Korruption in der Ukraine Selenskyj macht Rückzieher

Die Ukraine kämpft seit Jahrzehnten mit einer tief verwurzelten Korruption. Wie angreifbar die Fortschritte des Staats sind, zeigt das Drama der vergangenen Wochen.
Nach massiven Protesten und internationalem Druck hat das ukrainische Parlament die Unabhängigkeit der Antikorruptionsbehörden wiederhergestellt. Mit einem neuen Gesetz revidierte das ukrainische Parlament am Donnerstag eine umstrittene Entscheidung vom 22. Juli. Damals hatten die Abgeordneten das Nationale Antikorruptionsbüro (NABU) und die Spezialisierte Antikorruptionsstaatsanwaltschaft (SAPO) faktisch der Generalstaatsanwaltschaft unterstellt.
Sollte Selenskyj das neue Gesetz unterschreiben, wird die Unabhängigkeit beider Behörden wiederhergestellt. Künftig müssen deren Mitarbeiter sich jedoch regelmäßigen Überprüfungen mit einem Lügendetektor unterziehen. Das soll dazu beitragen, mögliche Verbindungen von Behördenmitarbeitern zu Russland aufzudecken.
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Massive Kritik aus der Gesellschaft und dem Ausland
Die Rolle rückwärts folgte einer der größten Protestwellen seit Beginn des russischen Angriffskriegs. Tausende Menschen gingen in Kiew und anderen Großstädten auf die Straße, obwohl Demonstrationen unter Kriegsrecht eigentlich verboten sind. Sie forderten den Erhalt der unabhängigen Korruptionsbekämpfung. Auch international hatte die Änderung Empörung ausgelöst. Die EU-Kommission sprach von einem "ernsten Rückschritt" auf dem Weg in die Europäische Union. Inzwischen begrüßte Brüssel die Kehrtwende.
Die Ukraine zählt trotz jahrelanger Reformen weiterhin zu den korruptesten Staaten Europas. Auf dem Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International von 2024 belegt das Land Platz 104 von 180. Damit liegt sie zwar vor Russland (Platz 141) und Belarus (Platz 149), bleibt aber deutlich hinter allen EU-Mitgliedstaaten zurück.
Bestechung war an der Tagesordnung
Ausgelöst durch die Maidan-Proteste von 2014 und den politischen Kurs in Richtung EU, begann die Ukraine mit dem Aufbau einer umfassenden Antikorruptionsinfrastruktur. Zuvor war Korruption im Alltag weitverbreitet: Bestechung war bei Behördenvorgängen an der Tagesordnung, Richter galten als nahezu unantastbar, und hochrangige Beamte mussten keine Rechenschaft über ihr Vermögen ablegen. Ermittler, die gegen diese Strukturen vorgingen, wurden behindert oder entlassen.
Fortschritte gab es dennoch: Die Einführung von ProZorro, einem System für öffentliche Auftragsvergabe, sowie von elektronischen Vermögenserklärungen hat mehr Transparenz geschaffen. Rund eine Million Staatsbedienstete – von Lokalbeamten bis zu Richtern – sind verpflichtet, jährlich offenzulegen, wie viel Vermögen und Einkommen sie und ihre Familien besitzen.
Die 2015 gegründeten Behörden NABU und SAPO gelten als zentrale Elemente dieser neuen Infrastruktur. Das Nationale Antikorruptionsbüro (NABU) ist für Ermittlungen zuständig, die Spezialisierte Antikorruptionsstaatsanwaltschaft (SAPO) erhebt Anklage. Gemeinsam mit dem 2019 geschaffenen Hohen Antikorruptionsgericht (HACC) verfolgen sie Korruption auf höchster staatlicher Ebene.
Versuch einer Machtverschiebung?
Warum also wollte Präsident Wolodymyr Selenskyj den Behörden die Unabhängigkeit entziehen? Offiziell begründete er dies mit der Notwendigkeit, russischen Einfluss auf NABU und SAPO zu bekämpfen. Beobachter vermuten jedoch politische Motive. Unmittelbar vor dem ersten Gesetzesbeschluss hatten Sicherheitsdienste zwei NABU-Mitarbeiter festgenommen – ein Vorgang, der bei Kritikern den Eindruck eines koordinierten Vorgehens gegen die Antikorruptionsbehörden verstärkte.
Im Mittelpunkt der Debatte steht Oleksij Tschernyschow, ein enger Vertrauter Selenskyjs. Er wurde im Juni von NABU und SAPO formell der Korruption beschuldigt. Der frühere Minister für Infrastruktur war zuletzt Vizepremier sowie Minister für das 2014 neu gegründete Einheitsministerium. Ziel des Ministeriums war es, Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer im Ausland zur Rückkehr zu bewegen und den russischen Einfluss zurückzudrängen. Doch die Behörde geriet rasch in die Kritik – unklare Zuständigkeiten, doppelte Strukturen mit dem Außenministerium und kaum konkrete Projekte.
Dann kam ein Verdacht gegen Tschernyschow auf: Als Infrastrukturminister soll er ein Grundstück unter Wert staatlichen Unternehmen zugeschanzt haben, die wiederum mit Firmen Investitionsverträge für Wohnbauten schlossen. Der Schaden für den Staat: rund 21 Millionen Euro. Tschernyschow beteuerte zwar seine Kooperationsbereitschaft mit den Ermittlern und trat noch bei öffentlichen Anlässen auf – doch seine politische Karriere gilt als beendet. Auch die Zukunft des Einheitsministeriums gilt als unsicher.
Wenige Tage nachdem NABU und SAPO Oleksij Tschernyschow formell angeklagt hatten, verabschiedeten die Abgeordneten das Gesetz zur Entmachtung beider Behörden. Kritikerinnen wie Olena Schscherban vom Antikorruptionszentrum AntAC sahen darin einen direkten Zusammenhang.
Vertrauensverlust in der Bevölkerung
Die ukrainische Gesellschaft betrachtet Korruption als größten "inneren Feind". Der Osteuropa-Experte Andreas Umland sagte t-online: "Die Korruptionsbekämpfung steht in der ukrainischen Bevölkerung als Thema ganz weit oben." Viele Ukrainer hätten Selenskyjs ursprünglichen Gesetzesvorstoß daher als "eine Art Vertrauensbruch" empfunden.
Selenskyj selbst räumte Fehler ein. "Wahrscheinlich hätte es einen Dialog geben sollen", sagte er am vergangenen Donnerstag. Die schnelle Kehrtwende dürfte auch dem Druck aus der EU geschuldet sein. Immerhin ist die Rechtsstaatlichkeit eine Bedingung für die laufenden EU-Beitrittsverhandlungen.
Das neue Gesetz ist ein Signal: Die Ukraine will an ihrem Weg Richtung EU festhalten. Doch Zweifel bleiben. Zahlreiche enge Vertraute des Präsidenten sind in Korruptionsskandale verwickelt, viele Verfahren wurden eingestellt oder behindert. Der Fall Tschernyschow ist nur eines von mehreren prominenten Beispielen. Die Herausforderung besteht nun darin, die bestehenden Institutionen nicht nur zu erhalten, sondern weiter zu stärken.
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa
- internationalepolitik.de: Der Kampf gegen den inneren Feind
- ti-ukraine.org: Corruption Perceptions Index — 2024
- sueddeutsche.de: Selenskijs Umfeld steht unter Korruptionsverdacht
- spiegel.de: Die Kampfansage
- bpb.de: Der innere Kampf: Korruption und Korruptionsbekämpfung als Hürde und Gradmesser für den EU-Beitritt der Ukraine
- ukraineverstehen.de: Ende eines zweifelhaften Ministeriums