfen.

Dafür benötigte sie Spendengelder. Doch vorher galt es, Hindernisse zu überwinden. In ihrer Heimat wollte man nichts von ihrem Mitleid mit den verfeindeten Deutschen hören. Im Ersten Weltkrieg waren allein weit mehr als eine halbe Million britische Soldaten gefallen. Und auch im Vereinigten Königreich wurde nicht jeder satt, wie Jebb entgegen gehalten wurde. In dieser Situation forderte eine Frau öffentlich, den Deutschen zu helfen? Undenkbar für viele. Jebb schlug Hass entgegen. Doch sie blieb beharrlich, ihr Credo lautete: "Jeder Krieg ist ein Krieg gegen Kinder."

Eglantyne Jebbs Kampf gegen alle Widerstände

Um die breite Öffentlichkeit auf die Zustände in Deutschland aufmerksam zu machen, ließ die Lehrerin Flugblätter drucken. Abgebildet waren unterentwickelte Kinder. Jebb forderte: "Bekämpft die Hungersnot." Auf dem Trafalgar Square mitten in London verteilte die Aktivistin die Zettel. Sie wollte, dass ihre Landsleute sehen, was sich auf dem Kontinent abspielte. Durch eine Blockade waren die Kriegsverlierer für die Dauer der Friedensverhandlungen vom Welthandel bis 1919 abgeschnitten.

Ihr Engagement sorgte für großen Aufruhr, die Polizei führte sie wie eine Kriminelle ab. Die aufgebrachte Meute bewarf die Kinderrechtlerin mit faulen Äpfeln. Für das unerlaubte Verteilen von Flugblättern wurde Jebb Mitte Mai 1919 schließlich zur Zahlung von fünf Pfund oder wahlweise elf Tagen Gefängnis verurteilt. Doch langsam änderte sich die öffentliche Meinung. Prominente setzen sich für Jebbs Anliegen ein. Selbst Sir Archibald Bodkin, der Chefankläger der Krone, spendete Geld für die deutschen Kinder. So trug Jebb trotz der juristischen Niederlage am Ende den moralischen Sieg davon.

Die Gründung von "Safe the Children"

Jebb nutzte die Gelegenheit. Vier Tage nach ihrer Verhandlung, am 19. Mai 1919, lud sie gemeinsam mit ihrer Schwester Dorothy zu einer Versammlung in der Royal Albert Hall ein. Während die Schwestern auf der Bühne das Elend auf dem Festland schildern, gingen Spendenbüchsen durch die Reihen. Die Halle platzte aus allen Nähten. Das gesammelte Geld kam dem neugegründeten Save the Children Fund zugute. Davon wurden Jebbs Pläne umgesetzt. Die Kakaostuben und die Schulspeisungen in den besiegten Ländern retteten viele Kinder vor dem Hungertod.

Spätestens ab der russischen Hungersnot von 1921 wurde Jebbs Engagement für Kinder zur Lebensaufgabe – und aus dem Fonds die permanente Hilfsorganisation Save the Children, die heute in mehr als 120 Ländern aktiv ist.

Kinder bekommen Rechte

Jebb wurde zur Anwältin der Kinder, die nichts dafür können, wenn die Erwachsenen die Waffen erheben, aber zugleich meist den größten Preis für gewalttätige Konflikte bezahlen müssen. Um die Position der Schwächsten in Zukunft zu stärken, machte sie das Magazin "The World’s Children" zu ihrem Sprachrohr. Darin veröffentlichte sie 1923 die erste Erklärung der Rechte der Kinder. Jebb wandte sich zusätzlich an den nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen Völkerbund. Sie wollte, dass die Mitgliedstaaten ihrer Charta zustimmen.

Am 24. September 1924 verabschiedete die Generalversammlung des Völkerbundes das Papier. Es geht als Genfer Erklärung in die Geschichte ein. Vier Jahre später starb Eglatyne Jebb, hinterließ mit ihrer Organisation eine Institution, die noch dringend gebraucht wurde. Denn zukünftige Konflikte, darunter vor allem der Zweite Weltkrieg, sollten noch viel Leid unter Kindern verursachen.

Erst 61 Jahre nach Jebbs Tod beschlossen auch die wiederum nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Vereinten Nationen ihre Kinderrechtskonvention. Seither ist der 20. November der internationale Tag der Kinderrechte. Der ohne Eglatyne Jebb und ihre selbstlose Hilfe kaum denkbar wäre.

Dagmar Wendorff verspürt heute noch tiefe Dankbarkeit: "Obwohl wir Deutschen am Krieg schuldig waren, haben die Schweden an uns Kinder gedacht." Genau das ist der Geist von Eglatyne Jebb.

Zum Hingehen: Ausstellung "Ich lebe! Zehn Kinder, zehn Kriege, zehn Dekaden – und ein Baby"
Ausstellung zum 100-jährigen Bestehen von Save the Children sowie zum 30-jährigen Jubiläum der UN-Kinderrechtskonvention.
Bis 29. November 2019 im Lichthof des Auswärtigen Amts, Eintritt frei.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
  • Interview mit Dagmar Wendorff
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