Kiew dementiert, Russland feiert Ein weiteres Stück Ukraine fällt

Russland will die Stadt Tschassiw Jar erobert haben. Noch dementiert die Ukraine, doch bald wird es wohl dennoch offiziell werden. Russland bekommt damit neue Möglichkeiten für Vorstöße im Donbass.
Das russische Verteidigungsministerium hat am Donnerstag die Eroberung der strategisch wichtigen ukrainischen Stadt Tschassiw Jar gemeldet. Vor dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 lebten rund 12.500 Menschen in der Kleinstadt in der Region Donezk. Auf jüngst von russischen Kanälen geteilten Luftaufnahmen liegt die Stadt jedoch in Schutt und Asche. Knapp 16 Monate dauerten die Gefechte um Tschassiw Jar bisher an – eine der längsten und wohl verlustreichsten Schlachten des Ukraine-Kriegs.
Gänzlich beendet ist die Schlacht laut Angaben aus der Ukraine jedoch weiterhin nicht. Präsident Wolodymyr Selenskyj bezeichnete die Erklärung aus Moskau als "Desinformation". Auch Viktor Trehubow, Sprecher der in Donezk stationierten Heeresgruppe "Chortyzja", weist die russische Darstellung zurück: "Die Situation in Tschassiw Jar ist die gleiche wie in den letzten Monaten. Die Russen lügen einfach wieder", sagte er dem Sender RBC. Ebenso führt das in der Regel gut informierte Portal "Deep State Map" den westlichen Rand der Stadt noch immer als ukrainisch kontrolliert.
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Trotzdem dürfte die vollständige Eroberung von Tschassiw Jar nur noch eine Frage der Zeit sein. Obwohl ukrainische Militärbeobachter versuchen, die Bedeutung der Stadt herunterzuspielen, offenbart sich in Tschassiw Jar eine der dringendsten Herausforderungen für die ukrainische Armee: Die Verteidigung des Donbass ruht auf immer weniger Säulen. Und wenn Russland die Eroberung weiterer Festungsstädte gelingt, liegt dahinter weitgehend offenes Land, was weitere Vorstöße ins Zentrum der Ukraine begünstigen würde. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit.
Tschassiw Jar: Russlands Ziel nach der Zerstörung von Bachmut
Tschassiw Jar rückte ins Visier der Kremltruppen, nachdem sie im Mai 2023 die nahegelegene Stadt Bachmut in einer monatelangen und äußerst blutigen Stadt erobert hatten. Um die Strecke von rund elf Kilometern zwischen dem westlichen Rand von Bachmut bis zu den westlichen Außenbezirken von Tschassiw Jar vorzustoßen, brauchten die russischen Soldaten also sogar rund 26 Monate. Erst im März/April 2024 begann jedoch die eigentliche Schlacht um die Stadt.
Aus russischer Perspektive ist die Eroberung von Tschassiw Jar gleich aus mehreren Gründen bedeutend. Da die Stadt auf einer Anhöhe liegt, bot sie für die Verteidiger einen guten Punkt, von dem aus Artillerie- und Drohnenangriffe auf die Russen gestartet werden konnten. Gleichzeitig liegt nun auf ihrem Weg in Richtung weiterer Festungsstädte wie Kostjantyniwka, Druschkiwka, Kramatorsk oder Slowjansk eine Hürde weniger vor den Kremltruppen.
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Strategie der Ukraine in Tschassiw Jar: Russlands Truppen aufreiben
Aus denselben Gründen war es für die Ukraine unausweichlich, die Schlacht um Tschassiw Jar so lang wie möglich auszudehnen. Die gute Verteidigungsposition bot den Ukrainern eine Chance, die in ihrer Mannstärke deutlich überlegenen russischen Angreifer abzunutzen. Jeder Russe, der auf die Stadt anrannte, fehlte den Invasoren an anderer Stelle der Front.
Es ist eine krude Logik, die an der Front in der Ukraine jedoch weitgehend Bestand hat, seitdem die ukrainische Gegenoffensive im Herbst 2023 endete. Seitdem gibt es auf beiden Seiten kaum größere Bewegungen. Genauso wie die Ukraine spielt auch Russland auf Zeit und glaubt, dabei den längeren Atem – also vor allem die größeren Reserven an Personal und Material – zu haben.
Es gibt keine offiziellen Angaben über die Verluste der beiden Kriegsparteien. "Deep State Map" bezifferte die russischen Verluste in Tschassiw Jar zwischen April 2024 und Februar 2025 vor Monaten auf 4.880. In den vergangenen fünf Monaten dürften nochmals deutlich mehr tote, verletzte und gefangen genommene Soldaten hinzugekommen sein.
Russland nimmt Kurs auf den Donbass-Festungsgürtel
Selbst solch hohe oder noch höhere Verluste werden Russland zu diesem Zeitpunkt des Krieges wohl kaum davon abhalten, weitere Geländegewinne anzuvisieren. Noch sind die Rekrutierungszahlen in Russland hoch genug, um solche Verluste ausgleichen zu können. Laut dem Russland-Experten und Ökonomen Janis Kluge hat Russland im ersten Halbjahr 2025 191.000 neue Soldaten rekrutiert, also im Schnitt etwas mehr als 30.000 pro Monat. Diese Soldaten sollen nun weitere Vorstöße unternehmen.
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Die Eroberung von Tschassiw Jar eröffnet den Kremltruppen mehrere Möglichkeiten, um in Donezk weiter vorzurücken. Gleichwohl liegt das Rückgrat der ukrainischen Donbass-Verteidigung, der Festungsgürtel aus den Städten Kostjantyniwka, Slowjansk und Kramatorsk, noch vor ihnen.
Ebenfalls haben sie die Stadt Pokrowsk bislang nicht erobert, die jedoch kurz vor der Einkesselung stehen soll. Vor allem aus östlicher Richtung werde versucht, die ukrainischen Stellungen zu durchbrechen und Pokrowsk einzukreisen, berichtete Viktor Trehubow, Sprecher der dortigen Truppen, im ukrainischen Staatsfernsehen. Der Abwehrkampf in diesem Bereich bei Kostjantyniwka dauere an. Ein direkter Sturm auf Pokrowsk ergebe für das russische Militär angesichts hoher Verluste keinen Sinn, daher der Umfassungsversuch. Pokrowsk ist seit Monaten Dauerbrennpunkt an den Fronten im Osten der Ukraine.
Diese Möglichkeiten eröffnet der Fall von Tschassiw Jar den Russen
Die Militärexperten des US-Thinktanks Institute for the Study of War (ISW) sehen nun drei Möglichkeiten für russische Vorstöße:
- Angriff auf Kostjantyniwka: Bis zum nordöstlichen Stadtrand von Kostjantyniwka sind es für die russischen Streitkräfte in Tschassiw Jar nur sechs bis acht Kilometer. Ein Frontalangriff sei daher möglich, aber eher unwahrscheinlich, schreibt das ISW. "Die russischen Streitkräfte haben ein Einsatzmuster etabliert, bei dem sie eine Siedlung teilweise einkreisen, bevor sie mit Frontalangriffen Straße für Straße beginnen, und könnten dieses Muster auch bei einer künftigen Operation zur Einnahme von Kostyantynivka beibehalten."
- Angriff auf Druschkiwka: Die Kleinstadt Druschkiwka liegt zwischen Kostjantyniwka und Kramatorsk. Der Weg dorthin würde die Russen über Felder und kleinere Siedlungen, also recht offenes Terrain, führen. Damit würden sie sich angreifbar machen. Die Eroberung Druschkiwkas würde den ukrainischen Truppen in Kostjantyniwka jedoch ihre Rückzugs- und Versorgungswege nach Kramatorsk nehmen.
- Vorstöße nordwestlich von Tschassiw Jar: "Russische Streitkräfte könnten Einheiten umgruppieren, um entlang der Autobahn E-40 Bachmut-Slowjansk anzugreifen und so die Voraussetzungen für einen Angriff auf den Festungsgürtel aus nordöstlicher Richtung zu schaffen", schreibt das ISW. Dazu müsse das russische Kommando jedoch sicher sein, dass seine Truppen zu solchen Vorstößen in der Lage sind. Auf dem direkten Weg von Tschassiw Jar nach Kramatorsk und Slowjansk liegen jedoch allerlei natürliche Hindernisse wie Gewässer, die die Russen überqueren müssten.
"Langsam, langsam wird die russische Armee vorrücken"
Laut Einschätzung des ISW wird die Eroberung des ukrainischen Festungsgürtels Russland jedoch noch Jahre kosten. Die Besatzung von Tschassiw Jar eröffne Russland zwar die oben ausgeführten Möglichkeiten. Die Militäranalysten betonen jedoch: "Die russischen Streitkräfte hatten in der Vergangenheit Schwierigkeiten, taktische Siege in umfassendere operative Erfolge umzuwandeln."
Für Russland ist die Eroberung der Stadt jedoch ein weiterer, mindestens symbolischer, Erfolg. Bilder von Kremlsoldaten, die die russische Flagge in einer fast vollständig zerstörten ukrainischen Stadt wie Tschassiw Jar hissen, sollen auch die Moral der eigenen Soldaten anheben. Der ehemalige Kremlberater Sergei Markow schrieb auf Telegram, der Fall von Tschassiw Jar könne den Weg des Krieges in den kommenden Jahren vorzeichnen: "Langsam, langsam wird die russische Armee vorrücken."
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Ukraine bereitet neue Verteidigungslinie im Donbass vor
Die Ukraine steckt bereits mitten in den Vorbereitungen für den möglichen, wenn auch unwahrscheinlichen Zusammenbruch der Front im Donbass. Seit Monaten bauen Militäringenieure an der sogenannten Neuen Donbass-Linie. Dabei handelt es sich um ein System befestigter Verteidigungsstellungen, das einen Vormarsch russischer Truppen ins Zentrum des Landes aufhalten soll, falls die Festungsstädte im Donbass allesamt erobert werden.
Die Verteidigungslinie erstreckt sich über rund 350 Kilometer von der Stadt Charkiw bis zur Ortschaft Vilne Pole am westlichen Rand des Gebiets Donezk. Je nach Sektor besteht die Linie aus lediglich einem Panzergraben oder einer Reihe sogenannter Drachenzähne, also Betonpyramiden, die Panzer an der Durchfahrt hindern sollen. Andere Sektoren verfügen jedoch über gleich drei hintereinanderliegende Panzergräben, die durch eine Reihe von Drachenzähnen dahinter und Stacheldraht vor den Gräben komplettiert werden.
- understandingwar.org: "Russian Offensive Campaign Assessment, July 31, 2025" (englisch)
- rbc.ua: "Росія оголосила про "взяття" Часового Яру: що кажуть у 'Хортиці'" (ukrainisch)
- kyivindependent.com: "Russia 'lying again' about capture of Chasiv Yar, Ukraine claims" (englisch)
- reuters.com: "What is the significance of Russia's claimed capture of Ukrainian town Chasiv Yar?" (englisch)
- kyivpost.com: "Analysis: Kyiv Denies Russian Claimed Capture of Strategic Chasiv Yar" (englisch)
- janiskluge.substack.com: "Russian recruitment: The first half of 2025" (englisch)
- reuters.com: "Russia claims capture of Chasiv Yar after 16-month battle" (englisch)
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa