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Clan-Kriminalität: Ex-Chef der Kripo-Gewerkschaft wirft Reul Versäumnisse vor


Ex-Chef der Kripo-Gewerkschaft
Clankriminalität: "Reuls Strategie ist gescheitert"

InterviewVon Thomas Terhorst

13.07.2023Lesedauer: 8 Min.
Interview
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Einsatzkräfte der Polizei Mitte Juni in Essen: Syrische und libanesische Gruppen hatten sich in der Innenstadt auf offener Straße gewalttätige Auseinandersetzungen geliefert.Vergrößern des Bildes
Einsatzkräfte der Polizei Mitte Juni in Essen: Syrische und libanesische Gruppen hatten sich in der Innenstadt auf offener Straße gewalttätige Auseinandersetzungen geliefert. (Quelle: Justin Brosch)

Die Clan-Schlägereien im Ruhrgebiet sind das Ergebnis massiver Versäumnisse bei der Aufstockung von Sicherheitsbehörden, sagt der Ex-Chef der Kripo-Gewerkschaft, Sebastian Fiedler (SPD). Er ist sich sicher: Die Kämpfe gehen weiter.

Der ehemalige Vorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, Sebastian Fiedler (SPD), prangert in einem Interview mit t-online die seiner Auffassung nach massive Unterbesetzung der Kriminalpolizei in NRW an. Die Massenschlägereien mit Messern und Macheten zwischen Syrern und Libanesen auf offener Straße seien ein Ergebnis massiver Fehlentwicklung in den Sicherheitsbehörden.

Innenminister Reul habe die Verstärkung der Kripo verschlafen, sagt er. Fiedler, der seit 2021 für die SPD im Bundestag sitzt, geht nicht davon aus, dass sich die Kämpfe legen werden – sie werden nur bewusster hinter den Kulissen geführt. Zudem erkennt er deutliche Parallelen zu den Auseinandersetzungen der Rockerclubs Hells Angels und Bandidos in den 2010er-Jahren.

t-online: Herr Fiedler, haben wir es in Anbetracht der Kämpfe zwischen syrischen und libanesischen Gruppen im Ruhrgebiet mit einer neuen, ernst zu nehmenden syrischen Clan-Größe zu tun?

Sebastian Fiedler: Ich kann mich erinnern, dass es vor einigen Jahren bereits Stimmen aus den Sicherheitsbehörden gegeben hat, die vor einer problematischen Entwicklung bei familiär geprägten syrischen Strukturen warnten. Es bestand schon damals die Sorge, dass es zu Rivalitäten zum Beispiel mit den libanesisch-türkischen Clans kommen könnte. Das galt vor allem, weil Konkurrenzen auf illegalen Märkten häufig mit Gewalt ausgetragen werden. Ich verfolge die Entwicklungen zwar nicht arbeitstäglich in jedem Bundesland. Ich kann aber sagen: Es ist nicht so, als sei das Problem erst gestern aufgetaucht. Das wäre ein falsches Bild.

Neben kriminellen Strukturen in einzelnen Familien und der Eskalation von belanglosen Einzelkonflikten kommt die Besorgnis darüber hinzu, dass verschiedene politische Blickwinkel Sprengstoff in sich tragen. Die betreffenden syrischen Familien stehen dem Diktator Assad wohl eher kritisch gegenüber, weil sie vor längerer Zeit mal vor dem Regime geflohen sind. Auf der anderen Seite gibt es Hinweise darauf, dass sich unter den Mitgliedern libanesisch-türkischer Clans Assad-Anhänger befinden.

Nun wurde die offensichtliche Rivalität – ausgelöst durch einen Familienstreit – mit Massenschlägereien und Kämpfen mit Messern und Macheten ausgetragen. Wie würden Sie die Lage beschreiben, in der sich NRW mit Blick auf Clankriminalität aktuell befindet?

Man muss bei der Clankriminalität zunächst zumindest zwei Teilaspekte unterscheiden: Auf der einen Seite das Verhalten krimineller Clanmitglieder auf der Straße, also das Ignorieren staatlicher Regeln und machtvolle Durchsetzen der eigenen Vorstellungen mit Gewalt. Dazu gehört auch, dass Rivalitäten mit brutaler Gewalt ausgetragen werden. Daneben gibt es die Bandenkriminalität beziehungsweise in Teilen die organisierte Kriminalität, an der kriminelle Clanmitglieder beteiligt sind. Wenn ich das alles zusammennehme, befinden wir uns in einer Situation, bei der ich nicht erkennen kann, dass sich diese in den letzten Jahren nachhaltig verbessert hat. Die Tatsache, dass wir vermehrt größere Konflikte auf der Straße haben, spricht dagegen. Mir ist außerdem nicht bekannt, dass die Zahl der kriminellen Clanmitglieder in NRW abgenommen hat oder deren Geschäfte zurückgegangen sind.

Daneben steht der Befund, dass in NRW die Kriminalpolizei nicht nur am Limit ist, sondern längst darüber hinaus. Die Dienststellen, die die organisierte Kriminalität bekämpfen, saufen regelrecht ab – in einem Ausmaß, wie es das wahrscheinlich noch nicht gegeben hat.

Da stehen also zwei Dinge nebeneinander: Auf der einen Seite die Versprechen und die Behauptungen der CDU im vorletzten und letzten Wahlkampf. Ich erinnere an den Wahlkampfspruch: "NRW ist sicherer geworden", mit dem die Arbeit von Herbert Reul gelobt wurde. Auf der anderen Seite stehen die bitteren Realitäten: Eine desaströse Situation der Ermittlungsbehörden und der selbst ernannte Kümmerer Herbert Reul, der äußerst empfindlich reagiert, wenn man ihn darauf anspricht, dass er sein Herzensthema "Clankriminalität" auch nach sechs Jahren nicht in den Griff gekriegt hat.

Laut Recherchen der ARD haben Oberhäupter syrischer Großfamilien und Angehörige libanesisch-türkischer Clans in Duisburg mithilfe eines Friedensrichters den Konflikt beiseite geräumt. Anschließend baten sie deutsche Behörden um Entschuldigung wegen der Kämpfe auf offener Straße. Wie bewerten Sie diese Geste?

Das bewerte ich genauso, wie ich den Handshake zwischen Bandidos und Hells Angels in einer Hannoveraner Anwaltskanzlei vor vielen Jahren bewertet habe: als Showveranstaltung. Um die damit zusammenhängende Frage einer bestehenden Paralleljustiz zu beantworten: Natürlich gibt es die. Selbstverständlich gibt es Friedensrichter, und natürlich werden im Zuge eines solchen Friedensschlusses eben klassische Deals gemacht, die entweder mit Geld zu tun haben oder mit anderen Ausgleichsmaßnahmen, um die Situation zu befrieden.

Und das will man natürlich auch deswegen, weil man die Repression scheut. Man will in Ruhe seinen Geschäften nachgehen und versuchen, seine eigene Vormachtstellung in seinem eigenen Bereich aufrechtzuerhalten, ohne dass der Staat da irgendwie reinpfuscht. Auch das ist derselbe Mechanismus wie bei kriminellen Rockergruppierungen.

Wie bekäme man die Situation aus ihrer Sicht in den Griff?

Da gibt’s gar nicht viel Neues – die meisten Strategien für NRW sind zu Beginn der letzten Legislaturperiode erarbeitet worden. Es hat eine große Ruhrkonferenz gegeben – ich war selber dabei. In einer der Arbeitsgruppen wurde der Vorschlag besprochen, für das ganze Ruhrgebiet eine eigene Aufbauorganisation zu schaffen, die sich die Probleme vorknöpft. Später hat man in Essen die sogenannte Sicherheitskonferenz eingerichtet. Das Problem ist nur: Man hat das Ganze nicht mit entsprechenden Ressourcen hinterlegt.

Der Bund Deutscher Kriminalbeamter in NRW forderte damals unter meiner Leitung mindestens 100 zusätzliche Ermittlerinnen und Ermittler für das Ruhrgebiet – nur für die Bekämpfung der Clankriminalität. Der Essener Polizeipräsident hielt das sogar noch für zu wenig. Herbert Reul hat noch nicht einmal den Versuch unternommen, das umzusetzen. Stattdessen gab es in der Personalverteilung für ganz NRW lediglich 20 zusätzliche Stellen zur Bekämpfung der Clankriminalität, und die mussten noch nicht einmal zwingend bei der Kripo eingesetzt werden. Das ist so, als wenn Sie schwerste Krankheiten mit Homöopathie bekämpfen wollen.

Ich habe Herbert Reul (CDU) schon kurz nach seinem ersten Amtsantritt als Innenminister gesagt, dass er mehr Personal in die Kripo stecken muss und dass er den Ausbildungsgang ändern muss, damit Leute schneller zur Kripo kommen. Dass man sich in NRW eben nicht nur für den Dienst auf dem Streifenwagen bewerben kann, wenn man auf das Bewerbungsportal der Polizei geht. Die Leute, die direkt zur Kripo wollen, müssen die Gelegenheit haben, schon nach drei Jahren zur Kripo zu kommen und vorher schon einen klaren Berufsweg aufgezeigt bekommen. Das hat Herbert Reul leider alles liegen lassen. Bei der Verstärkung der Kripo sind sechs Jahre verloren.

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Das hört sich dramatisch an. Würden Sie denn auch bezweifeln, dass Clankriminelle Deutschland in der Ermittlungsarbeit noch ernst nehmen?

Wenn die Ressourcen da sind und man die Kripo machen lässt, dann sehen wir immer wieder große Erfolge. Da gibt es wirklich viele gute Beispiele, wo mit internationaler Zusammenarbeit herausragende Ermittlungserfolge gelungen sind. Deswegen müsste man auf der einen Seite sagen: Es gibt viele Situationen, da haben die Ermittlungserfolge der organisierten Kriminalität und auch der Clankriminalität richtig wehgetan. Eine ganz andere Frage ist aber, ob wir so viele Ressourcen haben, um damit die gesamten Strukturen zu zerschlagen – also um sozusagen das Phänomen wirklich ernsthaft zu bekämpfen. Und da muss ich große Zweifel anmelden.

Es hat seinen Grund, dass sich bisher kein Innenminister, egal welcher Partei, getraut hat, konkrete Ziele zu formulieren. Sie finden lediglich Erfolgsmeldungen in den Medien wie etwa "so und so viel Geld wurde beschlagnahmt" oder Ähnliches. Das sagt nicht aus, wie viel schmutziges Geld an uns vorbeigegangen ist. Meldungen über einzelne Festnahmen sagen nichts darüber aus, wie viele Täter neu dazugekommen sind. Das ist das Hauptproblem. Es gibt also herausragende Ermittlungserfolge – aber bei der Frage, was wir alles unternehmen müssten, um das Problem dauerhaft in den Griff zu kriegen, ducken sich die meisten weg.

Was wären denn Ihrer Meinung nach konkrete Ziele?

Nehmen wir an, man hätte eine dreistellige Anzahl an Ermittlern gegen Clankriminalität fürs Ruhrgebiet, dann könnte man realistisch formulieren, dass man in drei, vier Jahren tatsächlich einzelne Strukturen nachhaltig schwächt, das wäre durchaus möglich. Parallel sollte man Forscher mit an Bord nehmen, die sich die Entwicklung der illegalen Märkte im Ruhrgebiet und deren Entwicklungen erstmalig genauer anschauen. Forscher können uns zudem viel mehr Details über kriminelle Netzwerke offenlegen. Da gibt es gute Beispiele, wie die Forschung von Dr. Zora Hauser von der Universität in Oxford zeigt. Sie hat sich die Mafiaorganisation ’Ndrangheta angeschaut und erforscht die Kokainmärkte, von Kolumbien bis hierher.

Man muss das zusammen denken: Gute Ermittlungsstrukturen mit guter Personalausstattung und begleitende Forschung. Man nennt das evidenzbasierte Kriminalpolitik. Das ist so etwas wie das Gegenmodell zur Politik von Herbert Reul, der seine Strategie der verschiedenen Säulen vor allem wie folgt umreißt: "Man muss sich kümmern" – das ist eine seiner häufigsten Redewendungen im Moment – oder "Es geht nur Schritt für Schritt – und nicht Simsalabim" – ein weiteres Zitat von ihm. In der Öffentlichkeit bekannt ist er vor allem für die "Strategie der 1.000 Nadelstiche". Man könnte auch sagen: viele Razzien mit begleitender Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Ministers am Einsatzort. Ich halte diese Strategie von Beginn an für kontraproduktiv und letztlich gescheitert.

Nun gibt es ja vermeintlich Frieden zwischen beiden Clan-Gruppierungen. Wie vermuten sie, geht es nun weiter? Was wäre ein mögliches Szenario?

Ich rechne damit, dass man jetzt eine Weile die Füße stillhält und versucht, dafür Sorge zu tragen, dass die Geschäfte weitergehen. Denn ich bleibe dabei; wir haben Erfahrung in den Zeiten der Rocker-Kriminalität mit so etwas gesammelt. Da gibt es wahnsinnig viele Parallelen, und es hat sich eben in den Jahren gezeigt, dass dieselben Bekämpfungsstrategien, wie etwa der administrative Ansatz, bei dem man mit allen behördlichen Mitteln – wie etwa Zoll, Steuer oder auch Baurecht – agiert hat, nicht zum nachhaltigen Erfolg geführt hat, wenn beim Staat die Ressourcen fehlen.

Auch hier waren Razzien und Kuttenverbote durchaus richtig. Ich stelle diese Maßnahmen an sich ja nicht infrage. Die Anzahl der Rocker allerdings blieb mindestens gleich. Dafür änderten sich die Strukturen der Gruppierungen. Und mein Grund zur Sorge. Wenn das Thema aus dem Rampenlicht rückt und wenn keiner so richtig auf die Ermittlungsarbeit guckt – wie viele oder wenige Ermittler da wirklich arbeiten –, dann bedeutet das: im Hintergrund laufen die Geschäfte weiter.

Ein Problem könnte auch bei der Clankriminalität entstehen, wenn sie lernen, dass sie auf der Straße die Füße stillhalten und sich nicht öffentlich die Köpfe einschlagen, weil das für ihre kriminellen Geschäfte erfolgreicher ist. Die Mafia ist da schon ein paar Generationen weiter. Sie würde gar nicht auf die bescheuerte Idee kommen, so was wie in Castrop-Rauxel oder Essen zu veranstalten. Die bleiben unter dem Radar. Die sogenannten Mafia-Morde von Duisburg waren aus ihrer Sicht – so perfide das klingen mag – ein Betriebsunfall. Die Mafia trägt längst weiße Kragen, weil sie weiß, dass organisierte Kriminalität sich auf diese Weise lohnt.

Vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Sebastian Fiedler (SPD), Bundestagsabgeordneter und ehemaliger Vorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (2018 - 2021)
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