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Verpasste Relegation: Frust und Trotz bei geschundenen HSV-Fans


"Noch mal halte ich das nicht aus"
So erlebten HSV-Fans den Abend in der "UnabsteigBar"


Aktualisiert am 06.06.2023Lesedauer: 4 Min.
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Kneipenwirt Mario Drifte: Er hat dem Fantreffpunkt den Namen "UnabsteigBar" gegeben.Vergrößern des Bildes
Kneipenwirt Mario Drifte: Er hat dem Fantreffpunkt den Namen "UnabsteigBar" gegeben. (Quelle: Gregory Dauber)

Der HSV muss weiter in der 2. Bundesliga spielen. Die Fans in der Kultkneipe UnabsteigBar hoffen nur kurz – und ein überraschender Gast ist mit dabei.

In der UnabsteigBar ist die Luft raus. Die ersten HSV-Fans gehen, ihr Klub liegt hinten. Auch aus dem Tunnel vom Volksparkstadion kommen immer mehr Fans zum S-Bahnhof, die sich die Schlussphase des Relegationsspiels gegen den VfB Stuttgart nicht mehr anschauen wollen. Es steht 1:2 für die Süddeutschen, das Hinspiel wurde schon verloren. Der HSV muss also in seine sechste Zweitliga-Saison in Folge.

Noch ein letztes Mal singen alle am S-Bahnhof Stellingen "Hier regiert der HSV." Die Enttäuschung ist riesengroß. "Noch mal halte ich das nicht aus", sagt Kuttenträger Martin, als er von der Fan-Kneipe in Richtung S-Bahn geht.

Seit zehn Jahren gibt es die Kneipe am S-Bahnhof Stellingen unter dem Namen UnabsteigBar. Ein kurzer Fußweg führt direkt zum Stadion. Letztes Jahr waren es in der Relegation gegen Hertha BSC auf dem kleinen Schotterparkplatz zwischen Baustelle, Gleisen und der Bar noch 750 Leute, erzählt Wirt Mario Drifte. In diesem Jahr glauben kaum noch Hamburger an das Wunder des Aufstiegs. Der HSV hatte das Hinspiel in Stuttgart 0:3 verloren.

Kneipenwirt Mario Drifte trägt die Stadionuhr auf dem Shirt

Drifte kennt hier jeden und jeder kennt Mario. Wie lange er schon zum HSV geht? Drifte rollt die Augen und blickt auf seine Hand auf Hüfthöhe. "So lange." Schon als Kind also.

Auf seinem roten Shirt stehen die schicksalhaften Zahlen des Hamburger SV: 54 Jahre, 261 Tage, 36 Minuten und 2 Sekunden – bei dieser Zeit blieb die legendäre Stadionuhr stehen, als der einstige Bundesliga-Dino vor fünf Jahren zum ersten Mal abstieg. Sie ist jetzt im Museum, die UnabsteigBar gibt es immer noch.

Trotz des Abstieges vor fünf Jahren hat die UnabsteigBar ihren Namen behalten. "Wir haben schon ein paar Witze gemacht, einmal haben wir sie UnfassBar getauft", erzählt Drifte vor dem Spiel. Wirklich geändert hat er den Namen aber nie. "Zu viel Bürokratie." Für das Spiel gegen den VfB Stuttgart am Montagabend ist die Hälfte des eigentlichen Namens abgeklebt: AufsteigBar steht dort jetzt. "Zweckoptimismus", sagt Drifte.

Fußballmanager Andreas Rettig mischt sich unter HSV-Fans

Den hatte kurz vor Anpfiff an der UnaufsteigBar nur noch ein harter Kern: Es hat sich deutlich geleert, 50 Fans sind übriggeblieben. Einer sagt, er sei sowieso nur zum Feiern gekommen. "Aber natürlich sind wir alle für den HSV hier. Der Verein ist das Herz, das Hirn und der Magen der Stadt", sagt der tätowierte Fan, der sich selbst "Genschman" nennt. Auf die sportliche Ausgangslage angesprochen, winkt er ab.

Unter den Gästen ist auch einer, der zuletzt beim Stadtrivalen FC St. Pauli gearbeitet hat und dort noch "zahlendes Mitglied" ist: Fußballfunktionär Andreas Rettig. Er mischt sich unter die Leute. "Ich war hier schon ein paar Mal und wurde sogar als Zecke gut aufgenommen", sagt Rettig, der sich selbst Fußball-Nostalgiker nennt. "Wenn zwei so Traditionsvereine wie der HSV und Stuttgart aufeinandertreffen, ist das ein Wellenbad der Gefühle."

Rettig war Manager beim FC St. Pauli, in Köln und Augsburg und Geschäftsführer der Deutschen Fußballliga (DFL). Er macht sich keine Illusionen mehr: "Wer sich wie Heidenheim durchsetzt, hat es auch ohne große Fanscharen verdient, in der ersten Liga zu sein", sagt er über den Klub, der dem HSV am letzten Spieltag den Direktaufstieg vermiest hat.

Der Fußballfunktionär selbst lehnt die Relegation ab. Sie sei Ausdruck einer Absicherungsmentalität der Erstligisten, "die ich immer kritisch gesehen habe". Die Schere innerhalb des deutschen Profifußballs sei zu groß, insbesondere wenn es um die Verteilung der TV-Gelder gehe. Zwischendurch wird er immer wieder von HSV-Fans um Fotos gebeten, dann geht er Richtung Stadion. HSV-Vorstand Jonas Boldt habe ihn eingeladen.

Ultras, Hemdträger und Fans in Kutten kommen zusammen

Es ist Sommer in Hamburg, die Stimmung ist ausgelassen bis angetrunken. Viele in der UnabsteigBar haben keine Karte bekommen, andere kommen direkt von der Arbeit, weil sie es nicht zum Anpfiff ins Stadion geschafft hätten.

Nur wenigen ist die Anspannung anzusehen. Trikotträger, Kutten, Ultras und Hemdträger mit Fanschal stehen zu basslastigem Schlager zusammen. Zwischen den Bierbänken HSV-Wechselgesänge, das gesamte Repertoire wird abgespult. Kuttenträger Martin sagt am Bierpils, er könne sich die Eintrittskarten nicht mehr leisten "Aber die Familie ist auch hier", sagt er.

"Die wollen uns in der Liga halten"

Während der ersten Spielminuten reden einige Fans vom letzten Spieltag: der langen Nachspielzeit in Heidenheim, der verfrühten Feier der Hamburger in Sandhausen. "Die wollen uns in der Liga halten. Mit dem HSV lässt sich auch in der 2. Bundesliga Geld verdienen", sagt "Genschman", der Lederjacke und Sonnenbrille trägt. Auch dass HSV-Trainer Tim Walther in seinem Spielsystem zu unflexibel sei, um auf das 0:3 aus dem Hinspiel zu reagieren, sagen viele. Dann bringt Sonny Kittel die Hamburger in Führung. Alle flippen aus.

Von Trauer, nicht im Stadion sein zu können, ist nichts zu spüren. Stuttgarter Spieler, die nach Fouls auf dem Boden liegen, werden in der UnabsteigBar genauso ausgepfiffen und verhöhnt wie im Stadion. Dann fällt das 1:1 für Stuttgart. Die bis gerade eben noch spürbare Hoffnung ist weg – bis der Videoschiedsrichter eingreift und den Ausgleichstreffer doch nicht gibt.

Stuttgart erstickt zarte HSV-Hoffnung in der zweiten Halbzeit

"Jeder HSVer war schonmal hier", sagt "Genschman" in der Halbzeitpause über die Kneipe. Zum Start in die zweite Hälfte singen nochmal alle die Hymne "Wir sind der HSV". So laut, so leidenschaftlich: Man könnte meinen, dass der HSV gerade uneinholbar vorne liegt. Und dann kommt sie wieder, die kalte Dusche. Stuttgart gleicht aus, dieses Mal zählt das Tor. Jetzt bräuchte der HSV drei Tore, um sich zu retten.

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Als es nach dem 2:1 für Stuttgart auf dem Platz zu einer Rudelbildung kommt, entlädt sich der Frust nochmal kurz: Die Fans fluchen und beleidigen die Stuttgarter. Mario Drifte ist dagegen ruhig. "Wir spielen die ganze Saison hintenrum, das rächt sich dann irgendwann."

Als mit dem Abpiff dann feststeht, dass der HSV weiter in der zweiten Liga schmoren muss, kommt er nochmal auf den Namen seiner Bar zu sprechen. Die UnabsteigBar soll bleiben. "Der Name stimmt doch noch, wir sind in der zweiten Liga noch nie abgestiegen."

Verwendete Quellen
  • Eigene Beobachtungen vor Ort
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