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Jahrzehnte nach dem GAU: Aufräumen in der Hölle von Tschernobyl


Jahrzehnte nach dem GAU
Aufräumen in der Hölle von Tschernobyl

Ulrich Weih

29.04.2016Lesedauer: 3 Min.
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Der Reaktorblock 4 im Atomkraftwerk Tschernobyl. Hier ereignete sich vor 30 Jahren die bislang schwerste Nuklearkatastrophe.Vergrößern des Bildes
Der Reaktorblock 4 im Atomkraftwerk Tschernobyl. Hier ereignete sich vor 30 Jahren die bislang schwerste Nuklearkatastrophe. (Quelle: imago / ITAR-TASS)

Im April 1986 explodierte Reaktorblock 4 des Kernkraftwerks von Tschernobyl. Tonnenweise wurde hochradioaktives Material freigesetzt, das Gebiet im Umkreis von Kilometern schwer radioaktiv verseucht. Eine verlassene Todeszone? Keineswegs - täglich arbeiten 3000 Menschen am Katastrophen-Meiler.

Eine ihrer Hauptaufgaben: Sie bauen eine neue Schutzhülle für den weiterhin strahlenden Reaktor. Denn die alte Hülle wird nicht mehr lange durchhalten.

Dicht war sie sowieso nie. Aber mittlerweile rostet sie und der Beton ist brüchig. Wenn dieser Mantel einstürzt, wird erneut jede Menge radioaktiver Staub aufgewirbelt, den der Wind weit über die Grenzen der Ukraine hinweg bis in die Nachbarstaaten blasen könnte.

Für 300 Euro in der Todeszone

Die Arbeiter nennen sich selbst "Smertniki" - die "Todgeweihten". Und dennoch ist der Job in der Strahlenruine äußerst begehrt. Kein Wunder: Die Arbeitslosigkeit in der Ukraine ist hoch. Da lockt der Lohn von umgerechnet 300 bis 400 Euro pro Monat. Außerdem seien die Bedingungen gut und die Kantine kostenlos, sagen die Arbeiter.

Der Todes-Reaktor ist der größte Arbeitgeber der Umgebung. Arbeiter, Techniker und Sicherheitsleute sind hier beschäftigt. Dazu kommen noch Fremdenführer und Servicekräfte für die rund 60.000 Katastrophentouristen, die sich das moderne Pompeji jedes Jahr anschauen.

Strahlenkranke müssen gehen

Doch die am stärksten verstrahlte Zone ist für die Besucher gesperrt. Dort wuseln nur die "Todgeweihten" herum. Jeder von ihnen hat ein eigenes Dosimeter, sein persönliches Strahlenmessgerät. Pro Schicht ist eine maximale Strahlendosis von 200 Mikrosievert erlaubt.

Einmal im Monat werden die aufgenommenen Strahlungswerte kontrolliert. Ist die Belastung zu hoch, bekommt der Angestellte frei. Oder sein Arbeitsvertrag wird nicht mehr verlängert. "Eigentlich sind hier nur gesunde Arbeiter", sagt die Nuklearmedizinerin Galina Liatuheva.

Der GAU in Reaktorblock 4

Begonnen hatte die Katastrophe um 1.23 Uhr in der Nacht zum 26. April 1986. Bei einem simulierten Stromausfall sollte getestet werden, ob die Diesel-Notstromaggregate zuverlässig anspringen. Der Versuch ging schief - und eine verheerende Kettenreaktion kam in Gang.

Durch einen unkontrollierten Leistungsanstieg kam es zur Kernschmelze, schließlich explodierte Reaktor 4. Der mehr als 1000 Tonnen schwere Deckel des Reaktorkerns wurde weggesprengt. In großem Umfang wurde radioaktives Material freigesetzt. Die Strahlung war 400 Mal stärker als beim Atombombenabwurf auf Hiroshima. Eine riesige Atomwolke breitete sich über weite Teile Nordeuropas aus.

Ungeschützt ins Strahleninferno

An der Unglücksstelle kamen sogenannte Liquidatoren zum Einsatz: Ohne nennenswerte Schutzkleidung begannen Arbeiter, den Reaktorblock zuzuschütten, um den Graphitbrand zu löschen und den Auswurf von radioaktiven Partikeln zu verringern.

Insgesamt wurden 40 Tonnen Borcarbid abgeworfen, um die nukleare Kettenreaktion zu unterbinden, 800 Tonnen Dolomit, um den Graphitbrand zu unterdrücken und die Wärmeentwicklung zu verringern, 2400 Tonnen Blei, um die Gammastrahlung zu verringern sowie eine geschlossene Schicht über den schmelzenden Kern zu bilden, und 1800 Tonnen Sand und Lehm, um die radioaktiven Stoffe zu filtern.

Tausende Menschen kommen ums Leben

Mindestens 134 der Arbeiter wurden in kürzester Zeit so stark verstrahlt, dass sie an akuter Strahlenkrankheit litten. 28 von ihnen starben innerhalb von Tagen und Wochen. Die Weltgesundheitsorganisation WHO schätzt, dass insgesamt rund 2200 Arbeiter vorzeitig durch Strahlenschäden ums Leben kamen oder noch sterben werden.

Insgesamt forderte die Katastrophe bereits mindestens 10.000 Todesopfer. NGOs gehen davon aus, dass möglicherweise noch Hunderttausende an Krebs sterben werden. Das Gebiet ist weiträumig unbewohnbar, aufgrund des Plutoniums mit einer Halbwertszeit von 24.000 Jahren ist es für lange Zeit verstrahlt.

Rätselhafte Masse schlummert im Reaktor

So sinnvoll das Zuschütten von Reaktor 4 kurz nach der Kernschmelze auch gewesen sein mag - jetzt stehen die Verantwortlichen vor einem gewaltigen Problem: Im Inneren des Reaktors wabert eine lavaartige Kernbrennstoffmasse, von der selbst Nuklearexperten nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen.

Enorme Mengen Radioaktivität schlummern dort - und die eilig gegossene Schutzhülle wird brüchig. Es besteht also Handlungsbedarf - und genug zu tun für die Arbeiter.

Undefinierbarer radioaktiver Müll

Denn erschwerend kommt noch hinzu, dass schon wenige Monate nach dem atomaren GAU die verbliebenen Reaktorblöcke 1 bis 3 wieder hochgefahren wurden. Erst im Dezember 2000 wurde der letzte Reaktor vom Netz genommen. Aus dieser Zeit lagern auf dem Kraftwerksgelände immer noch Fässer und Tanks mit undefinierbaren Flüssigkeiten, ohne Dokumentation des Inhalts.

Hunderttausende Kubikmeter radioaktiver Abfälle sollen in Gruben gefüllt und zugeschüttet worden sein. 21.000 Brennelemente rotten im sogenannten Nasslager vor sich hin - viele dieser mit Uran gefüllten Stäbe sind korrodiert und aufgeplatzt. Alles radioaktive Überbleibsel aus dem "ganz normalen" Kraftwerksbetrieb in der damaligen Sowjetunion.

Die Arbeiter kümmern sich um diese strahlende Vergangenheit, wickeln die stillgelegten Reaktoren ab und sind mit dem milliardenteuren Bau einer neuen Schutzhülle für den Katastrophenreaktor beschäftigt.

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