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Antisemitismus bei der Documenta: Es geht längst nicht mehr um Kunstfreiheit


Antisemitismus bei der documenta
Es geht längst nicht mehr um Kunstfreiheit

  • Lamya Kaddor
MeinungEin Gastbeitrag von Lamya Kaddor

22.06.2022Lesedauer: 3 Min.
Meinung
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Banner des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi mit eindeutig antisemitischen Darstellungen wird abgehängt: Am Schluss stand nur noch das leere Gerüst.Vergrößern des Bildes
Banner des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi mit eindeutig antisemitischen Darstellungen wird abgehängt: Am Schluss stand nur noch das leere Gerüst. (Quelle: Hartenfelser/imago-images-bilder)

Die Kunstmesse documenta nimmt den globalen Süden in den Blick. Der Antisemitismus-Skandal zeigt, dass dort noch viel Aufklärung rund um den Holocaust notwendig ist.

Ein erklärtes Ziel der "documenta fifteen" ist es, den Blick des Südens auf die moderne Welt und mithin auf den Westen zu präsentieren. Das ist ein wichtiges Anliegen. Gratulation an die Verantwortlichen, dass sie diese großartige Kunstausstellung, die nur alle fünf Jahre stattfindet und zusammen mit der Biennale di Venezia die wohl wichtigste der Welt für zeitgenössische Kunst ist, auf diese Weise neu erfunden haben.

Die westliche Arroganz gegenüber dem Rest der Welt ist über die vergangenen Jahrhunderte hinweg ebenso falsch wie prägend gewesen für die globalen historischen, politischen und kulturellen Wahrnehmungen. Jeder Schritt, diese Haltung herauszufordern, ist löblich und aller Mühe wert. Nicht nur der Fairness halber täten wir gut daran, vom hohen Ross zu steigen und anderen auf Augenhöhe zu begegnen.

Schon im Eigeninteresse sollten wir uns eher heute als morgen klarmachen, dass der Westen nur noch ein starker internationaler Player unter mehreren ist, neben Russland, China, Indien. Wenn wir etwas wollen, stehen die anderen nicht mehr Gewehr bei Fuß. Auch nicht, wenn wir mit wirtschaftlicher oder militärischer Macht drohen. Die "documenta fifteen", die von indonesischen Künstlern kuratiert wird, liegt somit am Puls der Zeit.

Antisemitismus ist keine Meinung

Dennoch ist es vollkommen unverständlich, wie das Künstlerkollektiv Taring Padi nach der breiten Diskussion über Israelfeindlichkeit und Antisemitismus im Vorfeld der documenta ein Banner wie "People's Justice" präsentieren konnte. Das gigantische Wimmelbild zeigt unter anderem einen Soldaten mit einem Schweinegesicht plus Halstuch mit Davidstern und einem Helm mit der Aufschrift Mossad, dem Namen des israelischen Auslandsgeheimdienstes. Zudem wird ein orthodoxer Jude mit Schläfenlocken, Raffzähnen und SS-Runen auf halbkugeligem schwarzen Hut angedeutet.

Es ist vollkommen richtig, ein solches Bild abzuhängen. Antisemitismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen. Deshalb geht es hier auch nicht um Kunst- oder Meinungsfreiheit.

Lamya Kaddor ist Islamwissenschaftlerin, Religionspädagogin, Publizistin, Gründerin des Liberal-Islamischen Bunds e.V. (LIB) und Abgeordnete der Grünen im Bundestag. Ihr aktuelles Buch heißt "Die Sache mit der Bratwurst. Mein etwas anderes deutsches Leben" und ist bei Piper erschienen.

Wenn Taring Padi argumentiert, "People's Justice" stelle die Erfahrung der 32-jährigen prowestlichen und antikommunistischen Diktatur dar und werde seit 20 Jahren weltweit gezeigt, muss man sich vor allem fragen: Wie kann das sein? Wie kann 20 Jahre lang niemand diesen Antisemitismus problematisieren? Anscheinend ist es uns in 80 Jahren nicht gelungen, die wahren Dimensionen des Holocausts außerhalb des Westens deutlich zu machen.

Westen schenkt vielen anderen Verbrechen kaum Aufmerksamkeit

So nötig der andere Blickwinkel auf unseren Westen ist, so unverrückbar sind einige westliche Konstanten. Aus jedem noch so weit entfernten Winkel dieser Welt kann es zur Singularität der über Jahrhunderte von langer Hand vorbereiteten, am Schreibtisch geplanten, bürokratisch organisierten und industriell durchgeführten Vernichtung von sechs Millionen jüdischen Kindern, Frauen und Männern keine zwei Meinungen geben. Nichts, was der Menschheit bekannt ist, kommt der von den Nationalsozialisten geschaffenen Dimension gleich. Nichts kann sie relativieren.

Selbstverständlich gab und gibt es in anderen Teilen der Welt, vor allem im globalen Süden, schlimme und schlimmste Menschenrechtsverletzungen. Grausamste Taten und verstörende sexualisierte Gewalt an Kindern. Unfassbare Genozide. Barbarische Massenmorde mit ähnlichen oder auch höheren Opferzahlen wie die Kongo-Gräuel, der Holodomor in der Ukraine oder die Pembantaian di Indonesia, die indonesischen Massaker von 1965 und 1966 an angeblichen Kommunisten. Solche Verbrechen sind in der Tat im Westen vielfach unbekannt. Kaum einer schenkt ihnen Aufmerksamkeit. Nochmals: Genau das macht den Ansatz der "documenta fifteen" im Grundsatz so bedeutend.

Holocaust-Vergleiche nicht nur faktisch falsch

Doch um Gräueltaten von noch so schrecklichen Ausmaßen zu verdeutlichen, braucht es keine Holocaust-Vergleiche. Sie sind nicht nur faktisch falsch, sondern meist kontraproduktiv; hinsichtlich des Westens sind sie es immer. Als ich vorvergangener Woche als Bundestagsabgeordnete in Israel und den palästinensischen Gebieten war, sprach ich mit frustrierten, wütenden Palästinensern. Sie beklagten sich bitterlich darüber, dass Deutschland die verzweifelte Lage, in der sich viele von ihnen befinden, so wenig interessiere.

Und dann schickte jemand hinterher: "Wir leben hier wie im KZ. Die Israelis sind schlimmer als die IS-Terroristen." Da bleibt einem die Spucke weg. Wie können sie ernsthaft glauben, man würde ausgerechnet in Deutschland mit solchen Äußerungen auf mehr Verständnis stoßen? Es gibt offenkundig noch sehr viel zu tun.

Wenn der Westen lernen soll, sich in die Perspektiven des Südens hineinzuversetzen, dann sollte der Süden sich umgekehrt darum bemühen, die Perspektiven des Westens zu verstehen. Wer auch immer seinen Botschaften im Westen Gehör verschaffen will, muss lernen, sich der unsäglichen Holocaust-Vergleiche endlich und ein für alle Mal zu enthalten.

Die im Gastbeitrag geäußerten Ansichten geben die Meinungen der Autoren wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online-Redaktion.

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