Katastrophe an der Oder 100 Tonnen tote Fische: Das ist erst der Anfang
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Bestialischer Gestank, verzweifelte Fischer: Ein Ortsbesuch im Katastrophengebiet zeigt, wie dramatisch die Lage an der Oder ist. Gibt es noch Hoffnung?
In der Oder schwimmt der Tod. Man sieht ihn noch nicht von Weitem, aber man riecht ihn schon. Es ist ein Geruch, der einem den Magen umdreht. Es stinkt bestialisch, nach Verwesung und Fisch.
Am Ufer der Oder steht ein alter Mann mit einem langen Bart in Gummistiefeln und Schürze mit einem Kescher in der Hand. Es ist Helmut Zahn, einer der letzten Oder-Fischer. Er wirft einen toten Zander in die Tonne. Er verzieht keine Miene. Er sagt: "Diesen Gestank wünsche ich den Verantwortlichen. Sie würden ihn ihr Leben lang nicht mehr vergessen."
Ausgerechnet Schwedt
Schwedt, eine Kleinstadt in der Uckermark, 33.000 Einwohner. Bislang war die Stadt in erster Linie für ihre PCK-Raffinerie bekannt, die hauptsächlich russisches Rohöl zu Benzin, Heizöl und Bitumen für den Straßenbau verarbeitet. Dabei ist die Industriestadt auch Bestandteil eines Nationalparks. Es ist der einzige in Deutschland, der Flussauen unter Naturschutz gestellt hat. In den Feuchtwiesen leben vom Aussterben bedrohte Vögel-, Pflanzen- und Insektenarten wie der Wachtelkönig, die Krebsschere oder die Grüne Mosaikjungfer, eine Libelle.
Die Oder ist die Lebensader dieses Parks. Ein Paradies für Paddler, Kanufahrer, Naturfreunde und Angler. Und entsprechend schockiert reagierte die Bürgermeisterin der Stadt, Annekathrin Hoppe (SPD), als sie am Mittwoch vergangener Woche mitten in einer Besprechung die Hiobsbotschaft der Landrätin erreichte: Ein großes Fischsterben habe im oberen Oderlauf begonnen. Die Welle treibe auf Schwedt zu.
"Jetzt nimmt man uns auch noch die Natur"
Hoppe steht in Jeans, Sneakern und Poloshirt unter der Brücke, die über die Oder nach Polen führt. Der Schreck steht ihr noch immer ins Gesicht geschrieben. Sie ist in Schwedt aufgewachsen. Sie hat als Wasserbau-Ingenieurin in der Raffinerie gearbeitet. Dann wechselte sie in die Stadtverwaltung. Vor einem Jahr wählten die Schwedter sie zur Bürgermeisterin. Mehr Schwedt geht nicht.
Hoppe sagt: "Wir sind sowieso schon gebeutelt." Weil die Bundesregierung spätestens bis Januar 2023 ein Ölembargo gegen Russland verhängen will, stehe die Existenz der Raffinerie auf dem Spiel. Sie ist der wichtigste Arbeitgeber in der Stadt. Es geht um 1.200 Arbeitsplätze in der Raffinierie und um weitere 1.200 Arbeitsplätze in ihrem Umkreis. Und jetzt auch noch das Fischsterben. Hoppe holt tief Luft. Sie sagt, die Natur sei für viele Bürger ein Refugium gewesen. "Jetzt haben sie das Gefühl: Jetzt nimmt man uns das auch noch weg."
Der Oder-Zander galt als Delikatesse
Hoppes Blick wandert zu einem großen Fisch, den Helmut Zahn aus der Oder gezogen hat. "Das ist ein Wels", erklärt er ihr. "Den kann man leider nicht mehr essen, höchstens noch mit dem Strohhalm."
Zahn ist 65, ein Mann mit wettergegerbtem Gesicht. Eine Kippe hängt in seinem Mundwinkel. Seine Augen glänzen, wenn man ihn fragt, warum er nie wegwollte und warum dieser Beruf immer noch sein Traumberuf ist, obwohl das Geld immer gerade so gereicht habe. "Fischer waren schon immer arme Schweine."
Er liebt Fische. Er weiß, wie man sie am besten zubereitet. "Der Zander wird braungekocht, am besten mit einer Fliedermousse aus Holundersaft." Und er liebt die Oder. Er sagt, er sei jedes Mal ergriffen, wenn morgens die Sonne über der Oder aufgeht und der Nebel übers Wasser wabert. Er sehe hier Dinge, die andere Leute nie zu Gesicht bekämen. Zum Beispiel einen Fuchs, der auf einem Ast spaziere und dann schwimme.
Endstation: Verbrennungsanlage
Jetzt steht Zahn vor den Trümmern seiner Existenz. Er hat Fisch aus dem Meer und Rotbarsche dazugekauft. "Keine Fische aus der Oder" steht auf einem Schild, das er in seinem Fischwagen in der Innenstadt aufgehängt hat. Gekauft hat den trotzdem keiner. Zu groß ist die Angst, dass sie vergiftet wurden.
Deshalb hat Helmut Zahn unter der Oderbrücke eine Ölsperre gelegt. Deshalb steht er dort an einem heißen Tag im August und birgt die halbverwesten Fische. Er will verhindern, dass Vögel sie fressen und Gift in den Nahrungskreislauf gelangen könnte. Die Kadaver landen in einer Verbrennungsanlage der Raffinerie. Die Bürgermeisterin sagt, sie könne mögliche Schadstoffe filtern.
100 Tonnen toter Fische
Fünf bis sechs Tonnen toter Fische hätten sie dort schon verbrannt. 100 Tonnen wurden bislang insgesamt angespült. Die Welle rollt nur langsam und in Etappen weiter in Richtung Ostsee, am Sonntag hatte sie Gartz erreicht und am Montag Mescherin. Am Dienstag wurden die ersten toten Fische auch im polnischen Szczecin entdeckt.
Die Stimmung ist bedrückt – sogar dort, wo die Welle noch gar nicht angekommen ist. In Ueckermünde am Stettiner Haff sind die Strände schon menschenleer. Dabei galt dort bislang nur eine Warnung, kein Verbot. Für einen Ort, der im Sommer vom Tourismus lebt, ist es eine Katastrophe.
Doch Bürgermeister Jürgen Kliewe versucht, Ruhe zu bewahren. Er sagt, klar seien die Touristen verunsichert. Aber noch bestehe kein Grund zur Panik. Das Stettiner Haff ist rund 900 Quadratkilometer groß und damit fast doppelt so groß wie der Bodensee. Wie viele andere Anwohner setzt Kliewe auf den "Verdünnungseffekt". Er hofft, dass die Konzentration des Giftes dort so niedrig ist, dass es kein Leben mehr gefährdet. Wenn es denn ein Gift war.
210.000 Euro Belohnung für Hinweise auf die Täter
Viele Fragen. Und immer noch keine Antworten. Wie viele andere wartet Kliewe stündlich auf die Ergebnisse der Laborproben. In der Pressestelle des Umweltministeriums von Mecklenburg-Vorpommern hieß es am Dienstag, es könne noch Tage dauern.
Kliewe ist beunruhigt. Wie kann es sein, dass die Ursache für die Katastrophe knapp eine Woche nach der ersten Meldung vom Fischsterben in der Oder immer noch nicht feststeht? Dass sich sogar Experten nicht sicher sind, was das Fischesterben ausgelöst hat. Dass polnische Behörden eine Belohnung von umgerechnet 210.000 Euro für Hinweise ausgesetzt haben, die zur Ergreifung der Täter führen.
Experten rätseln über die Ursache
Dabei mehren sich die Hinweise, dass es den Täter und den Schadstoff gar nicht gibt. "Wenn es den gäbe, hätte der sich bei den Laborproben wahrscheinlich längst herauskristallisiert", sagt der Toxikologe Carsten Schleh, Autor des Buches: "Vorsicht, da steckt Gift drin!" Wie viele Experten vermutet er, dass die Katastrophe die Folge des Zusammenspiels mehrerer Faktoren ist, die jeder für sich genommen nicht tödlich sind.
Schleh sagt, möglicherweise hätten sich beim Ausbaggern der Oder Giftstoffe wie Quecksilber gelöst, die im Schlick oder im Sediment der Oder steckten. Durch den niedrigen Pegelstand und die hohe Wassertemperatur seien die Fische schon vorher gestresst gewesen und an dem Gift gestorben. Möglicherweise habe es auch einen Chemie-Unfall gegeben, oder die Schadstoffe seien illegal von einem Industriebetrieb entsorgt worden.
Oder Algen hätten in einem stehenden Nebensee Toxine produziert, die dann durch eine geöffnete Schleuse mit einer Welle in die Oder geschwappt seien. Dafür würde der hohe Sauerstoffgehalt im Wasser sprechen.
Polens Regierungschef feuert Verantwortliche
Aber warum wurden deutsche Behörden erst am 10. August benachrichtigt, während polnische Angler im niederschlesischen Raum schon am 26. Juli auf die toten Fische in der Oder aufmerksam gemacht hatten? Sascha Maier, Gewässerexperte beim BUND, sagt, auf polnischer Seite hätte man das Ausmaß des Fischesterbens falsch eingeschätzt. Er spricht von einem "Behördenversagen" auf polnischer Seite und von den personellen Konsequenzen, die es zur Folge hatte. Sowohl der Leiter eines Wasserwirtschaftsbetriebs als auch ein Inspektor für Umweltaufsicht seien schon gefeuert wurden.
Maier sagt, für Katastrophen wie diese gebe es seit 1986 einen Melde- und Alarmplan. Auslöser war ein Großfeuer in einer Halle des Chemie-Unternehmens Sandoz. Löschwasser mit 20 Tonnen Gift floss in den Rhein, im rot gefärbten Wasser starben Fische. Hätte die Katastrophe in der Oder vermieden werden können, wenn die betroffenen Gemeinden rechtzeitig benachrichtigt worden wären?
Helfer bergen kistenweise tote Fische
Bei den Helfern der Freiwilligen Feuerwehr, die man überall entlang des Flusses trifft, ist das kein Thema. In praller Hitze schleppen sie Kisten mit toten Fischen vom Ufer auf Parkplätze. Fliegen schwirren um sie herum. Ein stechender Verwesungsgeruch liegt in der Luft.
"So große Fische habe ich noch nie geangelt", sagt Ralf Schulz, 34, Feuerwehrmann in Mescherin. Der Hobby-Angler hat Tränen in den Augen. Er sagt, was sie geborgen hätten, sei nur ein Bruchteil dessen, was noch im Wasser sei. Bei Fischen, die schon längere Zeit tot seien, platze irgendwann die Schwimmblase. Die Kadaver sinken auf den Grund. Schulz sagt: "Die ganze Oder ist voller toter Fische."
- Reporterin vor Ort
- Interview mit dem Toxikologen Carsten Schleh
- Interview mit Sascha Maier vom BUND