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Berliner Ermittler macht sich Sorgen: "Rechtsstaat am Ende"


"Rechtsstaat am Ende"
Oberstaatsanwalt beklagt katastrophale Zustände in Justiz

dpa, Von Jutta Schütz

28.02.2021Lesedauer: 4 Min.
Nahaufnahme einer Justitia (Symbolbild): Sie gilt als Symbolbild für Recht und Gerechtigkeit.Vergrößern des BildesNahaufnahme einer Justitia (Symbolbild): Sie gilt als Symbolbild für Recht und Gerechtigkeit. (Quelle: U. J. Alexander/imago-images-bilder)
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Ein Oberstaatanwalt hat sich den Frust von der Seele geschrieben: In einem Buch klagt er die katastrophalen Zustände der Justiz an. Das ist nicht nur in Berlin ein Problem.

Ein Berliner Ermittler redet Klartext. Aus seiner Sicht läuft bundesweit viel falsch in Anklagebehörden. Der Abteilungsleiter für Kapitalverbrechen in der Staatsanwaltschaft der Hauptstadt hat sich seine Sorgen von der Seele geschrieben. Und er will den Rechtsstaat retten.

DNA-Spuren werden über Monate nicht ausgewertet. Dringend verdächtige Vergewaltiger oder Großdealer kommen aus der U-Haft, weil ihr Prozess nicht fristgemäß beginnt. Richter sprechen Urteile auch im "Namen der Eile" – weil Ermittler hoffnungslos überlastet seien und Kapazitäten fehlten, schreibt der Berliner Oberstaatsanwalt Ralph Knispel in seiner Analyse, die am 1. März herauskommt. Der Buchtitel "Rechtsstaat am Ende" hat kein Fragezeichen.

Knispel (Jahrgang 1960), der neben Statistiken auf eigenes Erleben und Erfahrungen von Kollegen zurückgreift, sieht ein Versagen des Staates. Er erfülle längst nicht mehr seine Aufgabe, die innere Sicherheit zu wahren. "Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass unser Rechtsstaat in Teilen nicht mehr funktionsfähig ist." Dennoch kämpften viele mit großem Einsatz gegen die "enorme Schieflage", die "katastrophalen Zustände in der deutschen Justiz".

Deutsche Staatsanwaltschaften schlossen laut Buch 2019 fast fünf Millionen Verfahren ab – doch fast 57 Prozent davon endeten nicht mit einer Anklage, sondern Einstellung, obwohl bei 28 Prozent der eingestellten Ermittlungen Verdächtige bekannt waren.

"55 Prozent der Kriminellen können sich darauf verlassen, nicht belangt zu werden"

In Berlin könnten sich 55 Prozent der Kriminellen darauf verlassen, nicht belangt zu werden, schreibt Knispel sarkastisch. Die Hauptstadt habe bundesweit den Spitzenplatz bei der Anzahl der registrierten Straftaten pro 100.000 Einwohner (2019: 14.086) und zugleich die niedrigste Aufklärungsquote (2019: 44,7 Prozent).

Polizei und Justiz seien über Jahrzehnte kaputtgespart worden, resümiert der Autor. Das verschaffe Tätern Vorsprung. Bemühungen, das nun zu ändern, reichten nicht. Knispel ist auch Vorsitzender der Vereinigung Berliner Staatsanwälte, in dieser Funktion hat der Beamte sich schon öfter kritisch zu Wort gemeldet.

Überall seien Ermittlungsverfahren komplizierter geworden, hat Knispel notiert. Seit 2010 habe deren Dauer um 20 Prozent zugenommen – mit dem Ergebnis, dass Prozesse verschleppt werden oder wegen Überlänge Strafrabatte fällig werden. Oberlandesgerichte (in Berlin das Kammergericht) haben demnach 2019 wegen zu langer U-Haft 69 teils schwerster Verbrechen Verdächtige wieder auf freien Fuß gesetzt. In den Jahren davor sei die Größenordnung bundesweit ähnlich gewesen.

Viele Fälle würden nur oberflächlich bearbeitet, weil die Zeit fehle. Als dünn gelte eine Akte mit weniger als 600 Seiten, die mittlere Kategorie umfasse schon 5.000, alles darüber sei dick. Gerechtigkeit nach Stoppuhr könne nicht funktionieren, so Knispel.

Er berichtet von einem psychisch Kranken, der in Berlin einen Mann tötete. Es habe sich herausgestellt, dass der Täter zuvor wiederholt mit Gewalttaten aufgefallen war, doch einige dieser Verfahren seien eingestellt worden. Er wolle den Gedanken nicht vertiefen, ob die Tötung zu verhindern gewesen wäre.

Auch die Polizei ist betroffen

Nicht nur in der Justiz gebe es "katastrophale Zustände" und eine schleichende Erosion, meint Knispel. So gehöre es zum Polizeialltag, dass Ermittler mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu Einsatzorten fahren und mit veralteter Technik gegen international agierende und technisch hochgerüstete Kriminelle vorgehen sollen. Der TV-"Tatort" am Sonntagabend sei die Illusion einer funktionierenden Staatsmacht.

Der Respekt vor den Vertretern der Staatsmacht sei im Sinkflug, mahnt Knispel, der selbst schon im Gerichtssaal angepöbelt wurde. Wenn dazu Resignation, Frust und Vertrauensverlust im Kern des Systems kommen, ergebe das eine "explosive Gemengelage". Der Kontrollverlust des Staates müsse beseitigt, das Vertrauen der Bürger zurückgewonnen werden.

"Für mich ist die Rettung unseres Rechtsstaats eine Herzensangelegenheit" – es sind große Worte, mit denen Knispel Alarm schlägt und Änderungen anmahnt. Diese dürften nicht von der Kassenlage der Bundesländer abhängen. Der vom Bund besiegelte Pakt für den Rechtsstaat mit 220 Millionen Euro sei ein erster Schritt in die richtige Richtung.

Auch die jahrelang verdrängten Probleme der Clankriminalität seien erkannt, bescheinigt Knispel Bundes- und Landesbehörden. In Berlin werden nun selbst kleine Verstöße verfolgt, dazu gebe es Gewerbe- und Finanzkontrollen. Auch in Nordrhein-Westfalen wird verstärkt kontrolliert – eine Strategie der 1.000 Nadelstiche.

Dennoch sei es 5 nach 12 – die Gegenseite habe einen enormen Vorsprung und demonstriere die Missachtung hiesigen Rechts, so der Ermittler. In Essen, Berlin und Duisburg kontrollierten kriminelle Banden ganze Stadtviertel. Drogenhandel, Schutzgelderpressung, Sozialbetrug, Mord - in Berlin sollen Clanmitglieder für ein Viertel aller Fälle der Organisierten Kriminalität verantwortlich sein.

65.000 Euro für die Abschiebung eines Clanmitglieds

In Bremen habe 2019 die Abschiebung eines Clanmitglieds mit großem Personalaufwand 65.000 Euro gekostet, rechnet der Autor vor. Der Mann sei ein zweites Mal eingereist, wieder abgeschoben worden. Er habe den Rechtsstaat vorgeführt.

Aussteigern mit staatlichen Mitteln zu helfen oder gar Kinder aus solchen Familien in staatliche Obhut zu nehmen, seien zwar hehre Ziele, findet Knispel. Nur die Gesetze dafür gebe es nicht.

Die Berliner Justizverwaltung will sich bislang nicht zu dem Buch äußern. Man kenne den Text nicht, hieß es.

Verwendete Quellen
  • Nachrichtenagentur dpa
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