Kaminers Gedanken zur Einheit Der einzig wahre Grund für den Untergang der DDR
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Im Grunde mochten die meisten ihre DDR, nur das Ostgeld konnte niemand leiden. Alle wollten das schönere Westgeld. Immerhin hat das Klimpergeld nach 1990 einen guten Zweck erfüllt, weiß Wladimir Kaminer.
Wir sind verlorene Menschen. Das erzählte ich neulich meinen ostdeutschen Freunden: Ich meinte damit Russen, die in der Sowjetunion aufgewachsen und sozialisiert wurden. Wir wurden aus dem Reagenzglas des "größten sozialen Experiments der Weltgeschichte" einfach ausgeschüttet. Neben uns im gleichen Glas saßen übrigens die Bürgerinnen und Bürger der DDR, sie wurden jedoch sorgfältig in die Bundesrepublik gegossen. Kein Mäuschen ging verloren.
Wladimir Kaminer ist Schriftsteller und Kolumnist. Er wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit rund 30 Jahren in Deutschland. Zu seinen bekanntesten Büchern gehört "Russendisko". Dieses Jahr erschien sein neuestes Buch "Der verlorene Sommer. Deutschland raucht auf dem Balkon".
In Russland wusste niemand, wie das Experiment enden sollte: Würde man neue kommunistische Mäuse mit übernatürlichen Fähigkeiten in unserem Land züchten oder würden wir alle im Labor sterben? Das Experiment wurde dann an der interessantesten Stelle unterbrochen. Nicht, weil die Mäuse nicht mehr wollten. Die hat niemand gefragt. Der Laborleiter hatte bloß keine Lust mehr. Der Ausgang des Experiments blieb also offen.
Deswegen ist es für meine Landsleute so schwierig, jenseits des Labors die Kurve zu kriegen, manchmal glaube ich, wir werden von den Normalsterblichen für nicht ganz dicht gehalten. Ganz anders war es in der DDR. Die Bürger haben sehr selbstbewusst gegen das Experiment demonstriert, die Mauer auseinandergenommen und schließlich das Land gewechselt, ohne auf Reisen gehen zu müssen. Nein, sagten die Freunde unisono, so war es nicht.
Ich bin schon mit meinem Vater auf die Straße gegangen, so mein Freund aus Neuruppin, aber erst nach der Wiedervereinigung. Wir haben gegen die Schließung der Betriebe, gegen die Massenentlassungen demonstriert. Ich war in der sechsten Klasse, so der Freund, auf einmal mussten wir unsere Pionierhalstücher und Lehrbücher abgeben.
Ab Montag werdet ihr neue Lehrbücher bekommen, so hieß, sie werden euch in eurem Erwachsenenleben helfen. Sagte der Hausmeister, die alten DDR-Lehrbücher hatte er auf dem Hof hinter der Schule verbrannt. Sie brannten aber schlecht, entweder waren sie nass oder das Papier war von schlechter Qualität. Es gab mehr Rauch als Flammen.
Diese Geschichte erinnerte mich an die Erzählungen einer alten Freundin aus Görlitz, die dort eine Bibliothek leitete. Nach der Wiedervereinigung bekamen sie einen Stapel blauer Säcke. Und die Anweisung, den gesamten Bücherbestand da reinzupacken. Vorübergehend, bis sie abgeholt würden. Die neuen Bücher seien schon unterwegs, hieß es.
Mehr Effizienz, verlangte der Westdirektor
Die Bibliothekarin hatte das Gefühl, sie selbst, ihr ganzes Leben sollte in diesen blauen Säcken verschwinden. Sie konnte bei dieser Aktion nicht mitmachen – und kündigte freiwillig. Mein Nachbar in Brandenburg, einst ein Elefantenpfleger im Cottbusser Zoo, kündigte gleich im Oktober nach der Einheit, nachdem der Zoo einen neuen Westdirektor bekommen hatte.
Wir müssen effizienter arbeiten, sagte der Westdirektor, es geht nicht, dass sechs Menschen drei Ostelefanten pflegen, die gleiche Anzahl von Westelefanten wird von nur einem Pfleger gefüttert. Mein anderer Nachbar war ein NVA-General, nach der Wiedervereinigung wollte die Bundeswehr aber nicht so viele Ostgeneräle übernehmen, sie wurden alle zu Obersten degradiert und in Rente geschickt. Er ist daraufhin schwer krank geworden.
Der ehemalige Chef meiner Lieblingskneipe arbeitete früher bei der Stasi, er war für einen großen Berliner Betrieb zuständig. Zu seinen Aufgaben gehörte es, vertrauliche Gespräche mit den Mitarbeitern zu führen, die allgemeine Stimmung und die persönlichen Meinungen der Arbeiter zu politischen und privaten Themen zu "erkunden".
Auch er verlor nach der Wiedervereinigung seinen Job, machte eine Umschulung zum Koch und eröffnete eine Kneipe. Noch Jahre später versuchte er, seine Stasi-Methoden in der Küche seiner Gaststätte einzusetzen. Um das Betriebsklima zu verbessern, führte er mit allen Mitarbeitern vertrauliche Gespräche: Er fragte sie, was sie von ihren Kollegen hielten. Vielleicht schrieb er diese Gespräche sogar auf, aber es gab keine Zentrale mehr, wo er sie hinschicken konnte.
Das Buch der Bücher
Ja, die Ostdeutschen haben damals demonstriert, erklärten mir die Freunde und Nachbarn, sie wollten aber nicht, dass ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt wird. Sie waren in ihrer DDR gut behütet aufgewachsen, jeder Bürger hatte gleich nach der Geburt einen "Ausweis zur Arbeit, Spaß und Sozialversicherung" bekommen.
Dieses Buch musste man überall mit hinnehmen, ob man zum Arzt, zur Schule oder zur Arbeit ging, alle Arbeits- und Liebesverhältnisse, alle wichtigen Lebenspunkte wurden in dieses Buch eingetragen. Nach dem Tod musste das Buch in der Volkskammer abgegeben werden. Im Grunde mochten die meisten ihre DDR, nur das Ostgeld konnte niemand leiden.
Das Ostgeld hatte eine begrenzte Kaufkraft und sah scheiße aus. Besonders die Münzen, im Volksmund als Alu-Chips verspottet, sahen wie Spielgeld für Monopoly aus, total unseriös. "Wir wollen Westgeld!", forderten die Menschen deshalb laut nach dem Fall der Mauer, als sie die verlockenden Geschäfte des Westens besuchen konnten. Dummerweise konnte man dort nicht mit Ostgeld zahlen. Sie wollten aber auf den Rest der DDR nicht verzichten, immerhin hatten sie nach dem Mauerfall brav die neue Volkskammer gewählt.
Der hinterhältige Westen, so sagten es meine Nachbarn, habe die DDR mit der Währungsunion gekauft, jeder hat richtiges Westgeld bekommen, hundert Mark oder mehr, und konnte sein DDR-Spielgeld umtauschen. Natürlich nicht komplett eins zu eins, nur bis zu einer bestimmten Summe. Aber die Menschen waren glücklich. Drei Monate später war die DDR als bis dahin einziges Land aus dem sozialistischen Lager endgültig von der Weltkarte gelöscht. Und restlos verschwunden.
Das Westgeld war einfach hübscher
Auf einmal waren die Bürger auf sich allein gestellt, sie verloren ihre Arbeit, niemand wollte mehr mit ihnen vertrauliche Gespräche führen, niemand wollte mehr etwas über die allgemeine Stimmung wissen. Diese Stimmung war äußerst mau. Das neue Westgeld musste hart erarbeitet werden, man wusste aber nicht so richtig wie. Die einen gaben auf und gingen unter, die anderen versuchten ihr Glück im kapitalistischen Hamsterrad. Einige haben es geschafft: Spreewälder Gurken, Bautzener Senf und das Russischbrot. Sie werden noch immer gerne im Osten der Republik gegessen.
Aber was ist mit dem alten witzigen Ostgeld passiert, mit den ganzen Alu-Münzen, die nach der Währungsunion überall auf der Straße und in den Mülleimern lagen? Ich habe Grund zur Annahme, sie wurden ebenfalls gegessen.
Laut meiner Recherche wurden die Alu-Münzen zu Alu-Barren geschmolzen und von der Treuhand den Betrieben überlassen, die Aluminiumsalze brauchten, vor allem in der Kosmetik- und Medizinbranche. Alu-Substanzen werden bei der Herstellung von Lippenstiften, Deos, Zahnpasta, Antidepressiva und Tabletten gegen Sodbrennen gebraucht.
Das Geschäft mit Kosmetik und Arzneien lief damals blendend, vor allem im Osten wollten die Menschen gut aussehen, wenn sie auf Arbeitssuche gingen. Und sie hatten bestimmt öfter depressive Stimmungen und Sodbrennen. Welch eine böse Ironie würde hinter dieser Geschichte stecken: Das neue Geld hat uns unser altes Geld verfüttert, sagte mein Nachbar nachdenklich. Zuerst kam das Sodbrennen und dann die Ostalgie. Wir wissen nicht, was wir vermissen, bis wir es gegessen haben.
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