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Guter Vorsatz: Was wir aus der Ruhe zu den Feiertagen lernen können


Dauererregt und abgestumpft
Ein Hoch auf das Nichts

MeinungVon Christoph Schwennicke

26.12.2023Lesedauer: 3 Min.
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Der Mensch ist ein Erregungstier, das ständig nach Triggern für sein Reizsystem sucht. Und gerade deshalb tut die Ruhe dieser stillen Tage so gut. Genau der richtige Moment für einen sinnlosen guten Vorsatz.

Was die letzten Tage war? Nichts. Einfach mal nichts. Und was hat gefehlt? Nichts. Gar nichts. Es war herrlich.

Vor Kurzem feierte Loriot einen runden Geburtstag, den er nicht mehr erlebt hat. Viele seiner Sketche wurden zu diesem Anlass wieder hervorgeholt. Der mit dem Atomkraftwerk unter dem Weihnachtsbaum zum Beispiel. Mein Lieblingssketch kam nicht oft vor. Es ist ein ganz stiller, trockener Cartoon über das Nichts. Ein Mann sitzt im Wohnzimmer. Und sagt auf die Frage seiner Frau aus der Küche, was er denn mache: "Nichts!" Und dann noch mal mit wunderbar tonloser Stimme: "Ich mache nichts!" Seine Frau will ihn zu diesem oder jenem animieren, geh doch spazieren, mach dies, mach das, aber er will einfach das weitermachen, was er gerade macht: nichts. Die Ruhe genießen, bei sich sein. Das Ganze mündet natürlich in Streit.

Ich verstehe Loriots "Hermann" und dessen Sehnsucht gut. Wir leben das ganze Jahr und fast rund um die Uhr in Dauerregung. Abends nach den Spätnachrichten noch mal WhatsApp checken, morgens um sechs nach dem Weckerklingeln der erste Blick auf LinkedIn, Signal, Threema. Und über allem flackern die Push-Nachrichten gewittrig auf. Das Reizsystem in uns will seine Trigger. Und wir geben es ihm. Dauernd. Immerzu. Und immer mehr.

Vor Jahren habe ich von einem interessanten medizinischen Phänomen gelesen. Es nennt sich Priapismus. Und fällt in die Kategorie der erektilen Dysfunktionen. Aber nicht in der Form, die mit blauen Pillen behandelt wird. Sondern umgekehrt. Nicht zu wenig. Sondern zu viel. Unter Priapismus versteht man eine schmerzhafte Dauererektion. Soll ziemlich schlimm sein.

Unsereins lebt in einem Zustand des kommunikativen, des publizistischen Priapismus. Wir leben ja auch davon. Es ist unser Geschäft. Aber ich räume unumwunden ein: Auch als berufsbedingt Dauererregter tut diese Ruhe der Weihnachstage mal richtig gut. Statt alle fünf Minuten der Blick aufs Smartphone, Gespräche bei Fondue oder Raclette mit wahrhaftigen Menschen aus Fleisch und Blut. Die wir mögen, die uns nahestehen, und für die wir auch wirklich etwas tun können. Um die wir uns kümmern können.

Die Agora, der Marktplatz von früher, hat keine Grenzen mehr

Der Mensch, sagt man, ist ein zoon politikon, ein geselliges Tier – und damit ein politisches Tier. Weil das Zusammenkommen, die Griechen haben dafür die Agora, den Marktplatz, als Ort des Geschehens dingfest gemacht. Dort traf man sich, besprach die Dinge – und änderte sie nach einem Mehrheitsbefund, wenn es etwas zu ändern gab.

In der digitalen Welt hat sich diese Agora in ein Universum des Unermesslichen entgrenzt. Es hat keine Grenze mehr. Nicht zeitlich, nicht räumlich. Alles geht uns was an und erreicht uns in Windeseile. Und so erregen wir unser Reizsystem, wenn wir ganz ehrlich sind, mit ganz viel unnützem Tand – und auch mit Schrecknissen, denen wir zugleich ohnmächtig gegenüberstehen, gegen die wir gar nichts tun können. Die dauernde Erregung ähnelt den Folgen übermäßigen Pornokonsums. Unsere Sinne stumpfen ab. Die Sinnlichkeit geht verloren.

Politik setzt auf die Reiz-Reaktions-Muster, denen sich moderne Medien nicht entziehen können. Friedrich Merz zum Beispiel: Kleine Paschas, gemachte Zähne, Kreuzberg oder Gillamoos, der Weihnachtsbaum als deutsches Dingsymbol. Der Unionschef kennt die Knöpfe, die er drücken muss, und die Empörungsmaschine läuft auf Hochtouren. Die Häme und Kritik, die er dabei abbekommt, kann er einkalkulieren. Auch jene, die sich über ihn echauffieren oder lustig machen, betreiben sein Geschäft. Seine Botschaft wird jedes Mal kostenlos mittransportiert wie der Pilotfisch vom Hai.

Gerade an den stillen Tagen verschärft sich dieses Reiz-Reaktions-Muster verrückterweise. Jeder, wirklich jeder Schwachsinn wird dann plötzlich zur Nachricht. So wie die Einlassung des mittlerweile notorisch politisch-priapistischen Außen- und Sicherheitspolitiker Roderich Kiesewetter. Der über Weihnachten allen Ernstes vorschlägt, denjenigen ukrainischen Männern das Bürgergeld hierzulande zu kürzen, die sich dem hilflosen Einzugsbefehl der ukrainischen Regierung widersetzen. Der Mann war mal wirklich gut, kenntnisreich und besonnen. Das Reiz-Reaktions-Muster des politisch-publizistischen Systems hat ihn ungut verändert.

Es gibt kein Entrinnen, ich weiß

Es gibt aus diesem Zirkel kein wirkliches Entrinnen. Ich weiß. Schon gar nicht als Insasse des politisch-medialen Systems. Aber es ist trotzdem nicht falsch, sich in diesen Tagen vorzunehmen, nicht nach Dreikönig gleich wieder in den Zustand des mentalen Priapismus zu verfallen.

Es wird nicht klappen. Natürlich nicht. Aber allein der Gedanke, es könnte öfter mal so sein wie in diesen stilleren Tagen, tut ungemein gut.

Verwendete Quellen
  • Loriot bei youtube, eigene Überlegungen
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