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Klimaschutz ist Menschenrecht: Was bedeutet das IGH-Urteil?


Tagesanbruch
Der Kontinent glüht

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 24.07.2025 - 07:10 UhrLesedauer: 6 Min.
Temperaturanzeige in Granada: Weite Teile Europas ächzen unter der Hitze.Vergrößern des Bildes
Temperaturanzeige in Granada: Weite Teile Europas ächzen unter der Hitze. (Quelle: Alex Camara/imago-images-bilder)
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Man kann es sehen, hören, fühlen: Europa hat Fieber. Kein metaphorisches, sondern ein meteorologisches. Thermometer brechen Rekorde, Menschen brechen zusammen. Auf Sizilien klettert das Quecksilber auf 46 Grad, auf Lesbos sinken die Temperaturen auch nachts nicht mehr unter 30 Grad. In Apulien sind binnen eines Tages fünf Menschen gestorben – nicht bei einem Verkehrsunfall, sondern am Strand. Der Hitzetod ereilte sie unvermittelt, aber nicht zufällig. Kein Zweifel: Das Klima verwandelt sich nicht mehr, es mutiert. Und mit ihm der europäische Kontinent.

Der "Heat Dome", wie Meteorologen die thermische Belagerung nennen, liegt wie eine gläserne Glocke über Südeuropa. Istanbul stöhnt, Athen ächzt, Palermo steht still. Auch im hohen Norden sprengen die Temperaturen jedes Maß: Im norwegischen Polarmeer gehen Touristen baden, als wäre es ein Swimmingpool. "Wir haben hier 29 Grad im Schatten", staunt ein Urlauber im Gespräch mit meinem Kollegen Leon Pollok, "das ist einfach nur gaga." Nein, es ist leider das neue Normal.

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Während viele Europäer schwitzen, hat der Internationale Gerichtshof in Den Haag ein epochales Gutachten veröffentlicht: Klimaschutz ist demnach kein Luxus, keine Option, keine diplomatische Worthülse – sondern ein Menschenrecht. Genauso wie das Recht auf körperliche Unversehrtheit oder auf Meinungsfreiheit. Wer also das Klima zerstört, verletzt Menschenrechte. Nicht abstrakt, sondern ganz real: das Recht auf Gesundheit, auf ein würdiges Leben, auf Zukunft. Deshalb haben Staaten die Pflicht, "erhebliche Umweltschäden zu verhindern", wie die Richter es ausdrücken. Davon leiten sie einen Entschädigungsanspruch für Menschen in jenen Ländern ab, die besonders von Klimaschäden betroffen sind. Auf Basis dieser Entscheidung des obersten internationalen Gerichts können nun Menschen in Afrika, Asien und auch Südeuropa die Hauptemittenten von Treibhausgasen verklagen: allen voran die USA und China, aber auch Deutschland. Die Richter stellen klar: Es ist allerhöchste Zeit für entschlossenen Klimaschutz. Wer jetzt noch zögert, zündelt.

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Trotzdem wird in nahezu allen Hauptstädten weiter herumlaviert. Regierungen diskutieren endlos über Klimaziele, trödeln jedoch bei deren Umsetzung. Sie verhandeln auf Mammutkonferenzen faule Kompromisse, wo es beherzte Konsequenzen bräuchte. Statt eines "Green Deal", der seinen Namen verdient, bekommen 450 Millionen EU-Bürger nur grüne Etiketten vorgesetzt. Statt sofort konsequent auf nachhaltige Technologien zu setzen, werden Kohlebergwerke gefördert, Autobahnen gebaut und neue Gaskraftwerke geplant.

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Die Natur verhandelt nicht. Sie kennt keine politischen Fraktionen, keine Lobbyisten und keine Legislaturperioden. Sie antwortet mit Hitzeglocken, Bränden und Fluten. Dass Gerichte zur letzten Hoffnung auf eine Kehrtwende werden, ist ein Armutszeugnis für Politiker von Berlin bis Washington und von Peking bis Riad. Ihre lähmende Behäbigkeit und ihren kaltblütigen Zynismus kann sich die Weltbevölkerung nicht länger leisten. Erst recht nicht in Europa, das besonders stark von der Erderhitzung heimgesucht wird, zugleich aber die finanziellen und technologischen Mittel hätte, um die globale Umkehr anzuführen. Was nutzt ein kurzfristiger Wirtschaftsaufschwung, wenn dafür die Grundlagen künftigen Wirtschaftens zerstört werden? Nachhaltig denkende Wissenschaftler benennen glasklar, was es dringend braucht, um Schlimmeres zu verhindern:

  • Ein europäisches Kohleausstiegsgesetz mit Enddatum 2030, nicht 2038 oder später.
  • Ein Verbot von Subventionen für fossile Energien.
  • Pragmatische Lösungen beim Netzausbau – Strommasten sind keine Augenweide, lassen sich aber zehnmal schneller errichten, als Kabel zu vergraben.
  • Ein massives Investitionsprogramm für klimagerechte Infrastruktur: hitzeresiliente Innenstädte, Wälder als Wasserspeicher, Solaranlagen auf Dächern.
  • Massive Investitionen in Bahnverkehr, Elektrobusse und Fahrradwege – im Zweifel auf Kosten sozialstaatlicher Wohltaten.
  • Einen EU-weiten Klima-Solidarfonds, der nicht nur wohlhabende Nord- und Mitteleuropäer schützt, sondern auch die Alten in Athen, die Kinder in Palermo und die Bauern in Thessalien.
  • Den Stopp der absurden Kreislaufwirtschaft bei der Rinderhaltung: Brasilien holzt den Regenwald ab, um Soja anzubauen, das an Kühe in den Niederlanden, Deutschland und Frankreich verfüttert wird, um Milchpulver nach China zu verkaufen – das ist doch irre!

Kurzum: Es braucht eine Politik, die sich an der Realität orientiert – nicht nur am kurzfristigen Profit und an der nächsten Wahl. Europa steht am Scheideweg zwischen Trägheit und Transformation, zwischen Ignoranz und Intelligenz. Jeder Tag des Abwartens verkleinert den Handlungsspielraum. Bis irgendwann nichts mehr helfen wird als die knallharte Notbremse. Das will man lieber nicht erleben.


Frostiger Gipfel

Die aktuelle Stimmungslage zwischen der EU und China als angespannt zu bezeichnen, ist noch untertrieben. Frostig dürfte es besser treffen. Davon zeugen schon die Begleitumstände des Gipfeltreffens, zu dem heute in Peking EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratspräsident António Costa mit dem allgewaltigen Partei- und Staatschef Xi Jinping und Ministerpräsident Li Qiang zusammenkommen: Eigentlich hätte es turnusmäßig in Brüssel stattfinden sollen, doch China schlug die Einladung aus. Eigentlich waren für die Gespräche zwei Tage anberaumt, doch China verkürzte sie auf einen. Dass die Delegationen viel Zeit darauf verwenden, das 50. Jubiläum diplomatischer Beziehungen zwischen Europa und der Volksrepublik zu feiern, ist unwahrscheinlich.

Lang ist dagegen die Liste der Konflikte. Über allem schwebt Chinas enges Verhältnis zu Russland und seine Unterstützung für Putins Kriegsmaschinerie. Hinzu kommt das chronisch hohe Handelsdefizit der EU mit der Volksrepublik, das sich 2024 auf rund 300 Milliarden Euro belief und zu dem auch die Massen von subventionierten E-Autos beitragen, mit denen China die Exportmärkte flutet. Und dann sind da noch die von Peking verfügten Beschränkungen beim Export von Seltenen Erden, die europäische Hersteller zunehmend unter Druck setzen. Konkrete Ergebnisse, Kompromisse oder gar gemeinsame Bekenntnisse wird es bei all diesen Punkten eher nicht geben, leider auch nicht im Bereich der Klimadiplomatie.

Wie heißt es immer dann, wenn die Erwartungen an einen Gipfel wirklich nicht zu unterbieten sind: Schon dass er überhaupt stattfindet, ist ein Erfolg.


Bedingt abwehrbereit

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An Sommerurlaub denkt Boris Pistorius offenbar noch nicht. Rastlos tourt der Verteidigungsminister durchs Land, das er bis 2029 "kriegstüchtig" machen will. So ließ er sich am Dienstag in der Sanitätsakademie der Bundeswehr in München den Prototypen einer Drohne zeigen, die künftig Verwundete transportieren soll; in einem Innovationslabor in Erding inspizierte er Abfangdrohnen.

Heute steht für den SPD-Ressortchef ein Besuch des Rheinmetall-Werks im niedersächsischen Unterlüß auf dem Programm. Und weil dort nicht nur Artilleriegranaten, sondern auch Bauteile des deutsch-französischen Panzerprojekts MGCS ("Main Ground Combat System") hergestellt werden, hat er seinen Pariser Amtskollegen Sébastien Lecornu im Schlepptau.


Ein bisschen Ruhe

Achtmal hat die Europäische Zentralbank seit Mitte 2024 die Zinsen gesenkt. Den für Sparer und Banken relevanten Einlagenzins setzte sie zuletzt im Juni um 0,25 Punkte auf 2,0 Prozent herab. Wenn die Währungshüter heute erneut über die Leitzinsen im Euroraum entscheiden, rechnen viele Ökonomen allerdings mit einer Pause. Zum einen liegt die Inflation derzeit bei 2,0 Prozent und damit genau im Zielbereich der EZB, zum anderen sind die Folgen des Zollstreits mit den USA noch nicht absehbar.


Lesetipps

Die Diskussion um Frauke Brosius-Gersdorf geht weiter: Petitionen bringen Hunderttausende Unterschriften. Dabei gibt es eine gute Nachricht, schreibt unsere Kolumnistin Nicole Diekmann.



In ukrainischen Großstädten gibt es die ersten Proteste gegen die Regierung seit dem russischen Überfall. Präsident Selenskyj sieht sich wegen der Unterzeichnung eines umstrittenen Gesetzes scharfer Kritik ausgesetzt, wissen meine Kollegen Simon Cleven und Martin Küper.


Die Sozialsysteme gehen gleichzeitig in die Knie. Immer kuriosere Ideen kommen auf, damit die Jungen nicht unter der Rentenlast erdrückt werden. Unser Politikchef Christoph Schwennicke ist als Teil des Problems für manches offen – unter einer Bedingung.


Ohrenschmaus

Fast 60 Jahre alt. Gestern wiedergefunden. Toll!


Zum Schluss

Nicht überall ist es heiß.

Ich wünsche Ihnen einen milden Tag.

Herzliche Grüße und bis morgen

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

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Mit Material von dpa.

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