Vorwürfe gegen Unternehmen Streik bei TikTok: "Sie versuchen, uns ein bisschen einzuschüchtern"

Seit mehreren Wochen streiken Mitarbeiter des Unternehmens TikTok in Berlin. Das Unternehmen will mehrere Abteilungen auflösen – eine Beschäftigte erzählt.
Es ist der erste Streik von Beschäftigten einer Social-Media-Plattform in Deutschland. Innerhalb von zwei Wochen haben Berliner Beschäftigte der chinesischen Plattform TikTok zweimal ihre Arbeit niedergelegt – aus Protest gegen ihre erwartete Kündigung. Denn das Unternehmen plant, mehrere Abteilungen zum Teil aufzulösen, darunter die "Trust-and-Safety"-Abteilung.
Die Abteilung ist dafür verantwortlich, Inhalte auf der Plattform zu durchsuchen und auf strafrechtlich relevante Inhalte zu prüfen. Diese Aufgabe soll teilweise von Künstlicher Intelligenz (KI) übernommen werden. Einer KI, die die Streikenden trainieren sollen. Die Gewerkschaft Verdi wirft dem Unternehmen die Verbreitung von Falschinformationen und Einschüchterungsversuche vor.
Doch wie geht es Beschäftigten, denen die Kündigung droht? t-online hat mit einer Mitarbeiterin gesprochen, die anonym bleiben will.
"Es reicht von Kriegsverbrechen bis hin zu Mord"
Marie Schreiner (Name von der Redaktion geändert) arbeitet seit mehreren Jahren bei dem Unternehmen in Berlin. Bereits letztes Jahr hatte TikTok angekündigt, im Zuge einer Restrukturierung Kürzungen vorzunehmen. Nachdem einige Stellen weggefallen waren, habe sie gedacht: "Jetzt bin ich ja erst mal sicherer." Doch im März 2025 seien sie und ihre Kollegen über die komplette Auflösung der Abteilung informiert worden, erzählt sie.
Täglich sichte sie Videos, die auf der Plattform veröffentlicht werden. "Es reicht von Kriegsverbrechen bis hin zu Mord", sagt sie. Neben pornografischen Inhalten seien zu Beginn des Krieges gegen die Ukraine 2022 und nach der Terrorattacke der islamistischen Hamas auf Israel im Oktober 2023 eine Vielzahl solcher Videos im Umlauf gewesen. Sie sagt: "Es sind die schlimmsten Sachen, die man vom Krieg sehen kann. Es gibt Tage, die sehr heftig sein können." Doch obwohl die Arbeit sehr belastend sei, könne man sie nicht einer KI überlassen.
KI versteht nicht, "was in der realen Welt los ist"
Dort, wo die veröffentlichten Bilder Kontext benötigen, brauche es Menschen. Die KI verstehe nicht, "was in der realen Welt los ist", sagt Schreiner weiter. Zudem würden Menschen Codewörter verwenden, um den wirklichen Inhalt zu verschleiern. Gerade unter Beiträgen aus der rechtsextremen Szene sehe sie solche Codes. "Die Frage ist eben, wie gut das die KI einschätzen kann", sagt Schreiner. Durch die menschliche Überprüfung hätten sie selbst die KI trainiert, die sie jetzt ersetzen soll. Sie hätten "nichts ahnend einen Teil dazugegeben, dass die KI funktioniert", sagt Schreiner.
Doch richtig zuverlässig sei die KI nicht. Sie und ihre Kollegen hätten bereits Ergebnisse der KI überprüft und dabei Fehler entdeckt. Unter anderem deswegen habe sie sich den Warnstreiks angeschlossen.
TikTok übt offenbar Druck auf Beschäftigte aus
Sowohl Schreiner als auch Verdi kritisieren den Umgang von TikTok mit den Streikenden. In einer internen Mitteilung, die t-online vorliegt, teilt das Unternehmen den Mitarbeitern mit, die Streikenden hätten sich bei ihren Vorgesetzten für die Streiks während der Arbeitszeit abmelden müssen. Ihnen wird darin vorgeworfen, die rechtlichen Bedingungen nicht eingehalten zu haben. TikTok kündigte in der Mitteilung außerdem an, dass die streikenden Mitarbeiter von der Rechtsabteilung für Einzelgespräche kontaktiert werden sollen.
TikTok bezieht sich in der Mitteilung explizit auf die Beteiligung am ersten Streiktag am 23. Juli 2025. Nach dem deutschen Streikrecht sind Mitarbeiter aber nicht verpflichtet, das Unternehmen im Vorfeld darüber zu informieren oder eine Abwesenheit in irgendeiner Form zu beantragen. Das Bundesarbeitsgericht hat bereits 2005 entschieden, dass "das Ausstempeln mit dem Streik im Widerspruch steht". Verdi wirft TikTok deshalb vor, Falschinformationen über das deutsche Streikrecht zu verbreiten.
Zusätzlich bezeichnet die Gewerkschaft die "Ankündigung der Einzelgespräche mit der Behauptung der Verstöße gegen rechtliche Pflichten als Einschüchterungsversuch", teilte ein Sprecher mit. Auch Schreiner sagt: "Dadurch versuchen sie, uns ein bisschen einzuschüchtern."
Das sagt TikTok zu den Vorwürfen
Auf die Vorwürfe der Einschüchterung geht das Unternehmen nicht konkret ein. Bezogen auf die Vorwürfe der Falschinformationen teilte eine Sprecherin von TikTok auf Anfrage mit: "Wir respektieren weiterhin das deutsche Arbeitsrecht und die Rechte der Arbeitnehmer und werden weiterhin transparent und konstruktiv mit dem Betriebsrat zusammenarbeiten."
Zudem weist das Unternehmen darauf hin, dass die Überprüfung von Inhalten weiterhin von Menschen durchgeführt werden solle, auch im deutschsprachigen Raum. "Menschen spielen weiterhin eine Schlüsselrolle in unseren globalen Bemühungen um die Moderation von Inhalten", so das Unternehmen. Das treffe insbesondere bei Entscheidungen zu, die einen spezifischen Kontext benötigen. Dennoch würden sie auch auf "automatische Moderationstechnologie" zurückgreifen, um die Inhalte schneller und konsequenter entfernen zu können.
Dadurch sind laut dem Unternehmen im vergangenen Jahr bereits 80 Prozent der Inhalte erkannt und entfernt worden, die gegen die Richtlinien verstoßen.
"Ich möchte vielleicht gar nicht mehr im Tech-Bereich arbeiten"
Die Auseinandersetzung mit TikTok und die andauernden Streiks würden die Mitarbeiter belasten, sagt Schreiner. Für sie persönlich bedeuten die Erfahrungen der letzten Jahre womöglich einen Berufswechsel: "Ich möchte vielleicht gar nicht mehr im Tech-Bereich arbeiten", sagt sie. Wenn sie drei Jahresgehälter Abfindung, wie Verdi es fordert, erhalten würde, könne sie "einfach mal durchatmen". Vielen ihrer Kollegen würde das Sicherheit geben, um nicht einfach "den nächsten schlechten Job zu nehmen".
Nach einer Einigung zwischen den Streikenden und dem Unternehmen sieht es derzeit nicht aus, TikTok zieht vor Gericht. Das Ziel ist laut Verdi und TikTok die Einsetzung einer Einigungsstelle. Nach Angaben der Gewerkschaft sollen damit die Kündigungen der Mitarbeiter schnell vorangehen, ohne dabei mit dem Betriebsrat oder der Gewerkschaft über die sozialen Kompensationen auf Augenhöhe zu verhandeln. "Bisher hat TikTok den Beschäftigten und dem Betriebsrat Angebote vorgelegt, die diese als unzureichend bewerten", heißt es weiter.
Dazu teilt TikTok mit: "Nach mehreren Verhandlungen mit dem Betriebsrat ist es nicht gelungen, eine Einigung zu erzielen." Mit der Einigungsstelle solle eine faire Lösung gefunden werden. "Damit halten wir uns an das deutsche Arbeitsrecht", so das Unternehmen.
- Gespräch mit Marie Schreiner (Name von der Redaktion geändert)
- Mitteilung von Verdi (per Mail eingegangen)
- Antwort von TikTok (per Mail eingegangen)
- rechtsanwalt-menaker.de: "Streik – Rechte und Pflichten von Arbeitnehmern"
- Eigene Recherche und Berichterstattung