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Flucht aus der Ukraine nach Lüneburg: "Wir waren dort hilflos"


Zweite Flucht in sechs Monaten
"Wir waren dort hilflos und wussten nicht weiter"

Von Lena Reiner und Niklas Golitschek

Aktualisiert am 12.04.2022Lesedauer: 5 Min.
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Fatema Sadat: Die 31-Jährige musste bereits mehrfach aus Kriegsgebieten fliehen und ist nun in Deutschland angekommen.Vergrößern des Bildes
Fatema Sadat: Die 31-Jährige musste bereits mehrfach aus Kriegsgebieten fliehen und ist nun in Deutschland angekommen. (Quelle: Lena Reiner)

Kaum der Terrorherrschaft der Taliban in Afghanistan entkommen, sehen sich Fatema Sadat und ihr Ehemann in Kiew dem nächsten Krieg ausgesetzt und flüchten nach Lüneburg.

Eine Flagge der Ukraine weht hoch oben an einem der Altbauten am Platz "Am Sande" in Lüneburg. Es ist ein ruhiger Nachmittag, mitten im April. Fatema Sadat lässt ihren Cappuccino kalt werden, so konzentriert schildert sie, was ihr in den vergangenen Monaten widerfahren ist. Die 31-jährige Afghanin hat innerhalb von sieben Monaten zweimal vor einem Krieg flüchten müssen.

Im August 2021 wurde Sadat aus Kabul evakuiert, sechs Monate später ist es der Krieg in der Ukraine, der sie und ihren Ehemann aus ihrem Wohnort vertreibt. Dass das Paar überhaupt in Osteuropa gelandet ist, ist dem amerikanischen Aufnahmeverfahren geschuldet: Die USA haben ab Mitte August Afghanistan evakuiert und Menschen in Drittländer wie Katar, Albanien oder eben auch die Ukraine gebracht oder bringen lassen und die Visumsanträge erst dort bearbeitet.

Tausende Afghanen warten seit mehr als einem halben Jahr auf ihre Aufenthaltsgenehmigungen. In Kiew fanden sich nun Dutzende erneut in einem Krieg wieder und verließen wie Sadat die ukrainische Hauptstadt während der russischen Invasion. Inzwischen ist das Ehepaar bei einer Gastfamilie im niedersächsischen Lüneburg untergekommen.

Hilflos und ohne Visum in der Ukraine

Noch immer wirkt Sadat, als könne sie nur schwer begreifen, was ihr da widerfahren ist. Die Ukraine habe sie nur vom Hörensagen gekannt. Ihr Mann habe durch seine Tätigkeit für das afghanische Innenministerium Kontakte zu unterschiedlichen Auslandsvertretungen gehabt. So sei der Kontakt zum ukrainischen Militär zustande gekommen. Dieses hat noch bis September 2021 – als die US- und europäischen Truppen das Land verlassen hatten – Evakuierungsflüge organisiert. "Wir hatten nicht die Zeit und den Kopf, uns näher über das Land zu informieren", sagt sie.

"Als wir in der Ukraine ankamen, hat sich niemand um unseren Fall gekümmert", erzählt sie. In Kiew hätten sie von ihren Ersparnissen gelebt und darauf gewartet, endlich die Bestätigung für die versprochene Aufnahme in die USA zu erhalten, erzählt sie: "Wir waren dort hilflos und wussten nicht weiter."

Immerhin, sagt sie, habe sie ihren Mann bei sich gehabt: "Es gab auch alleinstehende Frauen – um die habe ich mir am meisten Sorgen gemacht." Zwei Wochen vor dem Kriegsausbruch in der Ukraine seien einige der Evakuierten von kanadischen und US-Behörden nach Katar gebracht worden. Doch bei dem Paar habe sich niemand gemeldet.

Unverhofft im ukrainischen Militärflugzeug

Von dem seit 2014 in Teilen des Landes schwelenden Krieges habe sie daher auch nichts gewusst: "Uns hat aber auch niemand Informationen gegeben." In der Maschine stellte sie dann verwundert fest: "Die Soldaten haben gar kein Englisch gesprochen."

Nach der Ankunft in der ukrainischen Hauptstadt habe sie sich zunächst auch sicher gefühlt, wie sie berichtet. Auch wenn der Verlust der Heimat und der Freunde schmerzte. Erst im Herbst, mit den zunehmenden Warnungen vor einer drohenden Eskalation, sei den beiden die bedrohliche Lage wirklich bewusst geworden. "Wir hatten das gleiche Gefühl wie in Kabul", schildert Sadat – und erneut hat sich über Nacht alles rapide geändert. Bis dahin hätten die Amerikaner auf Nachfrage stets um Geduld gebeten: Ihr Fall werde bearbeitet.

Von einem Krieg in den nächsten

Als Ende Februar Raketen in Kiew einschlugen, beschlossen die beiden, das Land zu verlassen. "Wir haben uns das Auto eines afghanischen Bekannten geliehen, der schon länger in Kiew gewohnt hat", sagt Sadat. Sie fuhren fast ohne Pause: über Lwiw und die polnische Grenze bis nach Deutschland. Von Freunden in Deutschland haben sie erfahren, dass sie sich in einer Erstaufnahmeeinrichtung melden müssten. So kam das Ehepaar zunächst nach Neumünster. "Da mussten wir dann auch einen Corona-Test machen. Mein Mann war positiv und musste in Quarantäne", erzählt Sadat.

Ihre Reisepässe lagen zu der Zeit immer noch bei den Behörden in der Ukraine, so Sadat. Die USA und Kanada bearbeiteten die Visaanträge in Kooperation mit den Ausländerämtern vor Ort. Bei sich tragen die beiden daher nun nur noch ihre Taskiras – afghanische Ausweisdokumente. Immerhin: Die polnischen Grenzer ließen sie problemlos passieren.

US-Behörde lässt Anfragen unbeantwortet

Auch jetzt, rund sieben Monate nach der Evakuierung aus Kabul, gab es noch keinerlei positive oder konkrete Auskunft der Behörden, erzählt die Afghanin. Dabei müssten Sadat und ihr Mann durch dessen Zusammenarbeit mit den US-Behörden Anspruch auf ein sogenanntes Special Immigration Visa haben. "Ich kann für mich sagen, dass ich jetzt auch nicht mehr in die USA gehen wollen würde, wenn sie uns auf einmal das Visum geben würden", kommentiert sie frustriert.

Ihr Mann hat Ende März seinem Unmut per E-Mail an die zuständigen Behörden Luft gemacht – ohne Reaktion. Auch eine Anfrage unserer Redaktion ließ die US-Behörde für globale öffentliche Angelegenheiten unbeantwortet.

Nach der Flucht neue Heimat gefunden

Sadat ist mit der Ankunft in Deutschland bereits zum dritten Mal Flüchtling. Bereits Ende der 1980er Jahre, als die sowjetische Invasion in Afghanistan ihrem Ende nahte und lokale Machthaber einen Bürgerkrieg anfachten, flüchteten die Eltern 31-Jährigen in den Iran. Dort wurde Sadat geboren, ging zur Schule, studierte Politikwissenschaften.

Erst vor etwas mehr als sieben Jahren zog sie nach Kabul und damit in das Land, in dem sie sich bereits bei ihrem ersten Besuch während ihres Studiums "einfach wohl und zu Hause" gefühlt habe, angekommen in ihrer Heimat. Sofort nach der Ankunft habe sie zu schätzen gelernt, was es bedeutet, nicht mehr mit einem Flüchtlingsstatus zu leben. "Ich war umgeben von meinen Landsleuten, von Menschen, die mich als Afghanin sehen", beschreibt sie das neue Gefühl und merkt an: "Das hat mir sehr viel bedeutet."

"Ich wollte meinen Beitrag leisten"

Gemeinsam mit ihrer Schwester baute sie eine Nichtregierungsorganisation (NGO) auf, die Frauen dabei unterstützt hat, ein Stück berufliche Unabhängigkeit zu erreichen. "Ich wollte meinen Beitrag leisten als junge, gebildete Frau", sagt sie.

Eben diese zurückgewonnene Heimat hat Sadat nun verloren. Doch im Vergleich zum Iran spürt sie mit ihrer Ankunft in Deutschland einen bedeutenden Unterschied, wie sie beschreibt: "Im Iran hatte ich nicht das Gefühl, dass ich von der Gesellschaft akzeptiert werde."

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Geflüchtete stößt in Lüneburg auf Verständnis

In Deutschland fühle sie sich willkommen, bereits nach kurzer Zeit habe sie Menschen getroffen, die sich um sie und ihre Familie kümmerten. "Es geht nicht darum, aus welchem Land wir kommen, sondern, dass wir Menschen sind", untermauert sie.

Beim Übersetzen muss die ebenfalls afghanische Übersetzerin, selbst im August 2021 aus Kabul evakuiert worden, eine kleine Pause machen: "Das nimmt mich schon sehr mit." Das eigentlich Selbstverständliche, als Mensch behandelt zu werden, war für Sadat eine ungewöhnliche Erfahrung. In Lüneburg verstünden die Menschen, dass sie und ihr Mann, der für das afghanische Innenministerium gearbeitet hat, Kriegsopfer seien.

Eigene Visumverfahren in Deutschland

t-online hat mit Lioba Hebauer, eine Sprecherin des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, über die Auswirkungen der Visumverfahren gesprochen. Die Verfahren werden in Deutschland in der Regel selbstständig von den jeweiligen Auslandsvertretungen ohne Einbindung der deutschen Behörden bearbeitet, so Hebauer. "Statistiken zu den aktuell in Deutschland aufhältigen Afghaninnen und Afghanen, die sich im US-Visumverfahren befinden, liegen mir nicht vor."

Für alle Ausländer, die sich vor dem 24.02.2022 in der Ukraine aufgehalten haben, gelte gemäß der Ukraine-Aufenthaltsübergangsverordnung, dass ihre Einreise und ihr Aufenthalt bis zum 31.08.2022 rechtmäßig seien und sie in dieser Zeit vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels befreit seien.

"Sollte sich ein Visum für die USA nicht realisieren, wird wie für alle anderen nicht-ukrainischen drittstaatsangehörigen Geflüchteten aus der Ukraine durch die Ausländerbehörden auf Antrag geprüft, ob ein Aufenthaltstitel für den vorübergehenden Schutz nach § 24 AufenthG infrage kommt", erläutert Hebauer.

§24 regelt den vorübergehenden Aufenthalt zum Schutz und wird ohne langwieriges Asylverfahren erteilt. Der Aufenthaltstitel wird derzeit basierend auf einer EU-weiten Regelung ukrainischen Geflüchteten zeitnah erteilt.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Fatema Sadat
  • E-Mail-Verkehr zwischen Sadats Ehemann und US-Behörden
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