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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Seit mehr als 40 Jahren verschwunden Was ist mit Jens Strehmel passiert?

Vor mehr als 40 Jahren verschwand ein junger Mann in Westberlin. Die Polizei suchte nie nach ihm. Seine Schwester hofft bis heute, ihn wiederzufinden.
Jens Strehmel will zum Arbeitsamt, um sein Arbeitslosengeld abzuholen. Damals, im April 1982 in Westberlin, vor mehr als 43 Jahren. Seitdem fehlt von dem damals 21-Jährigen jede Spur. Wollte er untertauchen? Ist ihm etwas zugestoßen? Oder hat er sich gar etwas angetan? Keiner weiß es.
Seine Schwester Jaqueline hat die Hoffnung bis heute nicht aufgegeben, eines Tages noch zu erfahren, was mit Jens passiert ist. Sie ist mittlerweile verheiratet, heißt Jaqueline Jänike und arbeitet als Lehrerin an einer Grundschule in Potsdam. "Moment, ich brauche noch Taschentücher", sagt sie vor dem Gespräch in ihrer Potsdamer Wohnung. Das Verschwinden ihres Bruders geht ihr bis heute sehr nahe. An der Wand hängt ein Bild, auf dem sie und Jens als Kinder mit einem Tigerbaby posieren. "Das war im Tierpark. Fast jedes DDR-Kind hat so ein Bild", sagt Jänike.
"Dann fingen die Repressalien an"
Aufgewachsen sind die Geschwister nämlich in Ostberlin. Die Mutter arbeitete in einem Gemüseladen, der Vater als Ingenieur beim Fernsehen. Irgendwann sei ihr Vater aus der SED ausgetreten, erzählt Jänike. "Dann fingen die Repressalien an." Ihr Vater sei vom Leiter eines Übertragungswagens bis zum Pförtner degradiert worden. Sie habe nicht auf die Sportschule gedurft, obwohl sie eine talentierte Leichtathletin war. Die Familie stellt einen Ausreiseantrag. "Ab da hatten wir keine Freunde mehr an der Schule. Allen wurde verboten, mit uns zu spielen."
1978 wird der Ausreiseantrag tatsächlich genehmigt. Die Strehmels beziehen eine kleine Wohnung in Lichtenrade. Jens ist 17 Jahre alt, Jaqueline 16. Sie geht jetzt im Westen auf die Schule und macht ihr Abitur. Er nicht. Er hatte die Schule noch in der DDR abgeschlossen. "Wir waren alle entwurzelt, aber ich hatte immerhin die Schule, um anzukommen. Er hatte erst mal gar nichts", sagt Jänike. Im Winter habe der Bruder gemeinsam mit dem Vater etwas Geld durch Schneeschippen verdient. Etwas später habe er sich von zwielichtigen Leuten für eine "Drückerkolonne" anwerben lassen, die an Türen klingelte und Leuten Zeitungsabos aufschwatzte. "Als er da wieder wegwollte, wollten die ihn nicht gehen lassen. Er musste in einer Nacht-und-Nebel-Aktion abhauen."
"Jens galt als sogenanntes schwieriges Kind"
Die Kindheit ihres Bruders sei kompliziert gewesen. "Jens galt als sogenanntes schwieriges Kind", sagt Jänike. Ein kleiner Raufbold sei er gewesen, der häufig angeeckt sei. Aus ihrer heutigen Sicht als Pädagogin glaubt sie, dass ihr Bruder ein hochsensibles Kind war, das sehr gelitten habe. Unter dem Drill der DDR und unter den Traumata der Eltern.
Der Vater der Strehmels war Jude, Jahrgang 1935. Den Holocaust überlebte er als Kind bei Bekannten im Harz, mit einer Schwester und seiner Mutter versteckt im Keller von Herbst 1942 bis Kriegsende. "Mein Vater hat durch sein Trauma alle seine Probleme und Sorgen mit Humor versteckt", sagt Jänike. Man habe viel Spaß mit ihm haben können. "Aber er konnte nicht erkennen, wenn man ihn als starken Vater brauchte."
Ihre Mutter habe als Kind Gewalt durch ihren Stiefvater erlebt, sagt Jänike. Das habe sie dann an ihre Kinder weitergegeben. Vor allem Jens habe das abbekommen. "Wenn er wieder irgendwas ausgefressen hatte, wurde draufgehauen. Statt zu schauen, was ihm eigentlich fehlte."
"Heute würde das ganz anders laufen"
Ihr eigenes Verhältnis zu ihrem Bruder beschreibt Jänike als klassisches Geschwisterverhältnis. "Mal standen wir einander bei, mal haben wir uns fast die Augen ausgekratzt. Wie das bei Kindern eben so ist." In Schulsachen hätten sie einander ausgeholfen. Er sei künstlerisch sehr begabt gewesen, sie hat ein Sprachtalent. "Er hat dann Bilder für mich gemalt, ich habe seine Russisch-Hausaufgaben gemacht"
Als Jens verschwindet, dauert es ein paar Wochen, bis die Familie sich ernsthafte Sorgen macht. Schließlich gehen die Eltern zur Polizei. Dort werden sie abgewimmelt. "Ihnen wurde gesagt, dass Jens erwachsen ist und damit ein Recht darauf hat, nicht gefunden zu werden", sagt Jänike. Bis heute wurde nie polizeilich nach ihm gesucht. Seine Schwester glaubt, dass die Eltern damals nicht hartnäckig genug waren. "Sie waren noch recht frisch im Westen und eingeschüchtert von dieser neuen Welt. Heute würde das ganz anders laufen", sagt sie.
Tatsächlich bestätigt die Berliner Polizei auf Anfrage, dass Jens Strehmel nicht in den Vermisstenakten geführt wird. Bis heute ist es so, dass nach Erwachsenen, die vermisst werden, nicht zwangsläufig gesucht wird. Polizeisprecherin Anja Dierschke erklärt, dass für eine Suche Hinweise auf eine Straftat oder eine Eigengefährdung der vermissten Person vorliegen müssten. Zum Beispiel, wenn jemand auf Medikamente angewiesen ist, diese aber nicht dabeihat. Oder wenn die Umstände darauf schließen lassen, dass die Person nicht freiwillig verschwunden ist. Wenn all das nicht vorliegt, wird nicht gesucht. Denn Erwachsene haben ein Recht darauf, nicht gefunden zu werden.
In der Familie gab es verschiedene Theorien darüber, was mit Jens passiert ist. Ihr mittlerweile verstorbener Vater sei davon überzeugt gewesen, dass er zur Fremdenlegion gegangen ist und danach im Ausland ein neues Leben angefangen hat. Daran glaubt auch Renate Leković, eine Cousine von Jens und Jaqueline, die bis heute in Berlin lebt.
"Dann hätte man ihn doch irgendwann gefunden"
Jänike kann sich das nicht vorstellen. Ihr Bruder sei viel zu unsportlich gewesen. "Außerdem hätte er sich doch irgendwann bei mir gemeldet", sagt sie. Dass er sich etwas angetan hat, glaube sie auch nicht. "Dann hätte man ihn doch irgendwann gefunden." Sie befürchtet, dass er einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein könnte. "Vielleicht hat er sich mit den falschen Leuten abgegeben."
Trotzdem will sie die Hoffnung nicht aufgeben, dass Jens noch lebt. In den 1990ern war sie in zwei Fernsehsendungen zu Gast, die sich mit Vermisstenfällen beschäftigten. Nie ging ein Hinweis zu Jens ein.
Auf ihrem Facebook-Profil hat Jänike bis heute ihren Geburtsnamen Strehmel in Klammern stehen. "Damit Jens eine Chance hat, mich zu finden. Wenn er das will", sagt die Schwester. "Es wäre mein größter Wunsch, ihn endlich wiederzusehen."
- Persönliches Interview mit Jaqueline Jänike
- Telefonat mit Anja Dierschke, Pressesprecherin der Polizei Berlin
- Telefonat mit Renate Leković, Cousine des Vermissten