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Uwe Seeler: "Im Stehen, im Liegen, im Fliegen – er machte den Ball rein"


Tagesanbruch
Ein Held wie du und ich

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 04.11.2021Lesedauer: 6 Min.
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Uwe Seeler im Jahr 1965: Der talentierteste Mittelstürmer, den Deutschland je hatte.Vergrößern des Bildes
Uwe Seeler im Jahr 1965: Der talentierteste Mittelstürmer, den Deutschland je hatte. (Quelle: imago images)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

Helden sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Heutzutage gilt ja schon als toller Hecht, wer einen halbwegs geraden Satz in ein Mikrofon nuscheln, in 90 Minuten zwei Tore schießen oder dreimal Meister werden kann. Jeden Abend läuft irgendein Fußballspiel in irgendeinem Wettbewerb, aber sowohl die Spiele als auch die Spieler sind längst austauschbar geworden. Aalglatte Gladiatoren in einem Geschäft, in dem längst nicht mehr der Sport oder die Kameradschaft den Maßstab setzt, sondern der Mammon. Man muss sich deshalb nicht gleich den Spaß am Kicken verderben lassen, aber was Fußball wirklich mal ausgemacht hat, welche sinnstiftende Bedeutung im Leben von Millionen Menschen er mal gehabt hat, begreift man erst, wenn man sich an die Helden der Vergangenheit erinnert. Damals, als die Typen auf dem Platz nicht nur Ballkünstler waren, sondern Idole, Ikonen, Vorbilder, wichtiger als der Bundeskanzler und der liebe Gott zusammen.

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Uns Uwe war so ein Held. Rückennummer 9, hängende Schultern, lichtes Haar. Ein Hamburger Jung, immer geradeaus. Sagt, was er denkt. Auch wenn er mal nichts denkt. Heimatverbunden, solidarisch, bescheiden. Häuschen in der Harksheide reichte. Wollte sich nicht größer machen, als er war. Hatte er gar nicht nötig, er war ja eh der Größte. Wenn der Uwe auflief, fielen die Tore im Minutentakt. Im Stehen, im Liegen, im Fliegen: Uwe machte den Ball rein. Bei der Weltmeisterschaft 1970 gegen England sogar mit dem Hinterkopf, da sah er das Tor noch nicht einmal. Vielleicht roch er es. Machte ihn rein. Klar, er machte ihn ja immer rein.

Uwe begriff den Fußball als harten, aber fairen Kampf. In seiner mitreißenden Autobiografie "Alle meine Tore" hat er die "Schlacht von Göteborg" beschrieben: Im WM-Halbfinale 1958 brüllten die von Claqueuren aufgeputschten Zuschauer die deutsche Mannschaft mit "Heja, heja!"-Sprechchören nieder. "Man hatte das Gefühl, gegen eine Mauer zu rennen", berichtete er. Der Schiri ließ sich von dem Gebrüll verunsichern, pfiff gegen die Deutschen, am Ende siegten die Schweden 3:1, und Uwe schlich wie ein begossener Pudel vom Platz. Hat er weggesteckt. Wie er alle Rückschläge weggesteckt hat. War nur einmal Deutscher Meister. War nie Weltmeister. Aber war halt der talentierteste Mittelstürmer, den Deutschland je hervorgebracht hat. Allenfalls der Müller-Gerd unten in München konnte ihm das Wasser reichen.

1972 machte Uwe Schluss mit dem Kicken, fabelhafte 404 Tore in 476 Spielen für seinen HSV waren "genuch". Hat er gesacht. Hat auch Ilka gesacht, seine Frau, mit der er seit 62 Jahren durch dick und dünn geht. Die ihm Anfang der Sechzigerjahre auch sagte, dass er auf die 1,2 Millionen Mark von Inter Mailand – damals eine märchenhafte Summe – verzichten und mal lieber an der Alster bleiben sollte. Die ihn stützte, wenn er fiel, und die ihm den Kopf geraderückte, wenn er beim Reden wieder mal ein kleines bisschen zu wenig gedacht hatte. "Ich bin sehr zufrieden und mein Leben war wunderbar. Das habe ich meiner Frau zu verdanken", sagt Uwe über seine Ilka in dem rührenden Film, den die Kollegen vom NDR über die beiden gedreht haben. Und dann fügt er noch sein Lebensmotto hinzu: "Das Schönste, was es auf der Welt gibt, ist normal zu sein." Das ist doch mal ein Satz. Da können sich die jungen Leute von heute ruhig eine Scheibe abschneiden.

Warum ich Ihnen das heute Morgen alles erzähle? Nicht nur weil Uwe morgen seinen 85. Geburtstag begeht, und auch nicht nur weil wir uns Sorgen um ihn machen. Vor anderthalb Jahren ist er gestürzt, Hüfte kaputt, drei Rippen kaputt. Vor einem Jahr noch mal gestürzt, da hat er nach dem Kaffeetrinken mit dem Tablett in der Hand eine Treppenstufe übersehen. Fiel in die Porzellantassen. Überall Schnittwunden. "Er blutete wie eine Sau", hat Ilka gesagt. "Die Ärzte hatten richtig was zu nähen bei mir", hat Uwe gesagt. "Ich sah aus wie Quasimodo." Ilka pflegt ihn. Aber mit Mitte achtzig ist selbst so ein Uwe-Körper halt nicht mehr derselbe wie anno achtundfünfzig in der Schlacht von Göteborg. Soeben meldeten die Nachrichtenagenturen, dass es Uwe nicht gut gehe. Ilka hat alle Termine rund um den Geburtstag abgesagt, nur die Kinder und die Enkel dürfen kommen. Sie kocht ihm Rouladen mit Rotkohl, das liebt er. Bierchen dazu und ein Glas Wein. Sie weiß am besten, was gut für Uwe ist.

Ach ja, warum ich Ihnen das alles erzähle? Weil ich denke, dass es nicht schadet, sich in unserer überdrehten Medienwelt gelegentlich das Leben eines wahren Vorbilds vor Augen zu führen. Eines Menschen, der nicht nur Herausragendes geleistet und Millionen Menschen inspiriert hat, sondern der dabei auch bodenständig geblieben ist. Bescheiden. Normal. Ein Mensch wie du und ich. Uwe brauchte keine Tätowierungen, nicht Hunderte Millionen auf der Bank und kein Instagram-Gedöns. Uwe war und ist einfach er selbst, und genau deshalb ist er so groß: Weil jeder sich in ihm wiedererkennen kann. "Ein absolutes Vorbild" nennt ihn Philipp Lahm, der auch mal Kapitän der Nationalmannschaft war. Das kann man wohl sagen. Alles Gute, Uwe, du Held aller Normalos! Bleib uns noch ein Weilchen erhalten!

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Ich wünsche Ihnen einen fidelen Tag.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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