Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Für dieses Problem hat Merz keine Antwort

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
na, wie ist die Stimmung bei Ihnen heute? Deutlich besser als noch vor ein paar Wochen? Oder bemerken Sie keinen Unterschied? Sollte Letzteres der Fall sein, lassen Sie das lieber nicht Friedrich Merz hören.
Geradezu mantraartig hat der Bundeskanzler in den vergangenen Monaten die Stimmungswende in Deutschland beschworen. "Die Bevölkerung muss merken, dass es einen Unterschied macht, wenn es eine neue Regierung gibt", sagte Merz und nannte dabei ein Datum, bis zu dem die gute Laune spätestens Einzug halten sollte: den 11. Juli. Ja, genau – heute.
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Denn heute ist sozusagen der letzte Tag vor den großen Ferien. Danach gehen Bundestag und Bundesrat in die Sommerpause. Was bis heute nicht beschlossen wird, bleibt bis zum Herbst liegen – und trägt nicht zur Stimmungsaufhellung bei, so die Logik von Merz.
Dass die Parlamentarier in ihrer letzten Arbeitswoche die Füße hochlegen, kann man ihnen tatsächlich nicht vorwerfen. Während an meinem letzten Schultag vor den Sommerferien in der Regel der Fernsehwagen ins Klassenzimmer gerollt wurde, hat der Bundestag noch richtig was wegzuarbeiten. Gestern etwa die Abstimmung über einen schnelleren Ausbau der Windenergie und Beratungen über die Einführung eines "Bau-Turbos", heute die Wahl neuer Verfassungsrichter (mehr dazu unten) und weitere Debatten über den Haushalt sowie das Sondervermögen, das Rekordinvestitionen in die Infrastruktur ermöglichen soll.
Ein Gesetz dürfte sogar final vom Bundesrat verabschiedet werden: der Investitionsbooster, mit dem die Bundesregierung die deutsche Wirtschaft dank neuer Abschreibungsregeln und Steuererleichterungen aus dem Konjunkturtief hieven will. Also alles bald wieder tutti im Land?
Einer, der den Sekt noch nicht kalt gestellt zu haben scheint, ist der Wirtschaftsweise Martin Werding. Er warnt in der "Rheinischen Post" vor drastisch steigenden Sozialabgaben, sollte sich die Regierung nicht bald an echte Strukturreformen bei Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung trauen. "Die Frage ist nicht, ob die Beitragssätze irgendwann 50 Prozent erreichen, sondern wann das geschieht."
Von einem Bruttoeinkommen von 4.000 Euro müssten Arbeitnehmer dann 1.000 Euro allein für die Beiträge zu den Sozialversicherungen abgeben – weitere 1.000 Euro kämen vom Arbeitgeber. Zusätzlich gibt es noch Steuerabzüge. Da kann die Bundesregierung noch so viel investitionsboostern – wenn die Erleichterungen für Unternehmen wegen der steigenden Sozialabgaben nicht zu spüren sind, ist nichts gewonnen. Und auch bei den Bürgern steigt natürlich die Belastung.
Schon jetzt sorgen sich acht von zehn Menschen in Deutschland einer Umfrage zufolge um ihre finanzielle Zukunft. Etwa ein Viertel der Befragten hat demnach Zweifel, Rechnungen pünktlich bezahlen zu können. Knapp ein Drittel fürchtet, dass sich die eigene finanzielle Lage weiter verschlechtert. Fast 60 Prozent sahen sich daher bereits gezwungen, weniger Geld auszugeben. Bleibt ihnen künftig noch weniger Netto vom Brutto, wird sich der Trend fortsetzen. Und das schadet wiederum der Wirtschaft. Ökonomen zufolge trägt der private Konsum zu mehr als der Hälfte der Wirtschaftsleistung bei.
Was also tun? Weil sich Union und SPD nicht einigen konnten, haben sie die nötigen Reformen verschoben. Kommissionen sollen sich mit den Problemen im Gesundheitswesen, bei Pflege und Rente beschäftigen. Doch der Druck durch die alternde Gesellschaft ist so groß, dass dabei vor allem eines herauskommen müsste: unpopuläre Maßnahmen.
Beispiel Gesundheitswesen: Die Deutschen gehen mehr als zehn Mal im Jahr zum Arzt – doppelt so oft wie die Bürger anderer Industrienationen. Gesünder sind sie deswegen aber nicht. Experten wie Christian Karagiannidis, Professor für Humanmedizin an der Uni Witten-Herdecke, fordern daher eine bessere Steuerung von Patienten. Das heißt: Nicht die Erkrankten selbst sollen entscheiden können, von wem sie sich behandeln lassen, sondern ihr Hausarzt oder ihre Hausärztin. Dieses sogenannte Primärarztsystem steht immerhin im Koalitionsvertrag.
Nicht zu finden ist dort hingegen ein Vorschlag, der in anderen europäischen Ländern längst Standard ist, um die Kosten zu dämpfen: die Eigenbeteiligung der Versicherten. Würde man diese beispielsweise bei einem Prozent des Einkommens festsetzen und erst ab einer bestimmten Einkommenshöhe greifen lassen, wäre das für den Einzelnen verkraftbar und sozial gerecht. Denn je niedriger das Einkommen, desto niedriger auch die Selbstbeteiligung – bis hin zu null Euro für alle, die nur wenig verdienen. Beliebtheitspunkte bei den Wählern würde man damit aber wohl trotzdem nicht sammeln.
Ähnliches Problem bei der Rentenversicherung: Eigentlich müsste man auch hier darüber diskutieren, wie man die Ausgaben senkt. Stattdessen bestehen die ersten Maßnahmen von Sozialministerin Bärbel Bas darin, Geld auszugeben – für ein festes Rentenniveau, bei dem alle Versicherten unter 48 Jahren draufzahlen, und für eine Mütterrente, die den einzelnen Frauen wenig bringt, in der Summe aber Milliarden kostet. Ideen wie die Aktivrente, die ältere Beschäftigte zur Weiterarbeit motivieren soll, ergeben zudem wenig Sinn, wenn gleichzeitig der Anreiz bestehen bleibt, nach 45 Beitragsjahren abschlagsfrei in Frührente zu gehen.
Man darf gespannt sein, wie radikal die Rettungsvorschläge der Kommissionen ausfallen werden. Ergebnisse soll es größtenteils erst 2027 geben. Bei den Krankenversicherungen sind allerdings schon im Laufe des Jahres Beitragserhöhungen zu erwarten, bei der Pflegeversicherung zum Jahreswechsel.
Um Ihre Stimmung trotzdem zu heben, könnten Sie es dem Kanzler gleichtun und immer wieder laut sagen, dass bald alles besser wird. Vielleicht glauben Sie es am Ende auch.
Richter von AfD-Gnaden?
Normalerweise läuft die Wahl von Richterinnen und Richtern für das Bundesverfassungsgericht unter dem Radar der meisten Bundesbürger. Doch dieses Jahr ist das anders. Grund dafür sind zwei Hindernisse: die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag und die Kritik – man könnte auch sagen: Stimmungsmache – gegen die Juraprofessorin Frauke Brosius-Gersdorf aus Potsdam. Sie ist eine der zwei SPD-Kandidatinnen, die der Bundestag heute zu Bundesverfassungsrichterinnen wählen könnte. Die Union schlug als dritten Kandidaten Günter Spinner vor, aktuell Vorsitzender Richter am Bundesarbeitsgericht.
Drei Posten sind vakant, drei Kandidatinnen und Kandidatinnen vom Wahlausschuss ernannt, und trotzdem könnte die Abstimmung scheitern. Denn Union und SPD haben zusammen nicht die nötige Zweidrittelmehrheit, um ihre Favoriten durchzubekommen. Will die Koalition nicht auf die AfD angewiesen sein, benötigt sie neben den Stimmen der Grünen auch einige von der Linken. Doch die Union verweigert sich wegen ihres Unvereinbarkeitsbeschlusses Gesprächen, setzt offenbar darauf, dass nicht alle Abgeordneten anwesend sein werden. Denn nur die abgegebenen Stimmen sind entscheidend. Lesen Sie hier, wie die Wahl genau abläuft.
So nimmt sie billigend in Kauf, dass ihr Kandidat der erste Verfassungsrichter von Gnaden der AfD werden könnte. Zwar ist die Wahl geheim, doch nutzt die AfD bekanntermaßen jede Chance, Chaos zu stiften und eine mögliche Wahl Spinners als ihr Zutun zu verkaufen. Bei der Wahl von Brosius-Gersdorf und der zweiten SPD-Kandidatin Ann-Katrin Kaufhold aus München besteht diese Gefahr zwar nicht, die beiden kommen für die AfD rein ideologisch nicht infrage; gegen Brosius-Gersdorf sträuben sich jedoch auch Teile der Union. Sie halten sie insbesondere wegen ihrer liberalen Position zu Schwangerschaftsabbrüchen für zu links.
- Lesen Sie auch: Richterwahl im Bundestag – das könnte schiefgehen
"Es gibt gute Gründe dafür, dass die Menschenwürdegarantie erst ab Geburt gilt", hatte Brosius-Gersdorf vergangenes Jahr in einem Bericht für die damalige Ampelkoalition geschrieben. Isoliert betrachtet, eine durchaus streitbare Aussage. Doch genau so sieht es die Juraprofessorin selbst auch. Dafür hätten die Kritiker allerdings den Bericht komplett lesen müssen. Letztlich spricht sie sich sogar für den Schutz des ungeborenen Lebens aus – nur eben in sorgfältiger Abwägung mit den Rechten der Mutter.
Die Eignung für das Verfassungsrichteramt von Einzelpositionen zu bestimmten Themen abhängig zu machen statt von der juristischen Qualität, ist für sich genommen schon fragwürdig. Umso bitterer wäre es, wenn Abgeordnete ihre Entscheidung heute aufgrund fehlender Recherche fällen würden.
Termine des Tages
30 Jahre Srebrenica-Massaker: Der Bundestag debattiert heute zum 30. Jahrestag des Völkermords von Srebrenica, des schlimmsten Kriegsverbrechens in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Am Brandenburger Tor wird eine Mahnwache abgehalten, zudem gibt es weitere Gedenkveranstaltungen. Warum uns der Genozid an den bosnischen Muslimen noch heute zu denken geben sollte, hat Florian Harms im gestrigen Tagesanbruch aufgeschrieben.
Noch mehr Entscheidungen: Neben dem Investitionssofortprogramm stehen auf der Agenda des Bundesrats weitere Gesetzesvorhaben, etwa die Aussetzung des Familiennachzugs, die Verlängerung der Mietpreisbremse und eine schnellere Integration von Asylbewerbern in den Arbeitsmarkt.
Prozessbeginn: Die Unternehmerin Christina Block muss sich ab heute wegen mutmaßlicher Kindesentführung vor Gericht verantworten. Die Tochter des Block-House-Gründers Eugen Block soll mehrere Personen damit beauftragt haben, ihre beiden jüngsten Kinder in der Nacht zum 1. Januar 2024 aus Dänemark zu entführen. In Dänemark lebt Blocks Ex-Mann, bei dem sich die Kinder aufgehalten hatten. Angeklagt ist auch der Sportjournalist Gerhard Delling. Er soll Blocks Rückkehr mit den Kindern nach Hamburg koordiniert haben.
Ohrenschmaus
Wer in Gelsenkirchen und Umgebung wohnt, kann Iron Maiden heute live erleben. Für alle anderen gibt es hier den Song, der die britische Heavy-Metal-Band 1982 weltweit berühmt gemacht hat.
Das historische Bild
1940 wollte Adolf Hitler Großbritannien aus der Luft bezwingen. Mehr lesen Sie hier.
Lesetipps
Sahra Wagenknecht macht mit ihrem Bündnis neuerdings der AfD Avancen. Diese Volte gehorcht einem Kalkül, das zum Scheitern verurteilt ist, meint mein Kollege Christoph Schwennicke.
Deutschland will bei der Fußball-EM der Frauen am Samstag den Gruppensieg klarmachen – doch abseits des Platzes gibt es ein heikles Thema. Mehrere Spielerinnen berichten von sexueller Belästigung, wie meine Kollegin Kim Steinke recherchiert hat.
Bundesbildungsministerin Karin Prien spricht sich für eine Migrationsquote in Schulen aus. Ein unsinniger und gefährlicher Vorschlag, findet unser Kolumnist Bob Blume.
Zum Schluss
Klassisches Problem.
Ich wünsche Ihnen einen entspannten Tag – egal, ob bei der Arbeit oder im Urlaub! Morgen schreibt wieder Florian Harms für Sie.
Herzliche Grüße
Christine Holthoff
Finanzredakteurin
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
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Mit Material von dpa.