Taktik-Experte analysiert VfB-System "Wenn der Glaube schwindet, wird es schwer"

Von Johann Schicklinski
Mit dem Amtsantritt von Alexander Zorniger sollte beim VfB Stuttgart eine neue Zeitrechnung anbrechen. "Hochgeschwindigkeitsfußball", permanentes Pressing und schnelle Torabschlüsse nach Balleroberungen kündigte der neue Trainer der Schwaben an.
Der Start allerdings missriet total. Nach drei Spielen steht der Deutsche Meister von 2007 mit null Punkten und 4:10 Toren auf einem Abstiegsrang. Taktik-Experte Christian Titz sprach mit t-online.de über das System, dass Zorniger beim VfB spielen lässt, über fehlendes Matchglück und über den "Faktor Psyche".
t-online.de: Herr Titz, Alexander Zorniger trat sein Traineramt beim VfB Stuttgart mit der Vorgabe an, "Hochgeschwindigkeitsfußball" spielen zu lassen. Er kündigte vor der Saison ein laufintensives System an, in dem der Gegner durch permanentes Pressing zu Fehlern gezwungen werden soll sowie ein blitzschnelles Umschaltspiel. Wie weit ist der VfB angesichts des Fehlstarts bei der Umsetzung dieser Taktik?
Christian Titz: Ich finde das System, dass Alexander Zorniger beim VfB Stuttgart spielen lässt, interessant. In den ersten drei Spielen waren Vorgaben und Umsetzung klar zu erkennen. Bei der Spieleröffnung lenken sie den Gegner zu einer Seite, laufen ihn mit zwei Spielern im höchsten Tempo an, zwingen den Gegner zu einem Pass in die Mitte und versuchen den Ball zu erobern, um schnell in den Rücken der unorganisierten Abwehrformation zu passen. Durch dieses gelenkte Pressing haben sie den Gegner zu Fehlern gezwungen und der VfB kam zu Torchancen. Doch die Chancennutzung war nicht immer konsequent, während die Stuttgarter Gegner eiskalt zuschlugen.
Zorniger hat die Art und Weise, wie seine Profis spielen sollen, vor der Saison gegenüber den Medien offen artikuliert. War das zu transparent - immerhin hat der VfB in den Heimspielen gegen Köln und Frankfurt sowie der Auswärtspartie beim HSV zehn Gegentore kassiert?
Bisher versuchten die Gegner unter anderem, defensiv gut zu stehen und vorne die Konterchancen gegen eine hoch verteidigende Stuttgarter Elf zu nutzen. Oftmals bekam der VfB auf den Ballbesitzer keinen ausreichenden Druck zur Passverhinderung und es reichte ein langer Ball in den Rücken der Abwehrreihe, um eine Gelegenheit zu generieren. Dazu kamen Faktoren wie die Gelb-Rote Karte für Florian Klein in Hamburg oder die Rote Karte für Przemyslaw Tyton im Spiel gegen Frankfurt. Aber man darf nicht vergessen, dass der VfB in jedem Spiel gute Möglichkeiten hatte, das Ergebnis anders zu gestalten.
Liegt der Fehlstart also am fehlenden Matchglück?
Die Ergebnisse lassen sich nicht ausschließlich auf fehlendes Glück reduzieren. Die Spiele haben sicher einen aus VfB-Sicht unglücklichen Verlauf genommen, aber man hat auch gesehen, dass die Abstimmung auf dem Platz und die Automatismen noch nicht perfekt funktionieren. Die Gegner haben dies gnadenlos ausgenutzt.
Sie haben die Platzverweise angesprochen. Zorniger hat nach der Pleite gegen die Eintracht das verlieren von Schlüsselduellen moniert. Funktioniert ein solches auf Tempo ausgelegtes System nur, wenn jeder Spieler die ihm zugedachte Rolle erfüllt und keinen Fehler macht?
Fußball ist eine Sportart, in der Tore aus Fehlern entstehen. Die Spiele hätten aber wie erwähnt ohne Weiteres anders ausgehen können. Nehmen wir das letzte Spiel gegen Frankfurt: Wenn Martin Harnik den Ball ins leere Tor schießt und seine Mannschaft mit 2:1 in Führung bringt, ist das auch für die Psyche eminent wichtig und die Partie nimmt einen anderen Verlauf. Oder bei der Partie in Hamburg: Hier hat sich Stuttgart gut präsentiert und hat bis kurz vor Schluss geführt. Der Knackpunkt war meines Erachtens die Gelb-Rote-Karte für Klein. So entstand Unruhe und Unordnung, die der HSV letztlich in der Schlussphase zwei Mal ausgenutzt hat.
Ist es auch eine konditionelle Frage, ob der "Hochgeschwindigkeitsfußball" funktioniert?
Mit zehn gegen Elf ist es natürlich schwerer, weil das eigene Spielsystem verändert werden muss, dem Gegner bieten sich mehr Räume, das eigene Anlaufverhalten sich verändert. Klar ist, dass für das System absolut fitte Spieler notwendig sind. Mit einem Mann weniger wird es selten einfacher.
Stuttgart hatte bereits in der letzten Saison eine eher wacklige Defensive – nun gab es schon wieder zehn Gegentore. Mit Timo Baumgartl ist von Zorniger vor der Saison ein 19-Jähriger zum Abwehrchef ernannt worden. Neben ihm spielt in der Innenverteidigung mit Adam Hlousek ein gelernter Außenverteidiger, Linksverteidiger Emiliano Insua und Torwart Tyton sind neu. Fehlt dem VfB vor allem auch die defensive Eingespieltheit?
Man darf nicht vergessen, dass mit Antonio Rüdiger ein Leistungsträger erst verletzt war und dann den Klub verlassen hat. Generell muss die ganze Mannschaft in Zornigers System defensiv mitarbeiten. Werden dann entscheidende Zweikämpfe verloren, Abstände in der Abwehrkette zu groß, kein Druck auf den Passgeber ausgeübt oder stimmt das Stellungsspiel einmal nicht, kommt der Gegner zu Konterchancen. Hier sind dann die Führungsspieler gefordert, die schon viele schwierige Situationen erlebt haben und an denen sich die relativ junge VfB-Mannschaft aufrichten kann.
Sie haben den psychologischen Aspekt bereits angesprochen. Nach einer guten Vorbereitung schien der Glaube ans neue System beim VfB ausgeprägt. Zuletzt machte es den Eindruck, als schwinde das Selbstvertrauen mit jedem Gegentor ein wenig mehr. Wie beurteilen Sie diese Problematik?
Natürlich ist es einfacher, Vertrauen in ein System zu haben, wenn man es erfolgreich praktiziert. Für Zorniger und den VfB ist es wichtig, jetzt nicht nur auf die Ergebnisse zu schauen, sondern auf die positiven Ansätze, die es gab. Stuttgart hat das in der Offensive teilweise richtig gut gemacht und sich so zahlreiche Chancen erspielt. Daran müssen sie sich aufhängen, denn klar ist: Wenn der Glaube ans eigene System schwindet, wird es schwer.
Zorniger hat angekündigt, von seinem System trotz des schwachen Starts nicht abrücken zu wollen. Wie bewerten Sie diese Ankündigung?
Ich finde es gut, dass er das durchziehen will. Aber Bundesliga-Fußball ist Ergebnisfußball und wenn die Punkte fehlen, nehmen rund um den Klub die Unruhe und die Zweifel zu. Das erschwert dann das Arbeiten für den Trainer und die Spieler.
Hat der VfB die richtigen Spieler für Zornigers System?
Ich glaube schon, dass Stuttgart die richtigen Spieler im Kader hat, insbesondere in der Offensive. Da haben sie die Schnelligkeit und individuelle Qualität, die für das System vonnöten sind.
Bekommen der VfB und Zorniger bald die Kurve?
Eine Prognose will ich nicht wagen, denn ich weiß, wie schnell man im Fußball in eine Negativspirale gerät und gewisse Dinge eine Eigendynamik entwickeln. Stuttgart braucht jetzt vor allem Ergebnisse, damit Ruhe einkehrt und Alexander Zorniger und seine Spieler weiter zielorientiert arbeiten können. Kann der VfB sein Potenzial dauerhaft abrufen und seine Fehleranfälligkeit minimieren, dann wird er auch Siege einfahren.
Mehr Informationen zu Christian Titz, der schon bei großen Vereinen wie Bayer Leverkusen, Schalke 04 oder Ajax Amsterdam hospitierte, bei Klubs wie Alemannia Aachen oder dem SV Waldhof Mannheim tätig war und den FC Homburg als Chefcoach 2012 in die Regionalliga Südwest führte, finden Sie bei Facebook und seinem YouTube-Channel.