Der DDR-Jahrhundertsportler Sein erster Trainer war ein Linienbus
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Täve Schur war der erste Sport-Superstar der DDR. Schur war der Juri Gagarin der Landstraße und galt als ehrlichste Haut des Ostens. Wegen seiner politischen Haltung geriet das Rad-Idol später in die Kritik.
Sein erster Trainer war ein Linienbus. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg strampelte der Teenager Gustav-Adolf Schur täglich von seinem Heimatort Heyrothsberge ins sechs Kilometer entfernte Körbelitz – und lieferte sich dabei regelmäßig Wettrennen mit den Fahrern. Mit stolzgeschwellter Brust berichtete Schur seinen Eltern von seinen ersten Erfolgen gegen den Bus. "Damals bin ich mit Holzschuhen und einem alten Rad gefahren", erinnert sich Schur in der MDR-Talkshow "Riverboat". Es war der Startschuss zu einer großen Karriere.
Denn der Junge aus der Nähe von Magdeburg, den alle nur mit seinem Spitznamen Täve riefen, entwickelte sich zum größten Sportler, den die DDR je hatte. Dazu wählten ihn die Bürger 1990 offiziell mit fast der Hälfte aller Stimmen – zweieinhalb Jahrzehnte nach dem Ende seiner aktiven Laufbahn. Diese war gepflastert mit beeindruckenden Erfolgen: Schur gewann sechsmal die DDR-Meisterschaft, viermal die DDR-Rundfahrt, holte 1956 in Melbourne Olympia-Bronze und 1960 in Rom Silber. Am bekanntesten machten ihn aber seine rasanten Auftritte bei der Friedensfahrt.
"Wir gaben den Menschen Hoffnung und ein paar Funken Lebensfreude"
Als erster deutscher Sieger des in den Ländern des ehemaligen Ostblocks populären Etappenrennens – oft als "Tour de France des Ostens" bezeichnet – setzte sich Schur 1955 ein sportliches Denkmal. Millionen Menschen strömten in den 1950er- und 60er-Jahren an die Strecke und Schur wurde zum ersten großen Sportstar der DDR – noch bevor staatliche Sportförderung und institutionelles Doping das vergleichsweise kleine Land zu einer Sportgroßmacht machten. Täve hatte in der DDR einen ähnlichen Bekanntheitsgrad wie Juri Gagarin, der erste Mensch im Weltall. Ihn kannte jedes Kind.
"Wir gaben den Menschen damals Hoffnung und ein paar Funken Lebensfreude", erklärte Schur zu seinem 90. Geburtstag im Jahr 2021 dem "Berliner Kurier": "Vielleicht liegt es daran, dass ich 57 Jahre nach meinem Abschied von der Friedensfahrt immer noch bei Lese- und Diskussionsabenden vor vollen Sälen sitze."
Ein weiterer Grund ist sicher auch seine bescheidene, volksnahe Art. Noch immer wohnt der mittlerweile 92-Jährige in seinem Heimatort Heyrothsberge. Schur gilt als bodenständig und unkapriziös. In einer Talkshow berichtete er vor zwei Jahren, wie er sich mit einem Dampfgarer Kartoffeln mit Brokkoli macht. Dazu ein Spiegelei – und fertig! "Eine Meisterleistung. Schmeckt doch, wenn man Hunger hat", fügte die Radsport-Legende mit einem Schmunzeln hinzu.
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Dennoch ist es im Leben von Schur einsamer geworden, seitdem seine Frau Renate im Mai 2020 nach 58 Jahren Ehe starb. Doch seine vier Kindern kümmern sich um ihn. Noch immer ist er vom Radfahren begeistert. Zu seinem vorletzten runden Geburtstag gab er an, noch bis zu 4.000 Kilometer jährlich zu fahren – mit 80 Jahren. In den vergangenen Jahren machten dem bekannten Pedaleur allerdings das rechte Knie und der rechte Arm Probleme. Im Mai 2022 saß er bei der Rügen-Tour für krebskranke Kinder dennoch auf dem Rad. Die Veranstaltung sei ihm ein "inneres Anliegen", verriet Schur dem "Berliner Kurier".
Mischung aus Modrow, Astaire und Herberger
Wohl auch wegen Aktionen wie dieser ist der Vater von vier Kindern Projektionsfläche für viele Fans. Noch immer bekommt er Fanpost – vornehmlich aus dem Osten Deutschlands. "Er hat in der damaligen DDR im Sport etwas bewegt, was sehr wenige zustande gebracht haben", lobte das mittlerweile verstorbene westdeutsche Radsport-Idol Rudi Altig. Der "Spiegel" charakterisierte Schur 1990 als "bescheiden, immer fröhlich, sieht aus wie eine Mischung aus Hans Modrow, Fred Astaire und Sepp Herberger und redet auch so."
Obwohl sogar Sportstätten nach ihm benannt sind, machte Schur nie übermäßig viel Aufhebens ums sich. Dabei war der Hype um ihn groß, zeitweise sogar riesig. Nach seinem WM-Titel 1958 jubelten ihm Zehntausende Menschen bei seiner Ankunft am Berliner Ostbahnhof sowie der Triumphfahrt durch die DDR-Hauptstadt im offenen Cabriolet zu. Teilweise erinnern die Bilder an die Ankunft der 54er-Fußball-Weltmeister im Westen Deutschlands. Der Täve-Hype schien 1958 seinen Höhenpunkt erreicht zu haben.
Eine Niederlage machte ihn endgülitg zur Ikone
Endgültig zum Volkshelden stieg Schur allerdings zwei Jahre auf – und zwar aufgrund einer vermeintlichen Niederlage. Als er 1960 bei der WM auf dem Sachsenring vor etwa 200.000 Zuschauern an den Start ging, erwartete die ganze DDR von ihm nicht weniger als den dritten Titel in Folge. Es siegte allerdings völlig überraschend Schurs Landsmann Bernhard Eckstein. Als dieser zum entscheidenden Ausreißversuch antrat, hielt sich Schur uneigennützig zurück und ebnete Eckstein den Weg zum Titel.
Schur hat die Situation noch heute genau vor Augen: "Der Belgier (Willi Vandenberghe, Schurs größter Konkurrent, Anm. d. Red.) guckte verdutzt, orientierte sich aber an mir und ging nicht mit", erinnert er sich: "Da rief ich: 'Ecke, fahr'!'" Obwohl Schur zugibt, dass er schon gerne zum dritten Mal Weltmeister geworden wäre, zweifelt er nicht an seiner Entscheidung: "Ecke ist mein Freund gewesen. Da habe ich nicht lange überlegen müssen, um ihm die Möglichkeit für diesen Triumph zu geben."
Der "Mythos Täve"
Diese Aktion begründete den "Mythos Täve" und sorgte mit dafür, dass er ab 1953 neunmal zum DDR-Sportler des Jahres gewählt wurde. Doch die damit einhergehende Popularität machte sich die politische Führung immer mehr zu eigen und nutzte den Radfahrer für ihre Propagandazwecke. Die DDR war ein junger Staat und suchte für ihre Bürger nach einem identitätsstiftenden Moment. Da kam ein Vorzeigesportler wie Schur gerade recht.
In der DDR sonnten sich SED-Politiker gern im Ruhm des Sporthelden – und die Staatsmedien feierten Schur als sozialistischen Musterbürger. Der Rad-Star gefiel sich in dieser Rolle. Er gab sich stets als linientreuer, loyaler DDR-Bürger. Schur war Mitglied der SED und saß von 1958 bis 1990 sogar in der Volkskammer.
DDR als angebliches "Musterland an sportlicher Gesundheit"
Seine DDR-Treue bescherte ihm nach der Wende reichlich Kritik – der die Radsport-Legende immer wieder selbst Nahrung bot. Bis heute bestreitet Schur das Zwangsdoping in der DDR; 2017 erklärte er in einem Interview mit der Zeitung "Neues Deutschland", dass der Sport in der DDR nicht kriminell gewesen sei. Er bezeichnete die DDR sogar als "Musterland an sportlicher Gesundheit".
Aussagen wie diese sorgten dafür, dass Schur die Aufnahme in die "Hall of Fame" des deutschen Sports sowohl 2010 als auch 2017 versagt wurde. Allein die Nominierung bezeichnete Antidopingkämpfer Henner Misersky schon als "Schlag ins Gesicht der vom Leistungssport in der DDR aus politischen Gründen Ausgegrenzten, der Dopinggegner und Opfer".
Ines Geipel, Autorin und ehemalige Vorsitzende des Doping-Opfer-Hilfevereins, ging sogar noch weiter und fragte sich, warum bei einer Aufnahme von Schur nicht auch Stasi-Chef Erich Mielke posthum in die "Hall of Fame" des deutschen Sports aufgenommen werden solle.
Schur selbst hat bei dem Thema längst eine Trotzhaltung eingenommen. "Und wenn man mir heute anbieten würde, dass ich aufgenommen werde: Der Fall ist für mich erledigt", sagte er der "Magdeburger Volksstimme".
Auch mit 92 Jahren sorgt er für kontroverse Diskussionen
Er hätte jedoch prominente Fürsprecher. "Wenn Deutschland eine Hall of Fame des deutschen Sports kreieren will, dann gehört Täve Schur dazu. Egal, welche politische Einstellung er hat. Es geht um den Sport und nicht um persönliche Dinge", sagte beispielsweise Ex-Boxer Henry Maske.
Auch Sportphilosoph Gunter Gebauer unterstützte das Anliegen und attestiert Schur, ein "tadelloser Sportsmann" gewesen zu sein. Er habe daher Verständnis dafür, dass jemand, der so sehr vom Sportsystem der DDR profitiert habe, "und so sehr hofiert wurde von der Politik, diese Politik und auch ihre Vertreter im Nachhinein für akzeptabel halten musste".
Auch mit 92 Jahren sorgt Täve Schur für kontroverse Diskussionen: Für viele Menschen – besonders aus dem Osten der Republik – ist er einer der bedeutendsten und populärsten deutschen Sportler überhaupt; andere sehen in ihm einen stets regimetreuen DDR-Karrieristen. Schur selbst sagte einmal, dass er manchmal darüber staune, was er erreicht habe. Ohne den Linienbus in Heyrothsberge wäre es wohl nie so weit gekommen.
- tagesspielgel.de: Täve Schur verklärt DDR-Sport: "Ein Musterland an sportlicher Gesundheit"
- sueddeutsche.de: Täve schließt ab - Schur feiert 90. Geburtstag fast allein
- faz.net: Täve ungewendet
- berliner-zeitung.de: Täve Schur wird 90: Das Radsport-Idol ganzer Generationen (kostenpflichtig)
- deutschlandfunk.de: "DDR-Sport war vorzüglich aufgebaut"
- deutschlandfunk.de: Ärger um Täve-Schur-Nominierung
- deutschlandfunk.de: Warum das Hall-of-Fame-Projekt an Täve Schur scheitert
- deutschlandfunkkultur.de: "Es war ein tadelloser Sportsmann"
- deutschlandfunk.de: Journalisten und Dopingopfer unter Kreuzfeuer
- deutschlandfunkkultur.de: Die umstrittene Legende
- deutschlandfunkkultur.de: Die Radsportlegende Ostdeutschlands
- ostsee-zeitung.de: Mit 91 Jahren: Ex-Friedensfahrt-Sieger "Täve" Schur tritt auf Rügen noch mal in die Pedale (kostenpflichtig)
- ostsee-zeitung.de: Radsportlegende Täve Schur (91) auf Rügen: "Wir müssen daran denken, was nach uns kommt" (kostenpflichtig)
- youtube.de: Heute esse ich kaum noch Fleisch. Täve Schur bei Riverboat (Video-Beitrag vom MDR)
- youtube.de: Täve Schur ist 90 - Radsport Legende im Porträt (Video-Beitrag vom ZDF)
- mdr.de: Täve Schur - der legendäre Rennradler
- mdr.de: Die "Tour de France des Ostens": Faszination Friedensfahrt
- wdr.de: Erlebte Geschichten mit Täve Schur
- mz.de: Täve Schur: Linienbus als erster Gegner
- berliner-kurier.de: Krieg in der Ukraine macht Täve Schur nachdenklich: "Ich denke immer öfter an die Friedensfahrt"
- sportbuzzer.de: Ex-Radprofi Täve Schur: Ein Zeugnis über das untergegangene Land
- taeves-radladen.de: Gustav-Adolf Schur, genannt Täve