"Wuhan Diary": Tagebuch aus einer abgeriegelten Stadt
Peking (dpa) - Auf dem HΓΆhepunkt der Verbreitung des Coronavirus in Wuhan haben zig-Millionen Fang Fangs Tagebuch aus der abgeschotteten Metropole im Internet gelesen. Chinas Zensur sperrte die BeitrΓ€ge der preisgekrΓΆnten Schriftstellerin zwar immer wieder, doch fanden ihre Zeilen trotzdem zu ihren Lesern.
Heute liefert ihr Buch "Wuhan Diary", das als Zusammenstellung auf Deutsch erschienen ist, ein einzigartiges Fenster in das Leiden, Sterben, aber auch die Mitmenschlichkeit in der Stadt, die zuerst und in China am schwersten von dem Ausbruch der Lungenkrankheit Covid-19 betroffen war.
Es ist eine ebenso persΓΆnliche wie explosive Dokumentation der Vertuschung, Verschleppung und NachlΓ€ssigkeit offizieller Stellen - aber auch der Hilfsbereitschaft der einfachen Menschen in der Katastrophe, die sich seither weltweit ausgebreitet hat. "Wir mΓΌssen die Verantwortlichen ausfindig machen und zur Rechenschaft ziehen", schreibt Fang Fan in der Einleitung, womit gleich klar wird, warum sie in chinesischen Staatsmedien heute so attackiert wird.
Ende Januar wurde die Elf-Millionen-Metropole, wo das Virus Anfang Dezember zuerst entdeckt wurde, fΓΌr 76 Tage von der AuΓenwelt abgeschottet - ein weltweit zumindest bis dahin einmaliger Schritt im Kampf gegen das Virus. Es habe ihre Vorstellungskraft ΓΌberstiegen, "wie man eine derart riesige Stadt abriegeln kΓΆnnte", schreibt Fang Fang. Genau in jenen Tagen beginnt ihr Tagebuch, das unversehens den GefΓΌhlen und der Verzweiflung vieler Chinesen eine Stimme gab.
"Mit der Anstrengung, mir selbst freien Atem zu verschaffen, helfe ich anderen beim Atmen", stellte Fang Fang anhand des breiten Echos auf ihre Aufzeichnungen fest. So hatte ihr ein Leser geschrieben, das Tagebuch sei "ein Ablassventil fΓΌr unsere Niedergeschlagenheit". Exzellent vom China-Experten Michael Kahn-Ackermann, dem GrΓΌnder des ersten Goethe-Instituts in China, ΓΌbersetzt, bietet es deutschen Lesern eine sehr persΓΆnliche Einsicht in das Leben der Chinesen.
Ihre Schilderungen sind authentisch, gepaart mit "ein paar Gedanken und Stimmungen", wie die Romanautorin bescheiden meint. Es sind eher tiefe Reflexionen: "In extremen Zeiten treten die guten und bΓΆsen Seiten des menschlichen Wesens unverhΓΌllt hervor", schreibt sie. "Du erlebst dabei Dinge, die du dir nie hast vorstellen kΓΆnnen. Du bist konsterniert, du klagst, du bist zornig, am Ende gewΓΆhnst du dich daran."
Die "waschechte" Wuhanerin, zuletzt Vorsitzende des Schriftstellerverbandes der Provinz Hubei und 2010 mit dem renommierten Lu Xun-Literaturpreis ausgezeichnet, verfΓΌgt ΓΌber ein weit verzweigtes persΓΆnliches Netzwerk in der Stadt, in der sie seit sechs Jahrzehnten lebt. Ihre Quellen enthΓΌllen die LΓΌge hinter den offiziellen Beteuerungen Anfang und noch Mitte Januar, es gebe "keine Γbertragung von Mensch zu Mensch" und das Virus sei "kontrollierbar und eindΓ€mmbar". "Wie viele Menschen haben diese Worte auf einen Weg ohne Wiederkehr geschickt", stellt Fang Fang bitter fest.
"Als sich damals mehr und mehr Γrzte und Schwestern infizierten, war es jedermann klar, dass eine Γbertragung von Mensch zu Mensch stattfindet, aber niemand hat den Mund aufgemacht, weil es untersagt war", berichtet ihr ein befreundeter Arzt und fΓΌgt noch hinzu: "Jedermann weiΓ Bescheid, aber keiner spricht es aus? Liegt nicht genau darin das Problem?"
Von den mehr als 3300 in China offiziell aufgefΓΌhrten Toten waren mehr als 2500 in Wuhan zu beklagen. Die Dunkelziffer ist hoch. Warum das Virus in der Stadt so schwer zuschlagen konnte?: "1. die Zeitverschleppung zu Beginn, 2. ungeeignete QuarantΓ€nemaΓnahmen, die sogar zu dramatischen Zunahme von Infektionen gefΓΌhrt haben, 3. die unzureichenden und rasch erschΓΆpften Ressourcen der KrankenhΓ€user und die Erkrankungen des Krankenhauspersonals, die zu VerzΓΆgerungen bei der medizinischen Betreuung gefΓΌhrt haben", fasst Fang Fang zusammen.
All das Γ€nderte sich in dem Moment, als die Zentralregierung Ende Januar einschritt und die KrΓ€fte des Landes mobilisierte. "Nach dem Wechsel im Kommando hat die Regierung mit eiserner Hand die Epidemie bekΓ€mpft, die Resultate sind durchaus beachtlich." Obwohl Fang Fang hier durchaus Lob spendet, lΓ€uft eine Kampagne in den Staatsmedien, um ihre GlaubwΓΌrdigkeit zu zerstΓΆren. Nicht nur weil sie SchwΓ€chen des chinesischen Systems offenlegt, sondern weil die Frage nach der Verantwortung fΓΌr die Pandemie mit heute weltweit mehr als 400.000 Toten und sieben Millionen Infizierten hoch politisch geworden ist.
Allen voran diskreditiert die englischsprachige "Global Times" die Autorin. Das Blatt wird vom Parteiorgan "Volkszeitung" herausgegeben und zielt auf auslΓ€ndische Leser. "Ihr weltweiter Aufstieg, angefacht durch auslΓ€ndische Medien, lΓ€sst fΓΌr viele in China Alarmglocken klingen, dass die Schriftstellerin nur ein weiteres nΓΌtzliches Werkzeug des Westens ist", heiΓt es darin. So sehen Nationalisten eine "VerrΓ€terin" chinesischer Interessen, wΓ€hrend sie ihren treuen Lesern als "Gewissen von Wuhan" gilt. Dabei hΓ€tte Fang Fang selbst nie damit gerechnet, dass sie derart einen Nerv treffen und ihre Aufzeichnungen als Buch in verschiedene Sprachen ΓΌbersetzt wΓΌrden.
- Fang Fang: Wuhan Diary. Tagebuch aus einer gesperrten Stadt, Aus dem Chinesischen von Michael Kahn-Ackermann, Hoffmann und Campe, 380 Seiten, 25,00 Eurro, ISBN 978-3-455-01039-8.