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Corona-Krise: So viel wird das "Bürgertest"-Debakel Steuerzahler kosten


Abrechnungen ohne Kontrolle
So viel wird das "Bürgertest"-Debakel die Steuerzahler kosten

  • Annika Leister
Von Annika Leister

23.06.2021Lesedauer: 4 Min.
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Teststelle in der Wilmersdorfer Straße in Berlin: An vielen Orten poppten plötzlich Teststellen auf, meist betrieben von privaten Anbietern.Vergrößern des Bildes
Teststelle in der Wilmersdorfer Straße in Berlin: An vielen Orten poppten plötzlich Teststellen auf, meist betrieben von privaten Anbietern. (Quelle: Stefan Zeitz/imago-images-bilder)

Jeder Bürger sollte sich einmal die Woche testen lassen – doch Spahns Ministerium vergaß, auch Kontrollen für die Abrechnungen der privaten Teststellenbetreiber einzuführen. Das wird teuer.

Die vom Staat finanzierten "Bürgertests", die von privaten Teststellen ohne Kontrolle abgerechnet werden konnten, kosten Steuerzahler Abermillionen. Allein im Land Berlin belaufen sich die Kosten für die "Bürger"-Schnelltests für drei Monate – März, April und Mai 2021 – auf 91,3 Millionen Euro. Das geht aus der Antwort der Berliner Senatsgesundheitsverwaltung auf eine parlamentarische Anfrage des Abgeordneten Marcel Luthe hervor, die t-online vorliegt.

Die Steigerungsrate bei Tests und Kosten ist dabei extrem: Anfang März wurden die "Bürgertests" erstmals freigegeben. Laut SPD-geführter Senatsgesundheitsverwaltung wurden in diesem Monat rund 125.000 Abstriche zur Abrechnung eingereicht. Kosten: 1,3 Millionen Euro. Im April zahlte Berlin dann schon 25 Millionen Euro für 1,5 Millionen eingereichte Abstriche. Im Mai wuchsen die Ausgaben um mehr als das Doppelte weiter an – hier zahlte Berlin für 3,9 Millionen Abstriche "circa 65 Millionen Euro", wie die Senatsgesundheitsverwaltung schreibt.

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Auch die Zahl der Teststellen-Betreiber stieg rasant: Im März waren es noch 22, im April dann 229, im Mai 552. Oft betreiben sie mehrere Teststellen, insgesamt gab es davon in der Hauptstadt zur Hochzeit in der Pandemie mehr als 1.600.

Auch andere Länder verzeichnen hohe Steigerungsraten, die aber nicht an die Kostenexplosion in Berlin heranreicht: Auf Nachfrage von t-online teilt das Gesundheitsministerium von Rheinland-Pfalz mit, dass im März für rund 300.000 Tests 3,8 Millionen Euro erstattet wurden, im April für rund 884.000 Tests 11 Millionen Euro und im Mai für rund 1,2 Millionen Tests 15 Millionen Euro abgerechnet wurden. Für insgesamt 2,4 Millionen Tests seien also 30,5 Millionen Euro fällig geworden.

Abrechnung ohne Kontrolle

Das Problem der mangelnden Kontrolle bei der Abrechnung der "Bürgertests" rückten Recherchen von NDR, WDR und "Süddeutscher Zeitung" in den Fokus: Ein Onlinekurs zur Schulung genügt zur Eröffnung einer Teststelle, die zur Erstattung eingereichten Testzahlen werden weder von Kassenärztlicher Vereinigung (KV) noch von Landesministerien oder dem Bundesgesundheitsministerium eingehend geprüft. Die Folge: Mancher Teststellen-Betreiber reichte Tests zur Erstattung ein, die nie durchgeführt wurden.

Andere Bundesländer antworten nicht auf Anfrage von t-online oder geben keine Zahlen zu den Kosten der "Bürgertests" heraus, sondern verweisen auf Bund und KVen. Niedersachsen nennt auf Anfrage von t-online zumindest die Anzahl der gemeldeten Testungen. Auch hier hat es einen enormen Anstieg gegeben: Im März wurden rund 100.000 Tests gemeldet, im April rund eine Million, im Mai 4,4 Millionen.

Teststellen geschlossen – Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Betrug

Ist diese extreme Steigerungsrate realistisch? Wie viele Betrugsfälle werden darunter vermutet?

Mehrere Teststellen wurden in Berlin bereits geschlossen. Die Senatsgesundheitsverwaltung teilt auf Nachfrage von t-online mit: "Die Konsolidierungs- und Bereinigungsphase der Teststellen ist noch nicht abgeschlossen." Man arbeite mit der Kassenärztlichen Vereinigung und "anderen originär zuständigen Behörden" daran.

In Rheinland-Pfalz wurden laut Gesundheitsministerium bisher sieben Teststellen geschlossen, sechs weiteren wurde die Beauftragung entzogen – bedeutet: Sie können die Kosten für Testungen nicht mehr geltend machen. Dem Ministerium in Schleswig-Holstein sind zehn Fälle bekannt, in denen Teststellen geschlossen wurden. In einem weiteren Fall ermittle die Staatsanwaltschaft wegen Betrugs. Kreise und kreisfreie Städte könnten Teststellen aber auch eigenmächtig und ohne Benachrichtigung des Ministeriums schließen.

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Abgerechnet werden die Beträge zunächst von den Kassenärztlichen Vereinigungen in den unterschiedlichen Bundesländern, danach erstattet das Bundesamt für Soziale Sicherung die Kosten. Teststellenbetreiber erhalten dabei 12 oder 15 Euro pro gemachtem Test – je nachdem, ob ein Arzt das Abstrichstäbchen führte oder eine nicht-medizinische Kraft.

Als "Sachkosten" können von den Teststellen außerdem auch selbstbeschaffte Tests abgerechnet werden – sie wurden bis 31. März zusätzlich mit bis zu 9 Euro, danach mit bis zu 6 Euro vergütet, wie die KV Berlin auf ihrer Homepage erklärt. Allein diese Sachkosten machten in Berlin im April circa acht Millionen Euro der gezahlten Gesamtsumme aus, im April 15,8 Millionen Euro, teilt die Senatsverwaltung mit.

"Millionen könnten in die Finanzierung von Islamisten oder Clans geflossen sein"

Als "Lizenz zum Gelddrucken" bewertet der Berliner Abgeordnete Marcel Luthe das Abrechnungssystem bei den Teststellen. Luthe war nach seinem Austritt aus der FDP zunächst fraktions- und parteilos, nun kandidiert er bei der Abgeordnetenhauswahl im Herbst für die Freien Wähler. Er findet: "Einen größeren Anreiz zum Betrug kann man gar nicht setzen."

In der Hauptstadt sieht Luthe die große Gefahr, dass die Organisierte Kriminalität rasch auf das Feld vorgerückt sein könnte. "Millionen könnten in die Finanzierung von Islamisten oder Clans geflossen sein – wir wissen es nicht." Er fordert eingehende Prüfungen bei allen Teststellen. Das sei personalintensiv, aber mehr als notwendig: "Man darf nicht mal vorbeigehen und gucken, sondern muss wirklich tief eintauchen in die Buchhaltung."

Auch Tim Zeelen, gesundheitspolitischer Sprecher der Berliner CDU-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, drängt auf Veränderung und Kontrollen. Er sei "Fan" des Systems gewesen, das im Frühjahr ein schnelles Öffnen zahlreicher Teststellen möglich machte. "Das brauchten wir auch, das gehört zur Ehrlichkeit dazu." Man sei froh gewesen über jedes Testzentrum, das öffnete. "Umso wichtiger aber ist es, Präsenz zu zeigen und zu kontrollieren."

Das habe die SPD-geführte Senatsgesundheitsverwaltung sträflich vernachlässigt. Das müsse rasch ein Ende haben, vor allem mit Blick auf die nun anstehende Reisezeit und die sich verbreitende Delta-Variante. "Wir brauchen das Instrument noch, gerade in den kommenden Monaten."

Verwendete Quellen
  • Antwort auf parlamentarische Anfrage
  • Anfragen an alle 16 Landesgesundheitsministerien und - senatsverwaltungen
  • Gespräche mit Marcel Luthe und Tim Zeelen
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