Sprachstörungen gelten bei Kindern als neues Krankheitsbild
Neben klassische Kinderkrankheiten wie Windpocken oder Röteln treten zunehmend Sprachentwicklungsstörungen oder das Zappelphilipp-Syndrom. Sind die neue Krankheiten möglicherweise auch nur Modeerscheinungen?
Wenn die Worte fehlen
Sie stammeln und stottern, bekommen hĂ€ufig keinen vollstĂ€ndigen Satz heraus oder finden nur schwer die richtigen Worte. So geht es etwa jedem dritten Kind im Vorschulalter, wie die gröĂte deutsche Krankenkasse Barmer GEK ermittelte. Und die Probleme bei Jungen sind deutlich gröĂer als bei MĂ€dchen.
"Wir haben eine sehr gute Versorgung fĂŒr Kinder in Deutschland"
Fazit des am Dienstag veröffentlichten Reports, fĂŒr den Daten der 8,3 Millionen eigenen Versicherten ausgewertet wurden: Psychosoziale Krankheitsbilder wie Sprachstörungen bei Vorschulkindern, aber auch KonzentrationsschwĂ€chen und Hauterkrankungen bei Kleinkindern sind auf dem Vormarsch. An mangelnder Ă€rztlicher Betreuung liege das aber nicht. FĂŒr Barmer-GEK-Vizechef Rolf-Ulrich Schlenker lĂ€sst die Entwicklung aufhorchen. Sie sei aber kein Grund zur Beunruhigung: "Wir haben eine sehr gute Versorgung fĂŒr Kinder in Deutschland."
Mehr als eine Million Kinder betroffen
WĂ€hrend danach 20 Prozent aller fĂŒnfjĂ€hrigen Jungen eine LogopĂ€die-Verordnung zur Behandlung ihrer Sprechstörung erhielten, waren es bei den MĂ€dchen 14 Prozent. FĂŒr Barmer-GEK-Vizechef Rolf-Ulrich Schlenker ist das aber kein Grund zur Beunruhigung: "Wir sehen, dass professionelle Sprachförderung in Anspruch genommen wird." Bundesweit liegt der Anteil an Kindern mit Sprech- und Sprachstörungen laut Report bei 10,3 Prozent. Pro Jahr sind davon etwa 1,12 Millionen Kinder zwischen Null und 14 Jahren betroffen. Die Barmer GEK als Branchenprimus zahlt fĂŒr Therapien bei LogopĂ€den nach Worten Schlenkers jĂ€hrlich rund 70 Millionen Euro. Auf alle Kassen hochgerechnet, komme so ein Betrag "von knapp unter einer Milliarde Euro" zusammen.
Sprachstörungen nehmen zu
Eine Sprech- oder Sprachstörung wird nicht durch organische oder mentale Störungen verursacht. Sie liegt vor, wenn ein Kind nicht in der Lage ist kurze, vollstÀndige SÀtze mit angemessenen Worten zu bilden oder zu verstehen. Seit 2004 hat dieses Krankheitsbild nach Aussage der Wissenschaftler um rund 20 Prozent zugenommen.
Zusammenhang mit sozialer Schicht?
"Wir sehen, dass professionelle Sprachförderung in Anspruch genommen wird", sagt Schlenker. Guten Anklang finden auch regelmĂ€Ăige Vorsorgeuntersuchungen fĂŒr Kinder: Die Termine werden im Durchschnitt zu ĂŒber 90 Prozent wahrgenommen. Nur in Stadtstaaten wie Berlin oder Hamburg hinkt die Quote hinterher. Experten sehen einen Zusammenhang mit sozialer Schicht, Migrations- und Milieuproblemen der Eltern. FĂŒr Studien-Mitautor Friedrich Wilhelm Schwartz lĂ€sst sich dies nur vermuten; aus den Daten sei es nicht erkennbar.
Klassische Kinderkrankheiten auf dem RĂŒckzug
Neben die klassischen Kinderkrankheiten wie Windpocken, Scharlach oder Röteln treten der Untersuchung zufolge zunehmend Diagnosen wie die Sprachentwicklungsstörung oder das Zappelphilipp-Syndrom Aufmerksamkeitsdefizit-HyperaktivitĂ€tsstörung (ADHS). Auch diese Diagnose findet sich ĂŒberdurchschnittlich hĂ€ufig bei Jungen: Jeder zehnte NeunjĂ€hrige geht zum Neurologen oder Psychiater (9,6 Prozent). 60 Prozent davon mit der Diagnose ADHS. Zum Vergleich: Bei den neunjĂ€hrigen MĂ€dchen sind es sechs Prozent, davon rund 40 Prozent mit ADHS-Diagnose.
Viele Kinder leiden an Neurodermitis
AuffĂ€llig ist laut Studie auch, dass mehr als elf Prozent aller Kinder zwischen Null und 14 Jahren unter der Hautkrankheit Neurodermitis leiden. Bei den Bis-3-JĂ€hrigen sind es sogar rund 16 Prozent. Besonders hĂ€ufig sind ostdeutsche Kinder betroffen. Nach EinschĂ€tzung von Schwartz sind dafĂŒr wahrscheinlich Umweltbelastungen, aber auch psychologische Faktoren zumindest mitverantwortlich.
"AuffÀllig hohe Diagnosen"
Die Kasse selbst will nicht ausschlieĂen, dass es sich bei den neuen Diagnosen auch um "Modekrankheiten" handeln könnte. VerstĂ€rkte Aufmerksamkeit von Eltern, Erziehern und Ărzten könnten mit den "auffĂ€llig hohen Diagnosen" durchaus zu tun haben. "Und vermutlich treiben die begrĂŒĂenswert hohen Vorsorgeraten diese Diagnosen zusĂ€tzlich nach oben", rĂ€umt Schlenker ein.
Ist das immer frĂŒhere Schuleintrittsalter eine Ursache?
Und mutmaĂt, dass Probleme mit der Sprachentwicklung auch auf ein immer frĂŒheres Schuleintrittsalter zurĂŒckzufĂŒhren sein könnten. In Baden-WĂŒrttemberg, wo er herkomme, wĂŒrden Kinder erst mit fast sieben Jahren und nicht wie etwa in Berlin schon mit fĂŒnfeinhalb eingeschult. Im "SchwabenlĂ€ndle" seien Sprachstörungen bei SchulanfĂ€ngern jedenfalls seltener, sagt Schlenker.