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Nahtoderfahrung: Erfahrungsbericht – Frau sah sich von oben


Zwischen Leben und Tod
Dieses Phänomen wird wohl nie gänzlich geklärt


Aktualisiert am 07.02.2022Lesedauer: 7 Min.
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Intensivstation: Ein Nahtoderlebnis kann in verschiedenen Situationen hervorgerufen werden.Vergrößern des Bildes
Intensivstation: Ein Nahtoderlebnis kann in verschiedenen Situationen hervorgerufen werden. (Quelle: CTK Photo/imago-images-bilder)

Es ist eines der größten ungelösten Rätsel der Medizin: Was spielt sich in unserem Gehirn ab, wenn wir dem Tod näher sind als dem Leben? Nur wenige Menschen können davon berichten.

Im Juni 2011 fühlt sich Astrid Dauster auf einmal unwohl. Sie hat Magen- und Rückenschmerzen. Etwas stimmt nicht. Eigentlich will die heute 66-Jährige verreisen – stattdessen wählt sie den Notruf. Die Diagnose: Dauster hatte am Tag zuvor einen Herzinfarkt. Sie muss sofort ins Krankenhaus. Doch dahin schafft sie es nicht: Sie kollabiert, hat Herzkammerflimmern. Die Sanitäter beginnen, sie zu reanimieren. Frau Dauster hat an diesem Tag eine Nahtoderfahrung.

"Plötzlich habe ich mich von oben gesehen", erzählt Dauster im Gespräch mit t-online. "Meinen leidenden Körper, wie er reanimiert wurde." Drei Sanitäter hätten sich abgewechselt, ihre Tochter sei in einem anderen Raum gewesen. Für die damals 55-Jährige war das Gefühl unerträglich: "Immer wieder schockten sie meinen Körper mit dem Defibrillator." Bis Dausters Herz wieder schlägt, dauert es 27 Minuten.

"Erfahrungen gehören nicht in den Esoterik-Bereich"

Ein Licht am Ende des Tunnels, ein gigantisches Farbspiel, ein unbeschreibliches Glücksgefühl – oder aber Dunkelheit, Verzweiflung, Trauer. Eine solche Erfahrung kann viele Facetten haben. Was passiert im Gehirn, wenn ein Mensch dem Tod näher ist als dem Leben? Sind Nahtoderlebnisse eine spirituelle Erfahrung oder neurologisch begründbar? Und was macht die Erforschung dieses Phänomens so schwer?

Einer, der das gut erklären kann, ist Frank Erbguth, Präsident der Deutschen Hirnstiftung. Als Neurologe und Psychologe beschäftigt er sich seit Jahren mit Nahtoderlebnissen. "Diese Erfahrungen gehören nicht in den Esoterik-Bereich, sondern sie stellen nachvollziehbare Vorgänge im menschlichen Gehirn dar", sagt Erbguth. Bei einer Reanimation erlebten rund 12 Prozent der Patientinnen und Patienten eine Nahtoderfahrung. Studien zufolge haben insgesamt etwa vier Prozent der Menschen eine solche oder ähnliche Situationen durchlebt.

"Übergangswelt zwischen Bewusstsein und Bewusstlosigkeit"

Den eigenen Körper von oben zu sehen, wie es Dauster widerfahren ist, wird out-of-body-experience, zu Deutsch außerkörperliche Erfahrung, genannt. Das Erlebte kann aber auch von anderen Bildern geprägt werden: Die oder der Betroffene geht durch einen Tunnel – oder ein helles Licht ruft eine innere Zufriedenheit hervor. Die Bilder können sich dem Neurologen zufolge auch vermischen.

"Eine Nahtoderfahrung ist eine sehr besondere Erlebniswelt." Dabei handelt es sich nicht um Halluzinationen, erklärt der Psychologe. "Es zeigt, was das Gehirn alles Verrücktes macht – in einer Übergangswelt zwischen Bewusstsein und Bewusstlosigkeit."

"Bitte hilf mir, ich weiß nicht, was ich tun soll"

Astrid Dauster erinnert sich ganz genau an die Szenen, die sich während der Reanimation in ihrer Seele abgespielt haben:

  • "Weil ich meinen Körper nicht mehr leiden sehen wollte, bin ich aus dem Raum gegangen – traurig und langsam. Ich stand dann zunächst an einem kristallklaren Wasser. Ich habe geweint. Dann bin ich weitergegangen und stand auf einem hohen Berg. Ich habe gerufen: 'Bitte hilf mir. Ich weiß nicht, was ich tun soll.' Ich war verzweifelt – und zugleich umgab mich ein allumfassendes Licht. Ich habe eine bedingungslose Liebe gespürt, ohne Wenn und Aber. Es war ohne Raum und Zeit. Das Licht, das ich nicht mit menschlichen Worten beschreiben kann, hat mich durchströmt. Dann hörte ich die Stimme meines Schäfers, die ich seit meiner Kindheit kenne. Ich gab ihm damals den Namen Josef, er hatte eine Herde schneeweißer Schafe."

Gehirn bekommt zu wenig Sauerstoff und Blut

Es gibt eine Erklärung dafür, warum Dausters Gehirn während des Herzstillstandes solche Bilder erzeugt hat: Das Gehirn wird in diesen Situationen nicht ausreichend mit Blut und Sauerstoff versorgt, sagt Erbguth. Zellen stehen unter Stress und verändern sowohl den Stoffwechsel als auch die Botenstoffe. Und auch die Elektrik und die Signale der Gehirnzellen geraten durcheinander.


Frank Erbguthcoremedia:///cap/blob/content/91598658#data
ist Chefarzt der Neurologischen Universitätsklinik der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität am Klinikum Nürnberg. Als Facharzt für Neurologie und Psychiatrie ist er seit 2000 Professor für Neurologie. Zudem ist er Intensivmediziner und Präsident der Deutschen Hirnstiftung.

Auch eine sehr kurze mangelnde Durchblutung des Gehirns kann dem Neurologen zufolge zu einer Nahtoderfahrung führen. Je länger sie andauert, desto mehr stehen die Zellen unter Stress und desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass man besondere Szenen zwischen Leben und Tod wahrnimmt.

"Ich habe mich aufgegeben"

Dauster erzählt, während der Nahtoderfahrung habe der Schäfer sie aufgefordert, zu ihrem Körper zurückzukehren. "Aber in diesem Moment wollte ich gar nicht zurück", sagt die 66-Jährige. "Ich habe mich aufgegeben – denn ich war in einer unendlichen Vielfalt von Farbenpracht. Alle Farben waren durchtränkt von dieser Liebe und diesem Licht. Letztlich bin ich doch zurückgegangen – nicht wissend, ob ich leben oder sterben soll." 12 Tage nach ihrem Notfall erwachte sie auf der Intensivstation.

Erlebnisse, wie Dauster sie schildert, ähneln vielen Nahtodberichten. In Studien erzählen Betroffene, dass sie geliebte und verstorbene Familienmitglieder gesehen hätten. Dass sie allwissend waren oder die Gefühle anderer spüren konnten. Dass ihr Leben wie in einem Film an ihnen vorbeigezogen ist. Neurologe Erbguth betont jedoch: "Nicht jeder Betroffene hat eine spektakuläre Erfahrung." Die erlebten Bilder könnten sehr variabel sein, zehn bis 16 Motive seien bekannt.

Es sei allerdings erstaunlich, dass sich die Berichte, unabhängig von Kultur, Herkunft oder Glauben des Menschen, ähneln. Deshalb habe die Wissenschaft nie große Zweifel an den Erzählungen gehabt.

Die Erinnerung kam aus dem Nichts

Dausters Erlebnis war größtenteils positiv geprägt – doch etwa ein Drittel der Patientinnen und Patienten macht drastische, negative Erfahrungen. Diese Menschen erzählten seltener aus Eigeninitiative davon, sondern versuchten eher, das Erlebte zu verdrängen, sagt Erbguth.

Bei Dauster kam die Erinnerung nur langsam zurück: Als sie aus dem Koma erwachte, war ihr nicht sofort klar, was sie erlebt hat. Sie war mehrere Wochen in einer Rehaklinik. Sie lernte, wieder richtig zu laufen und zu sprechen. "Mein Körper musste sich erst richtig erholen, das war ein langer Prozess. Dann kam die Erinnerung aus heiterem Himmel", so die 66-Jährige.

Wann sich eine Person an die Nahtoderfahrung erinnert, hängt davon ab, wie stark die Hirnfunktion in der Situation gestört ist und wie lange es braucht, wieder aufzuwachen, sagt Experte Erbguth. "Es ist möglich, dass die Bilder erst mit Verzögerung auftauchen." Es gebe klare Hinweise darauf, wo das Erlebnis stattfindet: im Übergang vom Temporalhirn zum Parietallappen. Das Temporalhirn ist unter anderem für das menschliche Gedächtnis zuständig. Der Parietallappen verarbeitet sämtliche sensorische Eindrücke, er übernimmt somit die Wahrnehmung.

Erbguth betont, dass ein Nahtoderlebnis nicht nur auf die Situation kurz vor dem Sterben beschränkt ist. "Das Gehirn ist auch in anderen Situationen in der Lage, uns merkwürdige Dinge vorzuspielen" – etwa bei einem Autounfall oder bei einem sehr traumatisierenden Erlebnis. Auch Migräne, ein epileptischer Anfall, eine Ohnmacht, eine intensive Meditation oder Drogenkonsum können ein derartiges Erlebnis herbeiführen. Mit Elektroden im Gehirn können die Erlebnisse sogar simuliert werden.

Mehrere Nahtoderfahrungen als Kind

Astrid Dauster glaubt, in ihrem Leben nicht nur eine Nahtoderfahrung gemacht zu haben. Die 66-Jährige blickt auf eine traumatisierende Kindheit zurück, die von Misshandlungen von Körper, Geist und Seele geprägt worden sei. "Ich wurde von Mitgliedern einer Sekte unmenschlich gequält, besonders unter meinem Vater habe ich gelitten", erzählt Dauster. Es habe immer wieder Extremsituationen gegeben, in denen ihr Körper in einem Ausnahmezustand zwischen Leben und Tod gewesen sei.

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Astrid Dauster gehört dem Vorstand des "Netzwerk Nahtoderfahrung e.V." an. Sie wurde 1955 im Westen Deutschlands geboren und wohnt seit 40 Jahren in Bayern. Seit 2016 ist sie Rentnerin.

"Dann hing mein Leben am seidenen Faden und ich wusste, mir kann niemand helfen." In diesen Situationen habe sie den Schäfer Josef gerufen – dessen Stimme sie Jahrzehnte später noch einmal in der Nahtoderfahrung während ihres Herzstillstandes hörte. "Vor mehr als 50 Jahren habe ich natürlich noch nichts von Nahtoderfahrungen gewusst", so die Rentnerin. Erst als Erwachsene habe sie die Erlebnisse ihrer Kindheit in einer Psychotherapie verarbeitet.

Was macht die Erforschung so schwer?

Ob die psychische Verfassung eines Menschen mit dem Erleben einer Nahtoderfahrung zu tun hat, ist wissenschaftlich allerdings nur schwer zu sagen, so Erbguth. "Man weiß, dass es neurologische Vorbedingungen gibt, die das Ganze begünstigen." Unter den Betroffenen seien etwa viele Migränepatientinnen und -patienten. Manche Menschen seien wegen bestimmter Hirngegebenheiten empfänglicher als andere.

Im Gespräch mit Dauster und Ergbuth wird deutlich: Die Wissenschaft kann bereits einige Aspekte von Nahtoderlebnissen erklären. Aber bei der Erforschung des Phänomens gibt es klare Grenzen – weil es meist unerwartet auftritt. "Es wäre sehr spannend, jemanden während der Nahtoderfahrung im Kernspintomogramm untersuchen zu können", so der Experte. In der Situation könnten all die Techniken, mit denen das Gehirn ausführlich erforscht werden kann, jedoch nicht zum Einsatz kommen.

Deswegen versuchen Forscher, die Prozesse im Hirn während einer Nahtoderfahrung zu simulieren, zum Beispiel mit Elektroden, die bestimmte Reize im Gehirn setzen oder mithilfe von Virtual-Reality-Brillen, um die Erlebnisse, so wie sie Betroffene beschreiben, vorzuspielen und dadurch Nachwirkungen festzustellen.

Zudem werden Patientinnen und Patienten systematisch befragt und ihre Antworten kategorisiert, etwa durch die "Greyson-Neath-Death-Experiences-Scale", die auf den Psychiater und Neurowissenschaftler Bruce Greyson zurückgeht. Für Fragen wie "Haben Sie Augenblicke aus der Vergangenheit erneut erlebt?" oder "Hatten Sie ein Gefühl unerklärlicher Freude?" werden je nach Antwort unterschiedlich viele Punkte vergeben. Ab sieben von 32 Punkten gilt es als sicher, eine Nahtoderfahrung gemacht zu haben.

"Ich hadere nicht mit dem, was mir widerfahren ist"

Aber wie geht es für die Menschen danach weiter? Ein derartiges Ereignis kann ganz unterschiedliche Auswirkungen auf die Betroffenen haben. Für viele ist das Erlebte durchaus prägend. "Es ist jedoch schwer zu unterscheiden, ob die Reanimationssituation als solche das einschneidende Erlebnis ist oder die Nahtoderfahrung, die manche Menschen danach zufriedener, nachdenklicher oder dankbarer für ihr Leben macht", erklärt Neurologe Erbguth. Einige Patientinnen und Patienten verlieren Studien zufolge nach einem solchen Erlebnis, insbesondere wenn es positiv geprägt war, die Angst vor dem Tod.

Astrid Dauster hat eine neue Aufgabe für sich erschlossen: Sie will anderen Betroffenen helfen und über das Thema aufklären. "Ich hadere nicht mit dem, was mir widerfahren ist", so die Rentnerin. Sie spricht in Interviews und auf Veranstaltungen über ihr Leben und ihre Nahtoderfahrungen und hat ein Buch geschrieben. "Ich erinnere mich manchmal an das Erlebte, aber ohne, dass ich meinen Alltag darüber vergesse", so die 66-Jährige. Das war nicht immer so. Eine Zeit lang sei sie gedanklich immer zwischen den Welten hin- und hergependelt. "Nun lebe ich im Hier und Jetzt."

Dauster habe mit dem Erlebten ihren Frieden gefunden – dennoch sei sie manchmal traurig, dass Menschen sich die Erfahrungen niemals so vorstellen können, wie sie sie durchlebt hat. "Es wäre schön, wenn die Menschen es fühlen, wenn ich darüber spreche", sagt sie. "Letztlich können Worte nicht ansatzweise das beschreiben, was ich erfahren durfte."

Wichtiger Hinweis: Die Informationen ersetzen auf keinen Fall eine professionelle Beratung oder Behandlung durch ausgebildete und anerkannte Ärzte. Die Inhalte von t-online können und dürfen nicht verwendet werden, um eigenständig Diagnosen zu stellen oder Behandlungen anzufangen.

Verwendete Quellen
  • Interview mit Astrid Dauster
  • Interview mit Prof. Dr. Frank Erbguth
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