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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Queer und muslimisch "Es ärgert mich, dass das Problem bei Muslimen kleingeredet wird"

Tugay Saraç ist Muslim und schwul. Im Interview spricht er darüber, wie groß das Problem der Queerfeindlichkeit innerhalb der muslimischen Gemeinschaft ist – und warum an Vorurteilen über Kreuzberg und Neukölln etwas dran ist.
Im Berliner Pride-Monat steht die queere Community im Zeichen von Sichtbarkeit und Solidarität. Doch nicht alle queeren Menschen können das gleichermaßen sichtbar leben. Laut dem Berliner Verfassungsschutzbericht 2024 kommen Anfeindungen und Gewalt gegen Schwule, Lesben und Transmenschen mittlerweile verstärkt aus dem Spektrum von Rechtsextremen und islamistischen Salafisten. Was bedeutet das für queere Muslime und Musliminnen?
Tugay Saraç ist der Projektleiter der Anlaufstelle Islam und Diversity an der Ibn Rushd-Goethe Moschee. Im Interview spricht er über seine Erfahrungen.
Herr Saraç, wie nehmen Sie die Stimmung unter queeren Muslimen gerade wahr?
Tugay Saraç: Ganz generell für die Community gesprochen würde ich sagen, es ist ernst. Die Stimmung wird rauer und schlechter, etwa wenn islamistische Gruppen queere Menschen zum Feindbild erklären wie auf TikTok.
2021 gab es eine Plakatkampagne dagegen: "Liebe ist Halal". Insgesamt fünf queere Muslime und Musliminnen haben sich gezeigt, Sie waren einer davon. Welche Reaktionen auf die Plakate haben Sie persönlich erlebt?
Die Hass-Nachrichten haben deutlich zugenommen, es war wirklich krass damals. Salafisten haben hetzerische TikTok-Videos über mich verbreitet. Auf den Straßen gab es eine neue Dimension der Anfeindung, weil ich an meinen eigenen Plakaten vorbeigelaufen bin und erkannt wurde. Die Leute haben mich blöd angemacht, auf den Boden gespuckt oder mich bedroht.
Ich mag ja die Vorurteile über Neukölln und Kreuzberg nicht, aber das waren doch zwei Bezirke, die ich gemieden habe. Dort ist es öfter passiert, dass ich blöd angemacht wurde als woanders. Mittlerweile kann ich da aber wieder hinfahren, etwas essen gehen, meine Freunde dort treffen, das ist jetzt kein Problem mehr.
Die Vorurteile, die Sie ansprechen, beziehen die sich auf den höheren migrantischen Anteil in Kreuzberg und Neukölln? Und darauf, dass unter Muslimen die Queerfeindlichkeit offenbar höher ist als unter nicht-muslimischen Menschen?
Ja. Für mich sind definitiv Neukölln, Kreuzberg und Wedding eher ein Problem, wenn es um Queerness geht als andere Stadtteile. Wenn ich mich in Marzahn oder Hellersdorf bewege, gibt es für mich persönlich eher Probleme mit Rassismus.
Deckt sich das mit dem, was andere queere Menschen Ihnen berichten, was Neukölln, Kreuzberg und Wedding angeht?
Auf jeden Fall. Man kann nicht leugnen, dass sie da öfter Probleme haben als woanders, wenn sie Hand in Hand laufen oder wenn sie von anderen als queer wahrgenommen werden.
Würden Sie so weit gehen, diese Kieze als "No-Go-Areas" für queere Muslime zu bezeichnen?
Keinesfalls. Ich selbst bewege mich mittlerweile wieder öfter in diesen Bezirken. Viele Treffpunkte für queere Muslim*innen befinden sich genau dort. Wir dürfen die Bezirke natürlich nicht über einen Kamm scheren. Stattdessen müssen wir zielgerichtete Maßnahmen ergreifen. Also: Workshops in Schulen, kontroverse und ehrliche Auseinandersetzungen mit islamischen Verbänden und mehr Kampagnen gegen religiös oder politisch begründeten Hass.

Zur Person: Tugay Saraç
Tugay Saraç wurde 1997 in Berlin geboren. Er arbeitet in der liberalen Ibn Rushd – Goethe Moschee als Bildungsreferent und ist Projektleiter der Anlaufstelle Islam und Diversity, einer Anlaufstelle für queere (Ex-) Muslime und -Musliminnen. Als Bildungsreferent gibt Tugay Saraç regelmäßig Workshops, zu den Themen Salafismus, Antisemitismus, Queerness im Islam und zu Frauenrechten.
Woher kommt diese Querfeindlichkeit, was sind die Wurzeln?
Für viele migrantische Personen in Deutschland ist das einzige, was Identität stiftet, der Islam. Sie fühlen sich weder Deutschland zugehörig noch den Ursprungsländern, wo ihre Familien herkommen. Da fehlt es an Anknüpfungspunkten.
Orte, wo sie ihre Identität ohne Benachteiligung ausleben können, finden sie dann in islamischen Strukturen. Wenn sie sich anpassen, werden sie hier als Muslime wahrgenommen und nicht als "Ausländer" mit zu dunklen Haaren oder mit einer "falschen Hautfarbe".
Queerfeindlichkeit ist dann der gemeinsame Nenner?
Wenn Menschen andocken in diesen Gemeinden, hören sie Dinge wie: "Der Westen will den Islam zerstören" oder "Queerness ist westlich". Damit haben jene Muslime und Musliminnen etwas, womit sie sich abgrenzen können: als moralische Muslime von den "dekadenten Europäern", die ihre Moral verloren haben. Das gibt ihnen eine Gelegenheit klarzustellen: Ich bin mit meiner Identität etwas Besseres als die, ich bin ein Mensch mit Moral.
Was bedeutet das für queere Muslime und Musliminnen?
Sie hören von klein auf von ihrer Familie oder vom Imam oder sie lesen es im Internet: "Queere Menschen kommen in die Hölle." Wer beispielsweise sein Schwulsein auslebt, der begeht damit eine der schwersten Sünden gegen Gott – so wird es vielen vermittelt.
Viele queere Muslime und Musliminnen glauben, sie seien die einzigen auf dieser Welt. Das Gefühl der Isolation, allein in dieser vermeintlichen schlimmen Sünde zu leben, führt dann dazu, dass Menschen depressiv oder sogar suizidal werden.
Ein queerer Lehrer einer Moabiter Schule hat kürzlich beklagt, er sei von muslimischen Schülern und Schülerinnen massiv gemobbt worden. Der Queerbeauftragte des Landes Berlin, Alfonso Pantisano, verwies dann darauf, dass es Queerfeindlichkeit auch in der katholischen Kirche gebe.
Ich bin es leid, immer dieses Gerede von wegen: Bei Katholiken gibt es das auch und bei Jüdinnen und Juden auch. Das kann alles sein, das muss auch angesprochen werden. Aber es ärgert mich sehr, dass das Problem bei Muslimen so kleingeredet wird. Queerfeindlichkeit in muslimischen Communitys ist ein riesiges Problem.
Auf unsere Moschee wollte eine Terroristengruppe aus Tadschikistan einen Anschlag verüben, weil wir eine Regenbogenflagge gehisst haben. In einem Magazin des IS wurden wir als Terrorziel und Ort der Teufelsanbetung genannt.
Das ist ein qualitativer, aber auch ein quantitativer Unterschied. Menschen werden bedroht, wenn sie sich über die Religion in Verbindung mit Queerness äußern. Da habe ich eine ganz große Meinungsverschiedenheit nicht nur mit unserem Queerbeauftragten, auch mit vielen anderen Politikern. Wenn wir das kleinreden, dann lassen wir die Leute alleine.
Warum dringen Sie nicht durch?
Ich war 2023 bei der Deutschen Islamkonferenz und wollte dieses Thema unterbringen. Es gab ein Werkstattgespräch zu innermuslimischer Intoleranz. Als ich das Thema Queerfeindlichkeit angesprochen habe, sind die Gesichter der Verbandsleute
rot angelaufen. Die Verbände haben es geschafft, dass das Thema Innermuslimische Intoleranz komplett gestrichen wurde von der Islamkonferenz.
- eigenes Interview
- eigene Berichterstattung
- berlin.de: Verfassungsschutzbericht für Berlin 2024
- maneo.de: Pressemitteilung zum Maneo-Report 2024