Ex-Profi Wegmann über Buchmann Erster Deutscher Giro-Sieger? "Ich traue ihm das durchaus zu"
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Seit der Zeit von Jan Ullrich wird Radsport in Deutschland gleichgesetzt mit der Tour de France. Dabei ist der am Samstag startende Giro d'Italia meistens spannender.
Einmal im Jahr interessiert sich das Gros der deutschen Sportfans für Radsport – zum Start der Tour de France. Die Frankreichrundfahrt gilt hierzulande gemeinhin als einzig relevantes Kräftemessen der Pedaleure. Doch nun verzichtet Deutschlands Vorzeigefahrer Emanuel Buchmann auf die Tour und startet stattdessen beim heute in Turin beginnenden Giro d'Italia. Sein Ziel: Erster deutscher Sieger in der über hundertjährigen Giro-Geschichte werden. t-online hat Fabian Wegmann, der 2004 als erster Deutscher die Bergwertung der Italienrundfahrt gewann, gefragt, was dahintersteckt.
t-online: Warum fährt Buchmann nicht bei der Tour?
Fabian Wegmann: Dieses Jahr ist die Tour nicht auf Bergfahrer wie Buchmann ausgelegt. Es stehen vergleichsweise viele Zeitfahrkilometer auf dem Plan. Um das besser verständlich zu machen: Es ist nicht wie beispielsweise beim Tennis. Da ist Wimbledon immer Wimbledon, die Plätze und das Drumherum sind gleich. Bei der Tour ist das komplett anders. Da kommt die Streckenführung in einem Jahr dem einen und im anderen Jahr dem anderen Fahrertyp entgegen. Deshalb hat sich Buchmann für den Giro entschieden.
Wo ist der Unterschied zwischen Tour und Giro?
Das Niveau bei den Spitzenfahrern ist vergleichbar, aber bei der Tour sind öffentliche Aufmerksamkeit und Druck natürlich deutlich höher. 70 Prozent der öffentlichen Sichtbarkeit gehen auf die Tour zurück. Deshalb werden in Summe die besten Fahrer mitgenommen. Dabei war der Giro zuletzt oft spannender, die Abstände zwischen den Topfahrern nicht so groß. Wenn die ersten Sechs kurz vor Schluss innerhalb von zwei Minuten liegen, kann auf den letzten Etappen alles durcheinandergewürfelt werden. Das erwarte ich in diesem Jahr auch – vor allem aufgrund der letzten drei Tage mit zwei schwierigen Bergetappen und dem finalen Zeitfahren in Mailand. Dazu interessant: Etappe elf, bei der es etwa dreißig Kilometer über Schotter geht. Das wird spektakulär.
Wie stehen Buchmanns Chancen beim Giro?
Die Chancen, dass er auf dem Podium landet, stehen auf jeden Fall sehr gut. Buchmann hat sich sehr akribisch vorbereitet – und wenn er gesund bleibt, kann er da auch landen. Ich traue ihm auch durchaus den Sieg zu. Aber dann muss wirklich alles passen. Er ist voll auf den Giro fokussiert und in der Vorbereitung ist nichts dazwischengekommen.
Kann ein Kletterer wie Buchmann das Bergtrikot holen?
Die Chancen sind gering – weil er nicht darauf fahren wird. Buchmann konzentriert sich zu hundert Prozent auf die Gesamtwertung. Zudem ist er nicht der Fahrer, der drei Etappen bei einer Grand Tour gewinnt, sondern eher konstant in den Top 10 dabei ist. Wenn er sich zu hundert Prozent darauf konzentriert, könnte er das Bergtrikot natürlich holen. Aber ich hoffe, dass das nicht der Fall sein wird (lacht) – und zwar nicht, weil ich der einzige Deutsche bleiben will, der es gewonnen hat, sondern weil ich mir wünsche, dass er das Rosa Trikot (des Gesamtführenden, Anm. d. Red.) holt.
Fabian Wegmann
Der gebürtige Münsteraner war zwischen 2002 und 2016 Radprofi, fuhr unter anderem für das Team Gerolsteiner und wurde mehrmals deutscher Straßenmeister. 2004 gewann er die Bergwertung beim Giro d'Italia. Heute organisiert er die Deutschland Tour und arbeitet als TV-Experte.
Wer sind die Favoriten?
Egan Bernal muss man schon ganz vorne nennen. Dazu Simon Yates – und auch Buchmann. Dann noch Mikel Landa, Vincenzo Nibali, George Bennett, Dan Martin und Alexander Wlassow. Besonders gespannt bin ich allerdings auf das belgische Toptalent Remco Evenepoel. Der ist nach neunmonatiger Verletzungspause zurück und fährt seine erste Grand Tour – mit erst 21 Jahren. Normal würde ich sagen: Wenn einer aufgrund eines Beckenbruchs so lange raus ist, hat der null Chance, ganz vorne zu landen. Aber bei ihm ist alles drin. Er ist eine echte Wundertüte und der wohl spannendste Typ bei diesem Giro.
Welche anderen deutschen Fahrer muss man auf der Rechnung haben?
Nikias Arndt hat bereits Etappen bei Grand Tours gewonnen und ist neben Buchmann wohl der prominenteste deutsche Starter. Dazu kommen im Sprint Nico Denz und Max Kanter. Diesen Dreien ist durchaus ein Etappensieg zuzutrauen, wenn die Konstellation passt.
Was gibt es sonst Neues?
Eine Regel, die seit April die sogenannte Super-Tuck-Position verbietet. Dies soll der Sicherheit dienen. In der Position sitzt der Fahrer in der Abfahrt tief geduckt und zieht Ellbogen und Schultern ein. Beim Klassiker Lüttich-Bastogne-Lüttich wurde Ex-Giro-Gewinner Richard Carapaz deshalb disqualifiziert. Ich finde das relativ lächerlich. Seitdem ich zehn Jahre alt bin und einen Berg runterfahre, nehme ich diese Position ein – weil das einfach aerodynamischer ist. Zu Fall gekommen bin ich dabei nie und extrem instabil ist diese Position auch nicht. Es gab auch noch nie einen Riesensturz. Dennoch gilt die Regel.
Doch wie will man das fair kontrollieren? Es gibt beim Giro über 200 Fahrer, aber nur drei Kommissäre, die für derartige Verstöße verantwortlich sind. Und die sind auf der Strecke teilweise 40 Minuten auseinander. Dazu fokussieren sich die Kameras meistens auf die Spitze des Feldes. Was ist, wenn ein Fahrer hinten im Feld gegen die Regel verstößt, das aber weder eine Kamera einfängt noch ein Kommissär in der Nähe ist? Und was ist, wenn ein Fan dies mit seinem Handy filmen, das entsprechende Video aber erst zwei Tage später auftauchen würde? Das sind nur einige ungeklärte Fragen. Bei diesem Giro wird die neue Regel sicherlich für Diskussionen sorgen.
Mehr zum Giro d'Italia 2021 gibt es auch im "Cycling Magazine"-Podcast mit Fabian Wegmann.
- Gespräch mit Fabian Wegmann