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Über Menschen: Von Unterleuten nach Bracken - Der neue Roman von Juli Zeh


Über Menschen
Von Unterleuten nach Bracken - Der neue Roman von Juli Zeh

Von dpa
22.03.2021Lesedauer: 3 Min.
In ihrem neuen Roman hat Juli Zeh die Corona-Pandemie verarbeitet.Vergrößern des BildesIn ihrem neuen Roman hat Juli Zeh die Corona-Pandemie verarbeitet. (Quelle: Soeren Stache/dpa-Zentralbild/dpa./dpa)
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Berlin (dpa) - Wenn Juli Zehs neuer Roman verfilmt wird, könnte sich diese Szene für den Anfang anbieten: Auf einer Mauer liegt eine orangefarbene Katze, "mit eingeklappten Pfötchen, ins Jetzt geschmiegt", wie Zeh an einer Stelle des Buchs schreibt.

Die Kamera fährt nach oben. Man sieht ein verwittertes Gutsverwalterhäuschen und einen Garten, den jemand von Brombeeren und Gestrüpp befreit hat. Bracken, ein fiktives Straßendorf in Brandenburg: Das ist der Schauplatz von "Über Menschen".

Nicht nur der Titel erinnert an Zehs großen Erfolg von 2016, "Unterleuten", den Roman über das Brandenburger Dorfleben, Ossis und Wessis. Die Landflucht der Städter zwischen Idyll und Tücke ist auch diesmal das große Thema. Die Schriftstellerin, ehrenamtliche Richterin und Pferde-Närrin, weiß, wovon sie schreibt: Die gebürtige Bonnerin lebt seit vielen Jahren mit ihrer Familie in einem Dorf im Havelland.

Diesmal ist Juli Zeh besonders nah am Zeitgeist: Sie hat es geschafft, innerhalb weniger Monate die Corona-Pandemie unterhaltsam und fernsehkompatibel zu verarbeiten. Sie hat kein Problem damit, Unterhaltungsschriftstellerin zu sein. Im Buchladen könnte die Empfehlung zu "Über Menschen" lauten: Das liest sich so weg. Für die Literaturwissenschaft wird es einmal Stoff werden: Wie haben Schriftsteller damals die Pandemie verarbeitet? Juli Zeh hat sich zum Thema Corona mehrfach so zu Wort gemeldet, dass man darüber streiten kann.

Zurück zu "Über Menschen": Die Figuren sind nah am Leben, die brummelige Seite der Brandenburger ist gut beobachtet. "Kannst rüberkommen, grillen", das ist eine Liebeserklärung. Anders als in "Unterleuten" konzentriert sich Zeh diesmal auf eine Protagonistin: Dora, 36, hat ihr Leben als Werbetexterin und ihren Freund in Berlin zurückgelassen. Sie hat sich ein Haus gekauft, das sie allein bezieht, mit einer hässlichen Hündin namens "Jochen-der-Rochen". Der Makler nennt die Immobilie "ein Schmuckstück mit zahllosen Möglichkeiten" - ein anderer Ausdruck für "desolater Zustand".

Dora lebt vor dem Umzug nach Bracken in der grünen Blase von Berlin-Kreuzberg. Es ist der Beginn der Pandemie, als die neuen Begriffe auftauchen: Lockdown, Shutdown, flattening the curve. Doras Freund Robert mutiert vom Klima-Aktivisten zum Corona-Mahner, sie nennt ihn in Gedanken schließlich "Robert Koch". Den Klima-Aktivismus von Robert macht Dora noch halbwegs mit, sie hat ihrem Freund zuliebe den Job gewechselt und macht Werbung für nachhaltige Produkte.

In der Pandemie wird die Altbauwohnung zu eng. Dora kann es nicht fassen, dass Robert ihr im Lockdown die Spaziergänge mit dem Hund verbieten will: Der Gang zur Baumscheibe reiche doch, findet er. Sie entwickelt einen Widerwillen gegen Robert, der darin gipfelt, dass sie Glasflaschen im falschen Müll entsorgt, was ihn verzweifeln lässt. Corona gibt der Beziehung den Rest: "Als Robert sagte, dass das Virus in gewisser Weise auch ein Segen sei, weil es den Planeten von der Mobilität befreie, wusste sie, dass sie gehen würde."

Nach dem Umzug aufs Land hegt Dora, eine ahnungslose Gärtnerin, den Traum, den viele Berliner träumen: "Wenn sie einen Landhausgarten besitzt, werden Freunde aus Berlin am Wochenende zu Besuch kommen, auf alten Stühlen im hohen Gras sitzen und seufzen: 'Mann, hast du es schön hier.' Falls ihr bis dahin einfällt, wer ihre Freunde sind. Und falls man sich jemals wieder gegenseitig besuchen darf."

Das Leben in Bracken stellt sich als ernüchternd heraus. Dora hört Sätze wie "Die da oben behandeln uns doch wie Idioten" oder "Ich schufte mich krumm, und die Ausländer kriegen alles hinten reingeschoben". Die Bewohner machen rassistische Witze. An einem Briefkasten klebt das AfD-Logo. Männer sitzen in geselliger Runde und singen das Horst-Wessel-Lied.

"Hallo, ich bin hier der Dorf-Nazi": So stellt sich Doras Nachbar Gote vor. Die Beschreibung stimmt. Es kommt noch viel schlimmer - aber auch noch besser. Zwischen Gote und Dora entwickelt sich etwas, was bei einer Dating-App kaum passiert wäre: Zwei Menschen, die eigentlich überhaupt nicht zusammenpassen, erleben ein kurzes Glück. Ob das im echten Leben so passieren würde? Eher nicht. Aber das Brandenburger Dorfleben ist vielschichtiger, als es das Dorf-Nazi-Klischee vermuten lässt.

Das Buch startet stark und lässt dann etwas nach. Manches wirkt bei der Figurenzeichnung dick aufgetragen, sowohl beim Corona-Apostel Robert, bei Doras Wessi-Familie (wie dem Jaguar fahrenden Chefarztvater) als auch beim Brandenburger Gote (der sein Fleisch ohne Salat isst). Das Ende gelingt, es ist tragisch und zuversichtlich zugleich. Wie es mit Dora weitergeht, wäre Stoff für einen weiteren Roman.

Juli Zeh: Über Menschen. Luchterhand Literaturverlag, München, 416 Seiten, 22 Euro, ISBN 978-3-630-87667-2

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