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Texel am Ende des Zweiten Weltkriegs: "Mussten acht bis zehn Deutsche umbringen"


Aufstand auf Texel
"Einige mussten acht bis zehn Deutsche umbringen"

Von Marc von Lüpke

15.05.2020Lesedauer: 5 Min.
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Historische Aufnahmen: Wie Deutschlands verbrecherischer Krieg begann und sich zur Tragödie des 20. Jahrhunderts entwickelte. (Quelle: t-online)

Am 8. Mai 1945 schwiegen die Waffen, die Wehrmacht hatte kapituliert. Doch auf der niederländischen Insel Texel ging das Blutvergießen weiter: Deutsche und Georgier massakrierten sich gegenseitig.

In der Nacht vom 5. auf den 6. April 1945 liegen die meisten deutschen Soldaten auf der Nordseeinsel Texel im tiefen Schlaf. Viele werden nicht mehr daraus erwachen – denn ab ein Uhr sterben sie einen gewaltsamen Tod. Oft wird ihnen die Kehle durchgeschnitten, bisweilen werden sie erstochen. Mit geschärften Messern oder Bajonetten. Manche werden auch kurzerhand erschossen.

Die Täter tragen wie die Opfer deutsche Uniformen. Allerdings stammen sie aus einem weit entfernten Land. Es sind Georgier, rekrutiert für die sogenannte Georgische Legion in Diensten des "Dritten Reichs". Anfang April 1945 entscheiden sich die Männer zum Aufstand gegen die Deutschen – und liefern sich bis zum 20. Mai 1945 ein Gemetzel mit der Wehrmacht. Einem Zeitpunkt, als längst Frieden im übrigen Europa herrscht. Die niederländische Insel Texel wird so gewissermaßen zum letzten Schlachtfeld des Zweiten Weltkriegs auf dem Kontinent.

Bis dahin war Texel für die deutschen Besatzungssoldaten ein angenehmer Stationierungsort. Schwimmen, Musizieren, nebenbei der Aufbau des "Atlantikwalls". Die größte Gefahr auf der Insel bestand im sogenannten Dünenkoller. Anfang 1945 wurde zusätzlich das Georgische Infanteriebataillon 822 dorthin versetzt, rund 800 Georgier dienten darin.

"Alles war besser als der Tod"

Diese Männer waren vor allem Kriegsgefangene, die sich zum Waffendienst für den Gegner bereit erklärt hatten. Die vormaligen Rotarmisten taten dies nicht zuletzt, um dem Elend in den deutschen Kriegsgefangenenlagern, wo Hunger und Seuchen herrschten, zu entkommen. "Alles war besser als der Tod", bekannte etwa ein Angehöriger der Einheit.

Im April 1945 erreichte die Georgier dann die Hiobsbotschaft: Ein Teil der Truppe sollte an die Front versetzt werden, der Rest auf Texel verbleiben – als eine Art Geiseln. Denn den Deutschen war durchaus bewusst, dass die zum Dienst gezwungenen Georgier nicht als Kanonenfutter für Hitlers untergehende Allmachtsfantasien enden wollten. Dies hatten die Männer aus dem Kaukasus in der Tat nicht vor. "Tag der Geburt" nannten die Anführer des Aufstands um den Offizier Shalwa Loladze ihr Vorhaben zur Rebellion. Das Luftfahrt- und Kriegsmuseum Texel erinnert heute an den Aufstand gegen die Deutschen.

Die Besatzer waren ahnungslos

Gut vorbereitet waren die Georgier demnach in der betreffenden Nacht zum 6. April 1945. Ein Signalschuss aus dem Hauptort Den Burg war der Auftakt zum Aufstand, überall töteten die Aufständischen ihre bisherigen Waffenbrüder. Schlafende wie Wachhabende, nahezu 400 Landser. "Es wurde vorher genau geplant, wie viele Deutsche getötet werden sollten und wer wen töten musste", berichtete später der beteiligte Jewgeni Artimidze. "Einige mussten acht bis zehn Deutsche umbringen."

Die Deutschen selbst hatten nichts geahnt, allen voran der höchstrangige Offizier Klaus Breitner. "Wir hielten das sogar für ganz ausgeschlossen, da die Georgier deutsche Uniformen trugen", äußerte sich der Soldat nach dem Krieg, wie der "Spiegel" dokumentierte. Ein merkwürdiges Verständnis erpresster Loyalität. Auf Breitner hatten es die Aufrührer natürlich besonders abgesehen. Er entkam aber.

Allerdings nur knapp. Die Georgier hatten sich mit Männern des niederländischen Widerstands zusammengetan, um auch die letzten Deutschen aufzuspüren. Gefangene? Die gab es nicht. "Jeder Deutsche bekam die Kugel", so etwa Huug Snoek, der die Georgier unterstützte. Zahlreiche Erfolge hatten die Rebellen in der Nacht erreicht, darunter die Einnahme des deutschen Hauptquartiers nahe Den Burg.

Mordbefehl aus Berlin

Aber es reichte nicht. Die beiden großen Batterien im Norden und Süden, geschützt von Minengürteln, verblieben in deutscher Hand. Bald begann der Beschuss der Orte Den Burg und De Waal, Dutzende unbeteiligte Inselbewohner starben. Als Berlin dann die Nachricht vom Aufstand auf Texel erreichte, dekretierte Hitler: "Alle Georgier sofort liquidieren!"

Kommandant Breitner kam diesem Befehl laut "Spiegel" bereitwillig nach: "Wir schlugen hart und fanatisch zurück." Auch nach Kriegsende war Breitner noch mit sich im Reinen angesichts seines Vorgehens auf Texel: "Georgier, die überlaufen wollten oder gefangengenommen wurden, haben wir direkt erschossen."

Schnell wurden neue Truppen nach Texel verlegt, auf der Insel herrschte nun auch Krieg. Nach und nach eroberte die Wehrmacht strategisch wichtige Punkte unter hohem Blutzoll zurück, darunter das Flugfeld und den Leuchtturm der Insel. Die zahlenmäßig stark unterlegenen Georgier hingegen verfügten über exzellente Schützen, immer wieder lichteten diese die Reihen der Deutschen.

Krieg ohne Gnade

Vor allem litt aber die Zivilbevölkerung. Nicht zuletzt durch den Terror, den die Deutschen entfachten. Denn nachdem sie zahlreiche Georgier gen Norden getrieben und aufgerieben hatten, begann die Suche nach Überlebenden des Aufstands. Diese hatten sich oftmals in Wäldern und auf Höfen versteckt, manche wurden von den Inselbewohnern mit Nahrung versorgt.

Einheimischen, die dabei erwischt wurden, drohte der Tod, ihre Höfe wurden abgefackelt. Georgier, die den Landsern in die Hände fielen, wurden ebenfalls liquidiert. Nicht, ohne dass diese vorher ihre deutschen Uniformen hatten ablegen müssen. In den Augen der Landser waren sie unwürdige Verräter. Die Georgier hingegen wollten nur noch so viele Gegner mit in den Tod nehmen wie möglich, es herrschte Partisanenkrieg. "Niemand würde lebend entkommen", erinnerte sich Grisha Bainduraschwili Jahrzehnte später in dem Dokumentarfilm "De Russenoorlog". "Und das wussten wir auch."

Erst die Kanadier brachten den Frieden

Das Töten ging auch nach dem 5. Mai 1945 weiter. An diesem Tag kapitulierten die deutschen Streitkräfte in Nordwestdeutschland, Dänemark und den Niederlanden. Und auch der 8. Mai 1945, der Tag der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht, veranlasste die Deutschen auf Texel keineswegs dazu, ihre Waffen zu strecken.

Bis zum 20. Mai war Texel daher weiter ein Schlachtfeld. An diesem Tag landeten kanadische Soldaten auf der Insel. Und der Zweite Weltkrieg war in Europa wirklich zu Ende. Zu guter Letzt ließ Klaus Breitner noch die Bataillonsfahne der Georgier verbrennen. Eine leere Geste am Ende eines sinnlosen Gemetzels.

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Bis heute ist den Bewohnern von Texel der Aufstand der Georgier in Erinnerung. Das Ereignis selbst ist allerdings umstritten. Manche Zeitzeugen verübelten den Georgiern die Rebellion, in deren Folge die Insel zum Schlachtfeld wurde. Andere hingegen sahen sie als Symbol des Widerstands.

Angst vor Stalin

Der Blutzoll war jedenfalls gewaltig in diesem Massaker ohne Gnade. "Es wird erzählt, dass wir die Deutschen enthauptet hätten, aber das stimmt nicht", zitierte der "Deutschlandfunk" später Jewgeni Artimidze. "Wir haben ihnen nur die Kehle durchgeschnitten." Der Befehlshaber der Kanadier schätzte nach seiner Ankunft die Verluste der georgischen Seite auf 470 Mann, die der Deutschen auf über 2.000 und die unter der Inselbevölkerung auf rund 120.

Für die überlebenden Georgier war die Zeit der Angst gleichwohl nicht vorbei. In den Augen des Sowjetdiktators Stalin galten sie als Überläufer, als Kollaborateure. Auch deswegen hatten die unfreiwilligen Bundesgenossen der Wehrmacht den Aufstand gewagt. Um sich zu rehabilitieren.

Zum Hingehen:
Das Luftfahrt- und Kriegsmuseum Texel erinnert an den Georgischen Aufstand 1945 in seiner Ausstellung.

Verwendete Quellen
  • Dokumentarfilm "De Russenoorlog" von Arnold van Bruggen, 2009
  • Kai Althoetmar: Die letzte Schlacht: 6. April 1945. Der Aufstand der georgischen Legionäre, 2017
  • Spiegel: Blutbad im Dünenparadies
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