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Psychologe sieht bei Hanau-Attentäter "kompletten Realitätsverlust"


Rassistischer Anschlag
Psychologe sieht bei Hanau-Attentäter "kompletten Realitätsverlust"

t-online, Von Josephin Hartwig

Aktualisiert am 24.02.2020Lesedauer: 4 Min.
Der mutmaßliche Täter Tobias R.: Seine absurden Thesen schickte er auch an den Generalbundesanwalt.Vergrößern des BildesDer mutmaßliche Täter Tobias R.: Seine absurden Thesen schickte er auch an den Generalbundesanwalt. (Quelle: t-online.de)
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Der rassistische Anschlag in Hanau schockiert die Menschen. Noch immer sind viele Fragen offen. Wer war der Täter? Und was sagt sein "Manifest" über ihn aus? Ein Psychologe wagt eine Einschätzung.

Der mutmaßliche Attentäter von Hanau, Tobias R., tötete zehn Menschen und sich selbst. Die genauen Hintergründe sind bislang unklar, die Ermittlungen dauern noch an. Bislang ist bekannt, dass ein Großteil der Opfer einen Migrationshintergrund hatten. Vor dem Attentat veröffentlichte Tobias R. im Internet ein wirres Schreiben, in dem er seine rassistische Weltsicht erklärte. Was trieb den 43-Jährigen zu seiner Tat an? Und welche Rolle könnte eine mögliche psychische Störung gespielt haben?

Es gebe derzeit noch viele "Dunkelstellen", die von erfahrenen Experten erst im Laufe der Zeit aufgeschlüsselt werden könnten, sagt Psychologe Peter Walschburger, Professor an der Freien Universität Berlin. Man könne allerdings davon ausgehen, dass sich Tobias R. zurückgezogen hatte und durch seine Taten aufgrund der eigenen radikalisierten Ideologie als Held habe dastehen wollen.

Walschburger sieht in dem Attentat ein Zusammenspiel aus zwei verschiedenen Dingen. Zum einen scheine R. labil gewesen zu sein und zum anderen beförderten die Einwirkungen aus dem sozialen und medialen Umfeld eine tatsächliche "Aktivierung zur Tat" oder eine konkrete Stoßrichtung, glaubt der Psychologe.

Lebt ein Mensch sozial zurückgezogen, suche er eine Zugehörigkeit zu einer Gruppe – heute oft im Internet. Dadurch sei es wahrscheinlicher, dass sich solche isolierten Menschen im Internet radikalisieren und gleichgesinnte Rechtsradikale finden. "Diese Gruppenzugehörigkeit, die dort entsteht, ist fatal", so der Psychologe. Das Gemeinschaftsgefühl lasse den Eindruck entstehen, man müsse handeln und sei mit seiner Meinung nicht allein.

Parallelen zu norwegischem Massenmörder

Auch eine mögliche Schizophrenie des Täters ist in verschiedenen Medien vermutet worden. Diese Diagnose sieht auch Walschburger als wahrscheinlich. "Es gibt verschiedene Formen. Meist treten Symptome einer Schizophrenie in jungen Jahren, in der Pubertät auf. Es gibt aber auch Fälle, wo sich die Erkrankung erst später zeigt." Dafür sprechen auch Anzeichen für einen bizarren Verfolgungswahn des Täters. Doch man müsse aufpassen, den Anschlag nicht zu schnell als Tat eines psychisch Kranken zu bezeichnen.

Walschburger, der an der Freien Universität Berlin lehrt, sieht auch Parallelen zu dem Umgang mit Norwegens Attentäter Anders Behring Breivik. In der Gerichtsverhandlung sei damals zunächst von einer verminderten Schuldfähigkeit des Massenmörders ausgegangen worden, weil ihm eine psychotische Erkrankung diagnostiziert worden war. Zwei psychologische Gutachten kamen damals zu verschiedenen Ergebnissen. "Das hängt auch mit dem Wunsch der Betroffenen nach einer Erklärung für so eine abscheuliche Tat zusammen", erklärt der Psychologe. Breivik wurde letztlich für zurechnungsfähig erklärt.

Soziale Kompetenz womöglich nicht ausgeprägt

Die Vermutung, dass die Sozialkompetenz des Hanau-Attentäters nicht hoch war, liegt nahe. Das sei aber nicht immer offensichtlich, sagt Walschburger. "Es kommt vor, dass auch Menschen, wie etwa der Attentäter, einen Beruf haben, mit Kunden und Kollegen unauffällig umgehen und vordergründig freundlich sind." Doch hinter der Oberfläche sei die soziale Kompetenz, zu der auch gehört, eine Beziehung einzugehen, Freunde zu haben, nicht ausgeprägt.

Walschburger hält es für möglich, dass R. autistische Züge gehabt haben könnte. "Genetik und auch frühkindliche Prägungsvorgänge spielen dabei eine große Rolle." Auch eine psychotische Entwicklung schließt der Experte nicht aus. In dem Schreiben des mutmaßlichen Täters gebe es Hinweise auf einen "kompletten Realitätsverlust".

"Es spricht vieles dafür, dass der Hanau-Täter Wahnvorstellungen hatte", sagt auch der Rechtsextremismus-Experte Hajo Funke. Der 75-Jährige beschäftigt sich mit dem Täter und den Auswirkungen der Tat auf Deutschland. Parallelen sieht er etwa auch zu "Mein Kampf", dem Buch von Adolf Hitler. "Die paranoide Zuspitzung der Fremdenfeindlichkeit ist in beiden zu erkennen", sagt er. R. habe sich offenbar dazu entschlossen, systematisch, gezielt und vorbereitet zuzuschlagen.

"Ermunterung zu handeln"

Besonders problematisch sieht er die öffentlich als richtig dargestellte Fremdenfeindlichkeit, wie sie etwa von der AfD propagiert wird. "Dadurch entsteht bei Menschen, die ohnehin diesen Hang haben, eine Ermunterung, das aus ihrer Sicht große Problem ernst zu nehmen und zu handeln", erklärt der Experte. Ganz klar besteht für ihn ein Zusammenhang zwischen einer aggressiven, rassistischen und hetzenden Rhetorik von manchen Politikern und der Bereitschaft von Anhängern, danach zu handeln.

"Gerade ein Mensch, der verwirrt ist, sieht dann eine noch größere Zustimmung zu seinen eigenen Theorien", erklärt Hajo Funke. Der Politikwissenschaftler beobachtet seit Jahren die Entwicklung des Rechtsextremismus in Deutschland. Anlässe, wie etwa die Pegida-Demonstrationen in Dresden, würden die Intensität der Fremdenfeindlichkeit in Deutschland noch befeuern. Seit 2014 würden die Fälle von Übergriffen steigen. Eine Entwicklung, die auch durch die AfD bedingt sei. "Die Partei gibt Rassismus Raum in der Öffentlichkeit und nährt den Resonanzboden." Die Auswirkungen dessen ließen sich nur schwer kontrollieren. Wichtig sei nun die Einschätzung der Geschehnisse für Deutschland. "Hassreden greifen unsere Demokratie an", stellt Funke fest.

"Wir alle sind gefragt, unsere Grundrechte zu verteidigen"

Nach dem Amoklauf in Hanau steht auch das Verhalten der Sicherheitsbehörden unter Beobachtung. Wie sicher fühlen sich die Deutschen? Für Hajo Funke geht es um etwas anderes: "Es ist nicht mein Sicherheitsgefühl, das berührt wurde; sondern mein Schmerz und auch meine Ungeduld, dass mehr dagegen getan werden muss." Ebenso wie Psychologe Peter Walschburger sieht der Politikwissenschaftler die wichtigste Lösung für die Rassismusprobleme in Deutschland in der Aufklärung. "Die Debatte muss genau geführt werden. Es ist nicht nur eine Frage der Sicherheitspolitik. Wir alle sind gefragt, unsere Grundrechte zu verteidigen", erklärt Funke. Wenn jeder Mensch dafür aufstehe, erkläre, aufkläre und sich an der Diskussion beteilige, könne sich die Situation in Deutschland verändern.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
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