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Zweiter Weltkrieg: "Das Geschrei der Russen ging mir durch Mark und Bein"


Zweiter Weltkrieg
"Das Geschrei der Russen ging mir durch Mark und Bein"

InterviewVon Marc von Lüpke

Aktualisiert am 09.05.2020Lesedauer: 9 Min.
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Historische Aufnahmen: Wie Deutschlands verbrecherischer Krieg begann und sich zur Tragödie des 20. Jahrhunderts entwickelte. (Quelle: t-online)

Er war ein Kind, als die Nazis an die Macht kamen, später bejubelte Werner Petrenz die Erfolge Hitlers. Als Soldat im Zweiten Weltkrieg entdeckte er dann, wie unmenschlich das NS-Regime war.

"Ich hatte Schwein" – so beschreibt Werner Petrenz seine Zeit im Zweiten Weltkrieg. Mehrmals wäre er beinahe umgekommen. Während er in seiner Jugend den Nationalsozialisten noch zugejubelt hatte, wandelte sich während des Krieges seine Einstellung zum Regime.

Ein Gespräch über die Angst im Krieg, die Verbrechen des Nationalsozialismus und welche Lehren die Nachgeborenen aus Diktatur und Zweitem Weltkrieg ziehen sollten.

t-online.de: Herr Petrenz, wie war das, als der Zweite Weltkrieg endete?

Werner Petrenz: Offiziell endete er ja am 8. Mai, doch für mich war der Krieg schon am 29. April 1945 vorbei: Amerikanische Panzer fuhren damals donnernd in unseren Ort ein, sie schossen mehrmals in die Luft, um sich bemerkbar zu machen.

Wo waren Sie damals?

In Herrsching am Ammersee. Sie müssen wissen, dass ich mich zuvor im nahen München aufgehalten habe. Im letzten Kriegsmonat hatten dort nur noch Angst und Furcht geherrscht, immer wieder griffen alliierte Bomber die Stadt an. In Herrsching war es viel besser.

Warum wurden Sie nicht in den Kampf gegen die anrückenden Amerikaner geschickt?

Es war ziemlich knapp. Ich hatte schon große Angst, dass auch meine Studentenkompanie mit der Waffe in der Hand zum letzten Gefecht ausrücken müsste. Aber dann habe ich mit meinen neun Semestern Medizinstudium plötzlich die Notbestallung als Arzt bekommen. Und durfte mir dann ein Lazarett als Arbeitsort aussuchen.

Werner Petrenz, 1920 in der sächsischen Oberlausitz geboren, war hauptberuflich Arzt, dazu betätigte er sich als Kabarettist und Autor. Im Zweiten Weltkrieg war Petrenz unter anderem an der Ostfront eingesetzt. 1945 ging der Mediziner in amerikanische Kriegsgefangenschaft, ließ sich später in Landshut nieder. 2016 veröffentlichte Petrenz seine Erinnerungen unter dem Titel "Ich hatte Schwein. Stationen einesabenteuerlichen Lebens".

Sie wählten also den Ammersee?

Genau. Da habe ich dann eine höchst ungewöhnliche "Gefangenschaft" genossen. Amerikaner habe ich nicht weiter gesehen, stattdessen in der örtlichen Seglerschule gewohnt. Ich hatte ein Zimmer mit Blick aufs Wasser, die Verpflegung erhielt ich im benachbarten Reservelazarett. Dann lernte ich schnell ein Mädel kennen und wir paddelten auf dem See herum. Es war wie im Urlaub.

Das klingt recht idyllisch.

Das war es für kurze Zeit auch, doch es ist natürlich nicht repräsentativ dafür, wie ich den Krieg in den Jahren zuvor erlebt habe.

Bitte berichten Sie.

An der Ostfront war es furchtbar. Ich wäre 1943 mehrere Male fast draufgegangen. Einmal warf ein "Iwan vom Dienst"…

…ein Flieger der Roten Armee…

…eine Bombe ganz in unserer Nähe ab. Ich hob mit meinen Kameraden geradezu vom Boden ab und Splitter prasselten um uns herum nieder. Im September dann, in einer neuen Kampfstellung, bekamen wir sofort einen "heißen Empfang" von den Russen. Drei Mann waren tot bei uns, sieben verwundet. Und immer wieder griffen uns die Russen in der Nacht mit ihrem "Hurrräääh"-Gebrüll an. Das Geschrei der Russen ging mir durch Mark und Bein. Ich hatte wirklich Todesangst an der Ostfront, es ging mir psychisch nicht sehr gut. Einmal wurde ein Leutnant, mit dem ich mich gut verstanden hatte, zu meinem Verbandsplatz getragen: mit zerfetztem Gesicht. Schrecklich.


Wie lange waren sie 1943 dort?

Bis zum November. Als ich im Zug nach Hause saß, haben mir zusätzlich zu den Läusen auch noch Wanzen Gesellschaft geleistet. Aber zur Belohnung bin ich trotzdem erstmal in mein Stammlokal in München gegangen.

Als Sie seit Sommer 1943 an die sowjetische Front gingen, hatte die Wehrmacht die Schlacht von Stalingrad schon lange verloren. Glaubten Sie zu diesem Zeitpunkt überhaupt an einen deutschen Sieg?

Nein. Ich wollte den Krieg nur noch heil überstehen. Das ganze Unheil begann, als Hitler 1941 unbedingt die Sowjetunion überfallen musste. Ich hielt das für alles Wahnwitz.

Waren Sie denn mit den anderen Feldzügen wie gegen Polen und Frankreich einverstanden?

Ich muss es so offen sagen: Ja, ich war damit mehr als einverstanden. Wir hatten damals nicht den Eindruck, dass Deutschland etwas Falsches tat. Für uns war beispielsweise der Angriff auf Polen ein gerechter Krieg. Weil wir glaubten, dass wir uns verteidigen müssten.

Sie beziehen sich auf den angeblichen Angriff polnischer Freischärler auf den deutschen Sender im schlesischen Gleiwitz am 31. August 1939? Den Vorfall hatte die SS inszeniert, Hitler brauchte einen Vorwand zum Angriff.

Das stimmt, aber woher sollten wir das damals wissen? Die Propaganda hat uns das sehr gründlich eingebläut. Genauso war ich beeindruckt von Hitlers anderen Erfolgen: 1935 kehrte das Saarland zurück ins Reich, später marschierte die Wehrmacht wieder in das entmilitarisierte Rheinland ein. Das machte mich stolz: Deutschland war wieder wer in der Welt. Den Versailler Vertrag nach dem Ersten Weltkrieg haben wir alle als Demütigung empfunden.

Also fanden Sie den "Anschluss" Österreichs an das Deutsche Reich und die Nötigung der Tschechoslowakei zum Rückzug aus dem Sudetenland 1938 auch gut?

Ja sicher, wir feierten das alles als große Erfolge! Als Ende September 1938 das Münchner Abkommen geschlossen wurde zwischen Hitler und den Briten und Franzosen, saßen wir am Radio und jubelten. In unseren Augen damals hatte der "Führer" den Frieden bewahrt.

Was hielt Ihre Familie von Hitler und dem Regime?

Mein Vater, ein Landarzt in der sächsischen Lausitz, war ursprünglich deutschnational, trat dann aber später in die NSDAP ein. Genau wie meine Mutter. Es war ja auch nicht schwer, das Regime gut zu finden. Schauen Sie, der Wirtschaft ging es besser, Arbeitslose gab es kaum mehr. Es herrschte Ruhe und Ordnung im Land. Verbrechen gab es offiziell auch nicht mehr, die wurden vertuscht. Bettler und Sinti und Roma waren von den Straßen verschwunden…

Natürlich, weil die Behörden mit aller Brutalität gegen sie vorgingen.

Das ist wahr.

Waren Sie eigentlich in der Hitlerjugend?

Das war ich, allerdings in einer besonderen Situation. Meine Eltern hatten sich getrennt, als ich sieben Jahre alt war. Später schickte mich mein Vater dann auf ein christliches Internat. Dort hatten wir eine Pfadfindergemeinschaft, die dann geschlossen in die HJ überführt worden ist. Wir behielten unsere eigene Führung, so dass wir als junge Männer uns nicht so sehr vom Nationalsozialismus bedrängt gefühlt haben.

Was haben Sie als junger Mensch vom Untergang der Weimarer Republik 1933 mitbekommen?

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Ich habe durchaus mitgekriegt, dass es auf den Straßen zu Schlägereien kam zwischen Nazis und Kommunisten. Um das aber genau zu verstehen, war ich damals noch zu klein. Aber an den 30. Januar 1933 kann ich mich noch gut erinnern.

Der Tag, an dem Hitler Reichskanzler wurde.

Richtig. Wir waren mit unserem Erzieher unterwegs, dann sagte der irgendwann: "Heute hat Adolf Hitler die Macht übernommen." In den Jahren danach sahen wir in den Zeitungen ständig Bilder von Staatsleuten, die Hitler auf dem Obersalzberg ihre Aufwartung machten. Und dann kamen auch noch die Olympischen Spiele in Berlin 1936. Ich war hellauf begeistert von den Leistungen unserer deutschen Athleten. Und auch des Amerikaners Jesse Owens, das war ein ganz großer Sportler.

Im Jahr 1938 nahmen Sie an einem anderen Großereignis der Nationalsozialisten auch selbst teil.

Sie meinen den Reichsparteitag in Nürnberg. Ja, das war ein Ereignis! 16 Stunden waren wir vorher im Zug gesessen. Dann kamen wir ins Zeltlager, wo sich der Reichsjugendführer Baldur von Schirach zu uns setzte. Der Reichsportführer Hans von Tschammer und Osten war später auch da, das war ein persönlicher Bekannter meiner Familie, wir waren alle ganz aufgeregt. Und am 5. September ging es erst richtig los ging: Als Hitler im offenen Wagen ankam, brandete frenetischer Applaus auf, alle jubelten ihm zu.

Sie auch?

Natürlich. Ich muss ehrlich zugeben, dass ich wirklich im Sinne des Regimes zutiefst angetan war. Hitlers Rede war einfach unglaublich fesselnd und mitreißend. Auch wenn diese Glorifizierung heute seltsam wirken mag.

Würden Sie sich damals selbst als Nationalsozialist bezeichnen?

Das ist schwer zu beantworten. Ich stand jedenfalls hinter der nationalsozialistischen Politik, das bestreite ich nicht. Soweit mir jedenfalls bekannt war, was geschah. Andererseits habe ich mich auch nicht übermäßig engagiert.

War Ihnen klar, wie das Regime mit Gegnern umging?

Ich muss gestehen: Nein. Wir wussten, dass in Dachau ein Lager eingerichtet worden war. Wo "Verbrecher" und anderes "Gesindel" zur "Umerziehung" hingebracht wurde. So hieß es offiziell, auch das war die Propaganda, die verbreitet wurde.

Was wussten Sie über die Verfolgung der Juden, die 1933 begonnen hatte? Hitler und die NSDAP machten aus ihrem Hass keinen Hehl.

Wir hatten in der Nachbarschaft jüdische Grundbesitzer, die mit meinen Eltern befreundet waren. Im Jahre 1938 waren die plötzlich verschwunden.

Haben Sie sich nicht gefragt, was aus diesen Menschen geworden ist?

So schlimm es ist: Ich habe mir keine Gedanken darüber gemacht. Ich war ein junger Mann, wahrscheinlich wollte ich es nicht sehen. Aber später gingen mir dann die Augen auf, was die Nazis anrichteten.

Wann war das?

Nach Kriegsbeginn im September 1939. Ich war damals beim Reichsarbeitsdienst, der verpflichtend war. Wir erhielten dann kurzerhand Armbinden mit der Aufschrift "Wehrmacht" und wurden über die Grenze auf erobertes Gebiet zur Arbeit geschafft. Mit 18 Gewehren ausgestattet. Damals hörten wir erste Gerüchte, dass wir Deutschen ziemlich brutal mit den Juden dort umgingen.

Haben Sie solche Angriffe selbst gesehen?

Zum Glück nicht. Wir haben aber gesehen, wie Juden zur Arbeit gezwungen wurden. Was sich da genau abgespielt hat, wurde mir aber erst im Laufe des Krieges richtig klar.

Wann?

Das war im Frühjahr 1941. Ich war damals bereits regulär eingezogen worden zur Wehrmacht. Und hielt mich in Warschau auf. Damals fuhr ich unter anderem mit der Straßenbahn durch das Ghetto in der Stadt: Ich sah die Menschen eingepfercht in das Ghetto, Schmutz auf den Straßen, Kinder, die auf der Straße herumvegetierten. Dann diese Karren, die Tote wegtransportieren. Es war entsetzlich.

Und Ihre Begeisterung für den Nationalsozialismus?

Damit war es vorbei. Damals wurde mir schlagartig klar, was hinter der Judenverfolgung steckte.

Doch Sie blieben weiter Soldat.

Ja, natürlich. Ich hatte aber auch keine andere Wahl. Ich war ja angehender Arzt und meine Pflicht war es, Menschenleben zu retten. Doch ich sah nun das Regime sehr kritisch.

Haben Sie jemals an Widerstand gedacht wie etwa Hans Scholl von der Weißen Rose?

Nein, niemals. Jedem war klar: Mund halten, sonst geht es einem schnell an den Kragen. Die Weiße Rose war für uns eine Gruppe von Traumtänzern.

Wie meinen Sie das?

Ich war zu dieser Zeit in der gleichen Studentenkompanie wie Hans Scholl und sein Freund Alexander Schmorell in München. Eine persönliche Beziehung hatte ich allerdings nicht zu ihnen, man sah sich halt mal beim Essen. Als wir hörten, dass Hans und seine Schwester Sophie vom Hausmeister am 18. Februar 1943 in der Universität beim Verteilen von Flugblättern festgehalten worden sind, waren wir erschüttert. Wir fragten uns: Wie konnte man nur so töricht sein, und sich solch einer Gefahr aussetzen? Dafür hatten wir überhaupt kein Verständnis.

Es war doch eine mutige Tat.

Es war vor allem ihr Todesurteil. Wir haben es uns so erklärt: Hans Scholl lebte in einer Traumwelt, in er tatsächlich dachte, dass er in der Universität seine Meinung frei äußern dürfte. Vor allem konnten wir aber nicht fassen, dass er die anderen mit ins Verderben riss. Auch die Münchner Bürger haben nur sehr schlecht über die Weiße Rose gesprochen.

Wie kam das?

Die meisten sagten: "Schaut euch diese Bürschl an, studieren auf unsere Kosten, während unsere Männer und Söhne an der Front kämpfen – und jetzt wollen sie auch noch Revoluzzer sein." Erst nach dem Krieg wurden die Scholls zu Helden, weil man feststellte, wie wenig Widerstandskämpfer es gegeben hat.

Trotzdem haben die Scholls etwas unternommen, während Millionen geschwiegen haben. Und viele andere bei den Verbrechen der Nazis mitgemacht haben.

Ja, das stimmt. Aber so haben wir in der Studentenkompanie es damals gesehen. Es ist jedenfalls sehr traurig, dass diese jungen Menschen damals ihr Leben lassen mussten.

Sie wären selbst 1944 beinahe umgekommen. Wenn auch aus ganz anderem Grund.

Ja, das war Mitte Juli im Jahr 1944. Es gab einen Fliegeralarm, ich wollte aber nicht allein im Luftschutzkeller des Hauses sitzen, in dem ich bei meinem Kumpel Jupp Gronenborn wohnte. Der war nicht zu Hause. Also bin ich zur Uni gelaufen, um dort den Angriff abzuwarten. Als ich zurückkam, stand ich vor dem brennenden Trümmerhaufen des Hauses. Dann erfuhr ich, dass mein Freund Jupp doch wiedergekommen war, kurz nachdem ich mich auf den Weg gemacht hatte, sie bargen ihn tot aus den Trümmern. Wenn wir uns getroffen hätten, wäre ich mit Sicherheit mit ihm in den Luftschutzkeller gegangen. Und wir beide wären tot gewesen. Im Oktober des Jahres geschah dann gleich das nächste schreckliche Ereignis: Bei einem Mittags-Angriff schlug eine Bombe ein, die Druckwelle warf mich zu Boden. Ziegelmassen, die herab stürzten begruben meine Beine, ich rechnete schon mit meinem Ende. Zum Glück kam ich aus meinen Schaftstiefeln heraus und mithilfe eines Durchbruchs kam ich in Sicherheit. Bis heute leide ich seitdem unter Klaustrophobie, ich kann nicht fliegen.

Wenn Sie nun zurückschauen: Wie steht es um Ihre persönliche Verantwortung, haben Sie Schuld auf sich geladen im Krieg?

Ich will meine anfängliche Begeisterung für das Regime nicht leugnen. Doch gleichzeitig ist mir nun klar: Mir und meiner Generation haben die Nazis unsere Jugend gestohlen. Leider habe ich es zu spät bemerkt. Man kann nur lernen aus der Geschichte und hoffen, dass sie sich nicht wiederholt.

  • 75 Jahre Ende Zweiter Weltkrieg: Alle Artikel in der Übersicht

Herr Petrenz, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Telefonisches Gespräch mit Werner Petrenz
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