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Zum journalistischen Leitbild von t-online.CSD trotzt AfD-nahem Bürgermeister Dieses Jahr weht auch keine Regenbogenfahne auf der Kirche

Vergangenes Jahr verweigerte der Oberbürgermeister eine Regenbogenflagge am Rathaus – aus Protest kamen Tausende zum CSD nach Pirna. Dieses Jahr rechnen die Veranstalter abermals mit einem Massenauflauf.
Es ist nun ungefähr ein Jahr her: Christian Hesse scrollt in der Mittagspause durch sein Handy – und traut seinen Augen nicht. Moderatorin Bettina Böttinger ruft zur Teilnahme am CSD Pirna auf. Eine Woche später folgte Komiker Hape Kerkeling. Dann Carolin Kebekus.
"Das war überwältigend für uns", sagt Pirnas CSD-Chef heute. Zuerst seien die Veranstalter mit der Aufmerksamkeit überfordert gewesen. Das Sicherheitskonzept musste angepasst werden. "Wir wollten niemandem eine Angriffsfläche bieten – und das ist uns ziemlich gut gelungen."
Der Grund für die Solidaritätswelle
Tim Lochner, der mit Unterstützung der AfD zum Oberbürgermeister gewählt wurde, hatte damals erst angekündigt, zum CSD keine Regenbogenfahne mehr am Pirnaer Rathaus zu hissen. Später zog Lochner, in einem mittlerweile gelöschten Facebook-Post, einen Vergleich zwischen der Regenbogenfahne und einer Hakenkreuz-Fahne.
Die prominenten Aufrufe führten zu einem Besucherrekord. 6.500 Menschen kamen vergangenes Jahr, laut Veranstalterangaben, zum CSD in Pirna – und machten das Event in den Tagen danach zum Stadtgespräch. Die Resonanz sei überwiegend positiv gewesen – aus der Bevölkerung wie von den Einzelhändlern, erinnert sich Hesse.
Doch der Wirbel aus dem vergangenen Jahr sei schnell wieder abgeklungen. Dabei wird dieses Jahr gar keine Regenbogenflagge zum CSD über Pirna wehen. Die evangelische Kirche, die letztes Jahr demonstrativ einsprang und die Fahne in Sichtweite zum Rathaus hisste, wird saniert. Eine Alternative hätte der Verein in Pirna trotz intensiver Suche nicht gefunden.
Hesse plant dennoch mit 5.000 bis 6.000 Teilnehmenden. "Schließlich sind wir fast die einzige Stadt in Deutschland, an der keine Regenbogenflagge an einem öffentlichen Gebäude hängt", sagt er.
Für Pirna sind das immense Dimensionen. Zum Vergleich: Das Stadtfest zieht etwa 10.000 Besuchende an einem Tag an – die sich aber über die gesamte Innenstadt verteilen. Beim CSD konzentrieren sich alle Teilnehmer punktuell auf den Marktplatz. In den Jahren vor 2024 kamen hingegen nur wenige Hunderte Menschen.
Trotz der symbolischen Verweigerung funktioniere die praktische Zusammenarbeit mit der Stadt weiterhin. Das Rathaus lege dem CSD keine Steine in den Weg, die Genehmigungen laufen wie gewohnt.
Doch das Verhältnis ist belastet: Nach Lochners Facebook-Post gab es keine Gespräche mehr zwischen CSD-Veranstaltern und Oberbürgermeister. "Wir haben eigentlich gehofft, dass wir zu einem Klärungsgespräch eingeladen werden", sagt Hesse. "Aber dazu ist es nie gekommen."
Wie reagiert Pirna auf die neue Mega-Veranstaltung?
Die Stadtgesellschaft sei "völlig gespalten", bilanziert Hesse. Die Hälfte sei tolerant, die andere Hälfte "völlig gegen die queere Gesellschaft".
Neben dem CSD betreibt der Verein auch einen Queertreff – die einzige Anlaufstelle explizit für queere Menschen im gesamten Landkreis. Hier finden neben Beratungen auch regelmäßige Veranstaltungen wie Gesprächskreise oder Feste statt.
"Am Anfang habe ich noch viel mit Leuten gesprochen und versucht, unsere Arbeit zu verteidigen. Aber jetzt sage ich mir: Ich muss mich für gar nichts mehr rechtfertigen", erklärt Hesse. "Manche Menschen in Pirna sind so festgefahren – die erreichst du nicht mehr."
Für Hesse bedeutet das auch, mit seinem Partner nicht Händchen haltend durch die Gassen von Pirna zu laufen, "um keine Angriffsfläche zu bieten."
Der CSD soll trotz allem ein geschützter Raum bleiben. Mit begleiteter Demo vom Bahnhof zum Marktplatz. Mit Sicherheitsdienst und Polizeipräsenz. "Das ist unsere Pflicht", betont Hesse. Menschen sollten wenigstens an diesem Tag angstfrei sie selbst sein können.
Am Ende wird auch eine Regenbogenfahne wehen – auf der Bühne am Marktplatz. Nicht so prominent wie am Kirchturm. Aber weiterhin sichtbar.
- Telefonat mit Christian, Vorsitzender des CSD Pirna e.V.
- mdr.de: Kirche in Pirna wehrt sich gegen NS-Vergleich von AfD-nahem Bürgermeister